BGH, Beschl. v. 10.12.2014 – IV ZR 31/14
Auslegung gemeinschaftlicher Testamente
Gründe:
I.
Die Parteien des Rechtsstreits sind die fünf Kinder der verstorbenen Eheleute J. (im Folgenden: Vater) und G. (im Folgenden: Mutter) R. Der Kläger begehrt – soweit für das Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde noch von Belang – Feststellung der Nacherbschaft der Parteien zu gleichen Teilen nach dem Tode des Vaters und der „Anrechnung” aufgelisteter Vorempfänge seiner Geschwister „auf ihr Erbe nach den verstorbenen Eltern”. Die Beklagte zu 1 will mit ihrer gegen den Kläger, den Beklagten zu 2 (= Drittwiderbeklagter zu 1) und den Drittwiderbeklagten zu 2 erhobenen Widerklage feststellen lassen, dass die Mutter alleinige Vollerbin des Vaters war.
Unter dem 26.04.1964 errichteten beide Eltern auf einem Bogen Papier jeweils eigenhändig ein Testament, in dem sie sich wechselseitig als „befreite” Vorerben einsetzten. Am 15.12.1964 erklärten der Vater und der Beklagte zu [2] zu notarieller Urkunde einen Erbvertrag, der auszugsweise wie folgt lautet:
„1) Ich, der Kaufmann J. R., bestimme meine Ehefrau […] und meine Kinder zu Erben und zwar mit folgenden Massgaben:
Nacherbe und Ersatzerbe dieses Anteils soll in erster Linie [der Beklagte zu 2], nach diesem dessen Abkömmlinge, sein. Der Nacherbfall soll eintreten, wenn meine Ehefrau verstirbt, sich wiederverheiratet oder das Gesellschaftsverhältnis kündigt.
Bezüglich der Ausgleichung mit anderen Erben gilt für [den Beklagten zu 2] […] bei der Nacherbfolge […] das gleiche wie für meine Ehefrau.
Unter dem 06.04.1966 errichteten die Eltern wiederum auf einem Blatt gleichlautende letztwillige Verfügungen, in denen sie sich gegenseitig zu „unbeschränkten” Vorerben bestimmten. Nach dem Tod des Vaters 1971 erteilte das Nachlassgericht einen Erbschein, der die Mutter als alleinige Vorerbin sowie die fünf Kinder als Nacherben auswies und den Passus enthielt, dass die Vorerbin „zur freien Verfügung über die Erbschaft berechtigt” sei. In der Folge machte die Beklagte zu 3 Pflichtteilsansprüche geltend, die nach Verhandlungen mit anwaltlicher Beteiligung von der Mutter – ausweislich einer schriftlichen Bestätigung der Beklagten zu 3 v. 09.02.1973 – schließlich durch Zahlung von 140.000,00 DM „abgegolten” wurden. Die Mutter verstarb im Jahr 2007.
Das LG hat die Klage und die Widerklage gegen den Beklagten zu 2 abgewiesen. Im Übrigen hat es der Widerklage stattgegeben. Auf die Berufung des Klägers und des Drittwiderbeklagten zu 2 hat das Berufungsgericht die Erbfolge i.S.d. Klägers festgestellt und die Widerklage insgesamt abgewiesen. Wegen des Antrags auf Feststellung, Vorempfänge „anrechnen lassen [zu] müssen”, hat es das erstinstanzliche Urteil aufgehoben und den Rechtsstreit an das LG zurückverwiesen.
Die Beschwerden der Beklagten zu 1 und 3 gegen die Nichtzulassung der Revision führen gem. § 544 Abs. 7 ZPO zur Aufhebung des angefochtenen Urteils, soweit hierin zum Nachteil der Beschwerdeführerinnen entschieden worden ist, und insoweit zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht, wobei der Senat von der Möglichkeit des § 563 Abs. 1 Satz 2 ZPO Gebrauch gemacht hat.
1.
Das Berufungsgericht hat ausgeführt, dass die testamentarischen Verfügungen der Eltern v. 06.04.1966 im Sinne einer wechselseitigen Einsetzung zu befreiten Vorerben auszulegen seien.
Der Wortlaut spreche hier eindeutig für eine Vorerbschaft. Anhaltspunkte für eine Fehlvorstellung der Erblasser bestünden nicht. Auch stritten die Umstände nicht gegen eine Vorerbschaft. Vielmehr spreche für die Anordnung einer solchen, dass sich die Mutter nie gegen die Richtigkeit des 1971 erteilten Erbscheins gewandt habe.
2.
Das Berufungsgericht hat, wie die Beschwerden zu Recht rügen, den Anspruch der Beklagten zu 1 und 3 auf Gewährung rechtlichen Gehörs aus Art. 103 Abs. 1 GG in entscheidungserheblicher Weise verletzt, indem es bei der Testamentsauslegung die Pflichtteilsauszahlung der Mutter nach dem Tod des Vaters nicht berücksichtigt hat.
