Tenor
Auf die Rechtsbeschwerde der Antragstellerin werden der Beschluss des 6. Zivilsenats des Kammergerichts Berlin vom 16. Januar 2015 und das Verfahren aufgehoben und die Sache zur anderweitigen Behandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Beschwerdegericht zurückverwiesen.
Beschwerdewert: 45.000 €
Gründe
Die am 13. Januar 1928 nichtehelich geborene Antragstellerin begehrt die Erteilung eines sie als Alleinerbin ihres am 13. Juni 1993 verstorbenen Vaters ausweisenden Erbscheins.
Sie ist das einzige Kind des Erblassers, der sein Leben lang ledig war. Er wurde im Jahr 1928 von dem Amtsgericht Charlottenburg verurteilt, Unterhalt an die nicht in seinem Haushalt lebende Antragstellerin zu leisten. Die Antragstellerin hatte – nach ihrem für das Rechtsbeschwerdeverfahren zugrunde zu legenden Vortrag – vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges das letzte Mal im Alter von etwa vierzehneinhalb Jahren Kontakt zu dem Erblasser. Nach dem Zweiten Weltkrieg war die Antragstellerin in einem Ministerium der ehemaligen DDR tätig. Aus diesem Grund war ihr die Kontaktaufnahme zu dem auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland lebenden Erblasser untersagt. Nach dem Fall der Berliner Mauer versuchte die Antragstellerin, den Erblasser wiederzufinden. Dies gelang ihr im Jahr 1991. Mit Schreiben vom 14. März 1992 erklärte der Erblasser „eidesstattlich“, dass die Antragstellerin seine leibliche Tochter sei. Die Antragstellerin besuchte den Erblasser im Seniorenheim, war Ansprechpartnerin für seine Ärzte und wurde nach dem plötzlichen Tod des Erblassers um die Zustimmung zur Obduktion seines Leichnams gebeten. Sie kümmerte sich auch um das Begräbnis des Erblassers.
Nach dem Tod des Erblassers wurde die Antragstellerin als dessen einzige bekannte Angehörige vom Nachlassgericht benachrichtigt und um Mitteilung von Informationen zu dem Erbfall gebeten. Da sich keine weiteren als Erben in Betracht kommenden Personen bei dem Nachlassgericht meldeten, setzte dieses einen Nachlasspfleger ein, dessen Aufgabe unter anderem war, Erben zu ermitteln. Sein Versuch der Erbenermittlung blieb zunächst erfolglos. Im April 1996 stellte das Nachlassgericht fest, dass ein anderer Erbe als das Land Berlin nicht vorhanden sei.
Knapp vier Monate nach dem Erlass des Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (im Folgenden: EGMR) vom 28. Mai 2009 zur Konventionswidrigkeit der erbrechtlichen Ungleichbehandlung von ehelichen und nichtehelichen Kindern in der Rechtssache Brauer gegen Deutschland (ZEV 2009, 510) beantragte die Antragstellerin unter Bezugnahme auf diese Entscheidung im September 2009 die Erteilung eines sie als Alleinerbin ausweisenden Erbscheins. Der Antrag hatte keinen Erfolg.
Im Dezember 2009 bzw. August 2012 beantragten der Beteiligte zu 2, ein Neffe des Erblassers, bzw. die Beteiligten zu 3 bis 5, eine Großnichte, eine Nichte und ein weiterer Neffe des Erblassers, die Erteilung von Erbscheinen. Auf diese Anträge erteilte das Nachlassgericht am 14. Februar 2012 einen ersten gemeinschaftlichen Teilerbschein zugunsten des Beteiligten zu 2 und seiner ausschließlich von ihm beerbten verstorbenen Schwester und am 30. August 2012 einen zweiten und letzten gemeinschaftlichen Teilerbschein zugunsten der Beteiligten zu 3 bis 5. Der Beschluss über die Feststellung des Fiskuserbrechts aus dem Jahr 1996 wurde aufgehoben. Die Beteiligten zu 2 bis 5 waren durch einen Erbenermittler ausfindig gemacht worden.
