Bundesgerichtshof
Beschl. v. 29.10.2014, Az.: XII ZB 20/14
Recht eines Kindes auf Kenntnis der eigenen Abstammung
Amtlicher Leitsatz:
Das postmortale Persönlichkeitsrecht tritt im Falle einer für die Feststellung der Vaterschaft erforderlichen Untersuchung und damit einhergehenden Exhumierung des Verstorbenen regelmäßig hinter das Recht des Kindes auf Kenntnis der eigenen Abstammung zurück.
Der XII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 29. Oktober 2014 durch den Vorsitzenden Richter Dose und die Richter Dr. Klinkhammer, Schilling, Dr. Günter und Dr. Nedden-Boeger
beschlossen:
Die Rechtsbeschwerde gegen den Zwischenbeschluss des 20. Familiensenats des Oberlandesgerichts Dresden vom 17. Dezember 2013 wird auf Kosten des weiteren Beteiligten zurückgewiesen.
Verfahrenswert: 2.000 €
A.
Die im Jahr 1944 geborene Antragstellerin begehrt die Feststellung, dass der 2011 verstorbene S. ihr Vater sei.
Das Amtsgericht hat ihre Anträge, die Leiche von S. zu exhumieren, eine Gewebeprobe zu entnehmen und die Vaterschaft festzustellen, zurückgewiesen. Auf ihre Beschwerde hat das Oberlandesgericht im Rahmen eines Beweisbeschlusses zur Einholung eines DNA-Gutachtens die Exhumierung der Leiche zum Zwecke der Erstellung eines DNA-Abstammungsgutachtens angeordnet.
Der Beteiligte, der eheliche Sohn von S., hat die Einwilligung in die Exhumierung und Gewebeprobenentnahme verweigert. Mit einem Zwischenbeschluss hat das Oberlandesgericht diese Weigerung für unberechtigt erklärt. Hiergegen wendet sich der Beteiligte mit der zugelassenen Rechtsbeschwerde.
B.
Die Rechtsbeschwerde ist unbegründet.
I.
Das Beschwerdegericht hat seine Entscheidung wie folgt begründet:
Dem Beteiligten stehe als nächstem Angehörigen das Recht der Totenfürsorge zu. Seine Weigerung sei jedoch nicht rechtmäßig. Die Antragstellerin habe die Voraussetzungen für eine gerichtliche Vaterschaftsfeststellung gemäß § 1600 d BGB dargelegt. Sie habe behauptet, dass S. in der gesetzlichen Empfängniszeit Geschlechtsverkehr mit ihrer Mutter gehabt habe. Diese Behauptung habe sie nicht ins Blaue hinein aufgestellt. Sie habe glaubhaft berichtet, dass ihre Mutter ihr am 18. Geburtstag offenbart habe, dass der Ehemann der Mutter nicht ihr leiblicher Vater sei, sondern dass sie von S. abstamme. Ferner habe die Antragstellerin berichtet, dass ihre Mutter sie in den Nachkriegsjahren zu der Familie S. in Westdeutschland, das heißt zu der Mutter und der Schwester des potentiellen leiblichen Vaters habe reisen lassen. Sie habe anschaulich geschildert, wie sie bei diesen Besuchen von ihrer „S.-Oma“ sehr verwöhnt worden sei. Entscheidend für eine Wahrscheinlichkeit der Vaterschaft spreche ein erstes Treffen mit S. in einem Hotel, bei welchem dieser selbstverständlich davon ausgegangen sei, ihr Vater zu sein. Ihre Schilderung hiervon habe eine ganze Reihe atmosphärisch stimmiger Einzelheiten enthalten, bei denen es als fernliegend anzusehen sei, sie als in Gänze erfunden zu erachten. Dies belege, dass die Antragstellerin bei dem Treffen sicher von dieser Vaterschaft ausgegangen und von S. darin bestärkt worden sei. Das reiche aus, um hinreichende Anhaltspunkte für eine gutachterliche Vaterschaftsfeststellung anzunehmen.
Die DNA-Untersuchung sei notwendig, weil die sonstigen zur Verfügung stehenden Beweismittel zur Feststellung der Vaterschaft nicht ausreichten. Vorrangig vor der Exhumierung sei nur die Untersuchung von dem Verstorbenen zu Lebzeiten entnommenen und asservierten Gewebeproben. Solches Material stünde nach Angaben des Beteiligten aber nicht zur Verfügung. Der Beteiligte sei als Sohn auch nicht bereit, eigenes DNA-Material für eine Untersuchung bereit zu stellen. Daher sei die Exhumierung zur Feststellung der Vaterschaft erforderlich.