Das Verhalten der Mutter nach dem Tod des Vaters ist für die Deutung von dessen letztwilliger Verfügung v. 06.04.1966 von Belang, die Teil eines – ausweislich des übereinstimmenden Wortlauts und der Niederlegung auf demselben Blatt Papier – gemeinschaftlichen Testaments der Eheleute war. Bei der Auslegung gemeinschaftlicher Testamente ist stets zu prüfen, ob ein nach dem Verhalten des einen Ehegatten mögliches Auslegungsergebnis auch dem Willen des anderen Teils entsprochen hat, da die beiderseitigen Verfügungen nicht selten Ergebnis und Ausdruck eines gemeinsam gefassten Entschlusses beider Teile sind (Senatsurt. v. 07.10.1992 – IV ZR 160/91, NJW 1993, 256 unter 2).
Geht es um die Interpretation einer testamentarischen Anordnung des Erstversterbenden, ist der Wille des Zweitversterbenden bei der Testamentserrichtung zu berücksichtigen, für dessen Ermittlung das Verhalten des Längstlebenden nach dem Tod seines Ehegatten von Bedeutung ist, soweit es einen entsprechenden Schluss zulässt (vgl. MünchKomm-BGB/Leipold, 6. Aufl., § 2084 Rn. 25). Dies ist im Falle der hier unter anwaltlicher Mitwirkung erfolgten Pflichtteilszahlung zu bejahen, weil sie weder mit rechtlicher Unkenntnis oder einer seit Testamentserrichtung eingetretenen Willensänderung der Mutter – wie die Beschwerdeerwiderung meint – noch damit erklärt zu werden vermag, dass die Beklagte zu 3 ihr Nacherbe ausgeschlagen hätte, nachdem das Berufungsgericht das Gegenteil festgestellt hat.
III.
Für das weitere Verfahren wird Folgendes zu beachten sein:
Das Berufungsgericht wird sich mit den Rügen der Beklagten zu 1 und 3 zu befassen haben, dass die Berufung des Drittwiderbeklagten zu 2 weder in der gesetzlichen Form des § 519 Abs. 1 ZPO eingelegt noch gem. § 520 Abs. 1, Abs. 3 Satz 2 Nr. 2-4 ZPO begründet worden ist.
Des Weiteren wird bei der Testamentsauslegung zu berücksichtigen sein, dass vor allem der wirkliche Wille des Erblassers zu erforschen und nicht an dem buchstäblichen Sinn des Ausdrucks zu haften ist (vgl. BGH, Senatsurt. v. 22.09.1982 – IVa ZR 26/81, NJW 1983, 277 unter c zur Verwendung der Bezeichnung Nacherbe). Gelingt dies trotz Auswertung aller möglicherweise dienlichen Umstände nicht, muss sich der Richter notfalls damit begnügen, den Sinn zu ermitteln, der dem mutmaßlichen Erblasserwillen am ehesten entspricht. Erst wenn die Parteien dem Richter hierzu keine außerhalb der Urkunde liegenden Umstände an die Hand geben, ist er gegebenenfalls darauf angewiesen, sich allein auf die Ausdeutung des Wortlauts zu beschränken (Senatsurt. v. 08.12.1982 – IVa ZR 94/81, BGHZ 86, 41 (45)).
Bei der Bestimmung der Erbfolge nach dem Vater wird sich das Berufungsgericht auch damit auseinanderzusetzen haben, ob die ebenfalls auslegungsbedürftigen Verfügungen des Vaters im Erbvertrag v. 15.12.1964 seinen testamentarischen Anordnungen v. 06.04.1966 entgegenstehen und – falls das der Fall sein sollte – diese in Anbetracht des gemeinschaftlichen Testaments v. 26.04.1964 selbst wirksam sind.
Sollte die danach festgestellte Erbfolge Raum für die durch den Kläger geltend gemachten „Anrechnungspflichten” lassen und sein Klageantrag in der Fassung der Berufungsbegründung dahin auszulegen sein, dass er die Feststellung der Ausgleichungspflicht bei der Auseinandersetzung des väterlichen Nachlasses begehrt, wird zu prüfen sein, welches rechtliche Interesse er i.S.d. § 256 Abs. 1 ZPO haben könnte, dass im Verhältnis zu den Beklagten bindend festgestellt wird, welche Zuwendungen der Drittwiderbeklagte zu 2, der von ihm nicht mitverklagt worden ist, von der Mutter erhalten hat. Weiter wird zu bedenken sein, dass die Veruntreuung von Geldern keine gesetzliche Ausgleichungspflicht unter Miterben begründet und der Kläger bislang keinen Vortrag gehalten hat, auf dessen Grundlage die übrigen von ihm behaupteten Zuwendungen ausgleichspflichtig wären.
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