Nachdem in einem von der Antragstellerin eingeleiteten gesonderten Verfahren mit Beschluss des Kammergerichts vom 3. Juni 2014 festgestellt worden war, dass der Erblasser ihr Vater ist, hat sie am 29. August 2014 erneut und unter Hinweis auf das Urteil des EGMR vom 7. Februar 2013 in der Rechtssache Fabris gegen Frankreich (ZEV 2014, 491) beantragt, ihr einen Alleinerbschein zu erteilen und die den übrigen Beteiligten erteilten Teilerbscheine einzuziehen. Diesen Antrag hat das Amtsgericht zurückgewiesen. Die dagegen gerichtete Beschwerde ist ohne Erfolg geblieben. Hiergegen richtet sich die vom Beschwerdegericht zugelassene Rechtsbeschwerde der Antragstellerin.
Die EMRK und ihre Zusatzprotokolle – soweit sie für die Bundesrepublik Deutschland in Kraft getreten sind – stehen innerhalb der deutschen Rechtsordnung zwar nur im Rang eines Bundesgesetzes (BVerfG FamRZ 2015, 1263 Rn. 47; BVerfGE 128, 326 unter C I 1 a; BVerfGE 111, 307 unter C I 1 a). Deutsche Gerichte trifft jedoch die Verpflichtung, die Gewährleistungen der Konvention zu berücksichtigen und in den betroffenen Teilbereich der nationalen Rechtsordnung einzupassen. Die Möglichkeit einer konventionsfreundlichen Auslegung endet jedoch dort, wo diese nach den anerkannten Methoden der Gesetzesauslegung und Verfassungsinterpretation nicht mehr vertretbar erscheint, etwa wenn die Beachtung der Entscheidung des Gerichtshofs gegen eindeutig entgegenstehendes Gesetzesrecht verstößt (vgl. BVerfG FamRZ 2015, 1263 Rn. 47 f.; BVerfGE 111, 307, 329).
(1) Allgemein setzt die teleologische Erweiterung einer Gesetzesbestimmung eine Regelungslücke voraus. Die Bestimmung muss gemessen an ihrem Zweck unvollständig, das heißt ergänzungsbedürftig sein. Ihre Ergänzung darf nicht einer vom Gesetzgeber beabsichtigten Beschränkung auf bestimmte Tatbestände widersprechen. Dass eine gesetzliche Regelung rechtspolitisch als verbesserungsbedürftig anzusehen ist, reicht nicht aus. Ihre Unvollständigkeit erschließt sich vielmehr aus dem gesetzesimmanenten Zweck und kann auch bei einem eindeutigen Wortlaut vorliegen (BFH ZIP 2016, 463 Rn. 37; vgl. auch BVerwG NJW 2013, 2457 Rn. 22; jeweils m.w.N.).
(2) Diese Voraussetzung ist im Hinblick auf Art. 5 Satz 2ZwErbGleichG bei Erbfällen erfüllt, die sich vor dem 29. Mai 2009 ereigneten und in tatsächlicher Hinsicht mit der Rechtssache Brauer gegen Deutschland vergleichbar sind.