Im Rahmen der Zumutbarkeitsabwägung habe das Interesse des Einzelnen an der Kenntnis seiner Abstammung im Grundsatz Vorrang vor der Achtung der Totenruhe. Es mache die Untersuchung nicht unzumutbar, dass die Antragstellerin erst nach dessen Tod das Vaterschaftsfeststellungsverfahren eingeleitet habe. Eine Verwirkung wegen Zeitablaufs komme nicht in Betracht. Außerdem habe die Antragstellerin nachvollziehbare Gründe für das Zuwarten mit der Antragstellung vorgetragen. Eine Unzumutbarkeit lasse sich auch nicht daraus herleiten, dass die Antragstellerin wiederholt zum Ausdruck gebracht habe, keine Zweifel an der Vaterschaft zu haben. Für die grundsätzlich als übergeordnet zu bewertende Klärung der Abstammung komme es nicht auf subjektive Vorstellungen, sondern auf die objektive Feststellung der Vaterschaft an. Dass es der Antragstellerin vorwiegend um vermögensrechtliche Interessen gehe, nämlich die Durchsetzung ihrer Erbansprüche, mache die Exhumierung ebenfalls nicht unzumutbar. Die Teilhabe am väterlichen Erbe sei ein legitimes Interesse, das hinter der Totenruhe nicht grundsätzlich zurückzutreten habe. Der von dem Beteiligten eingewandten Störung der Totenruhe seiner Mutter, die gemeinsam mit seinem Vater in einer Grabstätte bestattet sei, komme im Verhältnis zum Feststellungsinteresse der Antragstellerin keine eigenständige Bedeutung zu, weil diese Störung nur geringfügig sei.
II.
Die Entscheidung des Beschwerdegerichts hält rechtlicher Überprüfungstand.
1.
Die von der Rechtsbeschwerde geltend gemachten Verfahrensrügen hinsichtlich der Anhörung der Antragstellerin erachtet der Senat nicht für durchgreifend.
a)
Die Rüge der Rechtsbeschwerde, die seitens des Beschwerdegerichts vorgenommene Anhörung der Antragstellerin und die nachfolgende Protokollierung genüge den Anforderungen einer förmlichen Beweisaufnahme nicht, verfängt nicht. Zwar verweist die Rechtsbeschwerde zutreffend auf § 177 Abs. 2 Satz 1 FamFG, wonach über die Abstammung in einem Vaterschaftsfeststellungsverfahren eine förmliche Beweisaufnahme stattzufinden hat. Zu beachten ist aber, dass die Anhörung der Antragstellerin nicht dem Beweis ihrer Abstammung, sondern allein der Beantwortung der Frage diente, ob die Voraussetzungen für eine gerichtliche Vaterschaftsfeststellung vorliegen, die wiederum erst den Eintritt in die Beweisaufnahme rechtfertigen können.
Gemäß § 171 Abs. 2 Satz 1 FamFG sollen in dem Antrag das Verfahrensziel und die betroffenen Personen bezeichnet werden. Während Satz 2 und Satz 3 für den Fall der Vaterschaftsanfechtung weitere Anforderungen an den Antrag stellen, ist dies für den Fall der Vaterschaftsfeststellung nicht der Fall. Das bedeutet indes nicht, dass im Vaterschaftsfeststellungsverfahren ohne Weiteres in die Beweisaufnahme einzutreten ist. Es müssen Anhaltspunkte dargetan sein, die eine Vaterschaft als möglich erscheinen lassen (vgl. OLG Hamm FamRZ 1993, 76, 77). Enthält der Antrag keine entsprechenden Angaben, ist er unzulässig (vgl. Borth/Grandel in Musielak/Borth FamFG 4. Aufl. § 178 Rn. 5). Das Gericht soll gemäß § 175 Abs. 1 Satz 1 FamFG allerdings vor einer Beweisaufnahme über die Abstammung die Angelegenheit in einem Termin erörtern. Auf diese Weise kann insbesondere geklärt werden, ob es auf die mit einem Grundrechtseingriff verbundene Beweiserhebung durch Sachverständigengutachten überhaupt ankommt (Wellenhofer NZFam 2014, 117, 118). Entsprechende Feststellungen unterliegen indes nicht dem § 177 Abs. 2 Satz 1 FamFG. Vielmehr entscheidet das Gericht nach pflichtgemäßem Ermessen, auf welche Art und Weise es die entscheidungserheblichen Tatsachen feststellt (Haußleiter/Fest FamFG § 177 Rn. 12).
b)
Ebenso wenig ist die Dokumentation der Anhörung zu beanstanden.