Das ZwErbGleichG bezweckt, die vom EGMR in der genannten Rechtssache für konventionswidrig befundene Ungleichbehandlung ehelicher und nichtehelicher Kinder im Erbrecht zu beseitigen, und zwar soweit möglich (BT-Drucks. 17/3305 S. 1; 17/4776 S. 1). Dabei hat der Gesetzgeber die Beseitigung der erbrechtlichen Ungleichbehandlung von ehelichen und nichtehelichen Kindern auch für Erbfälle, die sich vor dem 29. Mai 2009 ereigneten, für wünschenswert gehalten (BT-Drucks. 17/4776 S. 7). Er hat sich jedoch aus Gründen des Vertrauensschutzes und aufgrund der mit einer Rückabwicklung weit in der Vergangenheit liegender Erbfälle verbundenen praktischen Schwierigkeiten dagegen entschieden, die Ungleichbehandlung auch insoweit zu beseitigen (BT-Drucks. 17/3305 S. 7 f.; 17/4776 S. 7). Dabei wollte der Gesetzgeber indes nicht in Kauf nehmen, dass die Bundesrepublik Deutschland in einem Fall, der dieselben Besonderheiten wie die Rechtssache Brauer gegen Deutschland aufweist, erneut durch den EGMR verurteilt wird. Das ergibt sich aus der Beschlussempfehlung und dem Bericht des Rechtsausschusses des Bundestages. Dort heißt es (BT-Drucks. 17/4776 S. 7):
„Weitere Verurteilungen Deutschlands durch den EGMR sind unwahrscheinlich, selbst wenn dem nichtehelichen Kind in einer Fallkonstellation, wie sie dem vom EGMR entschiedenen Fall zu Grunde lag – der Erbfall ereignete sich schon im Zeitraum 30. Juni bis 3. Juli 1998 – auch nach dem Gesetzentwurf kein Erbrecht zustünde. Denn der EGMR entscheidet stets Einzelfälle. Der entschiedene Fall weist aber durch den DDR-Bezug, die tatsächliche Nähebeziehung zwischen Kind und nichtehelichem Vater sowie das Fehlen anderer naher gesetzlicher Erben zahlreiche Besonderheiten auf und kann daher als atypisch bezeichnet werden. Vor allem betonte der EGMR, dass dem Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes der gesetzlichen Erben in dem konkreten Fall keine Bedeutung zukam, da es nur Erben dritter Ordnung gab, die der Erblasser nicht einmal kannte (Rdnr. 44). Dem Vertrauensschutz näherer Verwandter würde ein größeres Gewicht zukommen, so dass in einem derartigen Fall ganz andere Ausgangsbedingungen vorlägen, die der EGMR in seine Abwägung einzubeziehen hätte.“
Die Einschätzung, dass weitere Verurteilungen Deutschlands durch den EGMR deswegen unwahrscheinlich seien, weil die Rechtssache Brauer gegen Deutschland von zahlreichen Besonderheiten gekennzeichnet werde und dadurch ein „atypischer“ Fall sei, macht deutlich, dass der Gesetzgeber solche aus seiner Sicht „atypischen Fälle“ nicht dahingehend regeln wollte, dass es zu einer weiteren Verurteilung der Bundesrepublik Deutschland kommt. Die Billigung einer erneuten Verurteilung gerade in einem Fall, der der Rechtssache Brauer gegen Deutschland im Kern entspricht, widerspräche geradezu dem Regelungsziel, die vom EGMR in dieser Rechtssache festgestellte Konventionswidrigkeit der Ungleichbehandlung ehelicher und nichtehelicher Kinder im Erbrecht zu beseitigen.
Ebenso wie die Beschwerdeführerin Brauer lebte die Antragstellerin in der ehemaligen DDR, während ihr Vater in der Bundesrepublik Deutschland wohnte. Die Antragstellerin und ihren Vater verband darüber hinaus – nach dem für das Rechtsbeschwerdeverfahren zugrunde zu legenden Vorbringen der Antragstellerin – eine tatsächliche Nähebeziehung, die sich, wie in der Rechtssache Brauer gegen Deutschland, unter anderem in Besuchen äußerte. Schließlich liegt auch im Streitfall die – vom Gesetzgeber besonders hervorgehobene – Situation vor, dass andere nahe gesetzliche Erben fehlen und die übrigen als Erben in Betracht kommenden Personen in Ermangelung einer tatsächlichen Beziehung zum Erblasser kein Vertrauen auf den Erhalt der Erbschaft bilden konnten; die Beteiligten zu 2 bis 5 als Erben höherer Ordnungen traten im nachlassgerichtlichen Verfahren erst viele Jahre nach dem Tod des Erblassers zum ersten Mal in Erscheinung.
(1) Betrifft die Feststellung des EGMR, dass das Ergebnis einer Gesetzesanwendung die EMRK verletzt, eine Bestimmung des Privatrechts, haben deutsche Gerichte bei der Anwendung der betreffenden Entscheidung auf das Privatrechtsverhältnis zu berücksichtigen, dass sie ein mehrpoliges Grundrechtsverhältnis auszugestalten haben und es insoweit regelmäßig auf sensible Abwägungen zwischen verschiedenen subjektiven Rechtspositionen ankommt, was einer schematischen Anwendung der Entscheidung des EGMR entgegensteht (vgl. BVerfGE 128, 326 unter C I 1 f; BVerfGE 111, 307 unter C I 3 a).
(2) Das Grundrecht der Beteiligten zu 2 bis 5 aus Art. 14 Abs. 1 GG, welches das bis zur Änderung des Nichtehelichengesetzes durch das Zweite Erbrechtsgleichstellungsgesetz gemäß § 1925 Abs. 1 BGB bestehende Erbrecht der Beteiligten zu 2 bis 5 vom Eintritt des Erbfalles an schützt (vgl. BVerfG ZEV 2013, 326 Rn. 28), überwiegt das ebenfalls gemäß Art. 6 Abs. 5 GG verfassungsrechtlich verbürgte Recht der Antragstellerin auf grundsätzliche Gleichbehandlung mit ehelichen Kindern (BVerfG aaO Rn. 32) nicht. Der Gesetzgeber war von Verfassungs wegen nicht daran gehindert, Art. 12 § 10 Abs. 2 Satz 1 NEhelG a.F. für Erbfälle ab dem 29. Mai 2009 durch die in Art. 1 Nr. 2 ZwErbGleichG vorgesehene Regelung zu ersetzen, ein grundrechtlich geschütztes Erbrecht also zugunsten der Gleichbehandlung nichtehelicher und ehelicher Kinder mit – wenn auch zeitlich begrenzter – echter Rückwirkung zu entziehen (vgl. BVerfG aaO Rn. 33 ff.). Maßgebend ist insoweit der Gesichtspunkt, dass seit der Entscheidung des EGMR in der Rechtssache Brauer gegen Deutschland ein gefestigtes und schutzwürdiges Vertrauen der Väter nichtehelicher Kinder und deren erbberechtigter Familienangehöriger auf den Fortbestand der bisherigen Rechtslage nicht mehr entstehen konnte (vgl. BVerfG aaO Rn. 36; BT-Drucks. 17/3305 S. 7; 17/4776 S. 7).
Die Abwägung der grundrechtlich geschützten Rechtspositionen kann erst recht zu keinem anderen Ergebnis führen, wenn sich, wie hier in Bezug auf die Beteiligten zu 2 bis 5, auf Seiten der erbberechtigten Familienangehörigen des Vaters des nichtehelichen Kindes bereits faktisch kein – als schutzwürdig in Betracht kommendes – Vertrauen auf den Erhalt der Erbschaft gebildet hat, weil zwischen ihnen und dem Erblasser – nach dem für das Rechtsbeschwerdeverfahren zugrunde zu legenden Sachverhalt – keinerlei tatsächliche Beziehungen bestanden.
Wetzlarer Straße 8a
35644 Hohenahr
Telefon: +49 6446 921 332
Telefax: +49 6446 921 331
E-Mail: info@rechtsanwalt-krau.de
Wetzlarer Straße 8a
35644 Hohenahr
Telefon: +49 6446 921 332
Telefax: +49 6446 921 331
Wetzlarer Straße 8a
35644 Hohenahr
Telefon: +49 6446 921 332
Telefax: +49 6446 921 331