Gemäß § 28 Abs. 4 Satz 1 und 2 FamFG hat das Gericht über einen Termin einen Vermerk zu fertigen und hierin die wesentlichen Vorgänge des Termins und einer persönlichen Anhörung festzuhalten. Weitere Regelungen über den notwendigen Inhalt des Vermerks enthält das Gesetz nicht. Der Gesetzgeber hat bewusst hiervon abgesehen und die Dokumentation in das Ermessen des Gerichts gestellt, damit dieses flexibel nach den Anforderungen des Einzelfalls den Vermerk ausgestalten kann (BT-Drucks. 16/6308 S. 187). Eine umfassende Protokollierung der Anhörung ist nicht erforderlich, nur das wesentliche Ergebnis muss festgehalten werden (OLG Celle, FamRZ 2014, 413, 414 zur Kindesanhörung).
Diesen Anforderungen wird die vom Oberlandesgericht durchgeführte Dokumentation gerecht. Es hat im Vermerk über den Termin vom 7. Mai 2013 festgehalten, dass die Antragstellerin angehört wurde und zu welchen Themen sie sich erklärt hat. Die Aufnahme der im Einzelnen berichteten Tatsachen war schon deshalb nicht erforderlich, weil die Antragstellerin in Bezug auf die entscheidungsrelevanten Vorgänge nur ihren bereits schriftsätzlich ausführlich vorgebrachten Vortrag wiederholt und diesbezüglich keine neuen Tatsachen vorgebracht hat. Hinzu kommt, dass der Beteiligte im Termin ebenfalls anwesend war und zu deren Inhalt im Termin bzw. danach Stellung nehmen und sich ein eigenes Bild machen konnte.
2.
Es ist von Rechts wegen nicht zu beanstanden, dass das Beschwerdegericht aufgrund der von ihm in verfahrensfehlerfreier Weise getroffenen Feststellungen von einer hinreichenden Wahrscheinlichkeit für die Vaterschaft und damit von der Zulässigkeit des Antrages gemäß § 171 FamFG ausgegangen ist. Folgerichtig hat das Oberlandesgericht die Voraussetzungen für den Eintritt in die Beweisaufnahme bejaht.
Die Rechtsbeschwerde dringt nicht mit der Rüge durch, der Vortrag der Antragstellerin beschränke sich auf reine „Sekundärtatsachen“, es fehle aber Vortrag, wonach zwischen S. und der Mutter in der Empfängniszeit ein Geschlechtsverkehr stattgefunden habe. Es genügt, dass eine gewisse Wahrscheinlichkeit für die vorgetragene Beiwohnung in der Empfängniszeit spricht (vgl. OLG Hamm FamRZ 1993, 76, 77 [„geringe Anhaltspunkte“]). Ein Beweis über die Abstammung ist lediglich dann nicht einzuholen, wenn die Angabe, dass die betreffende Person der leibliche Vater sei bzw. mit der Mutter in der Empfängniszeit geschlechtlich verkehrt habe, eine ohne Anhaltspunkte ausgesprochene Vermutung ist bzw. diese ersichtlich ins Blaue hinein erfolgt (OLG Karlsruhe, Justiz 1972, 357), so dass die Beweiserhebung auf einen unzulässigen Ausforschungsbeweis hinausliefe (Saenger/Eichele ZPO 5. Aufl. § 372 a Rn. 5). Dies ist hier ersichtlich nicht der Fall.
3.
Schließlich ist nichts dagegen zu erinnern, dass das Beschwerdegericht die Weigerung des Beteiligten, die Beweisaufnahme als Totenfürsorgeberechtigter zu ermöglichen, am Maßstab des § 178 FamFG als unrechtmäßig erachtet hat.
Gemäß § 178 Abs. 1 FamFG hat jede Person, soweit es zur Feststellung der Abstammung erforderlich ist, Untersuchungen, insbesondere die Entnahme von Blutproben, zu dulden, es sei denn, dass ihr die Untersuchung nicht zugemutet werden kann.
Die Voraussetzungen für die Untersuchung eines Verstorbenen und seine damit einhergehende Exhumierung zur Feststellung seiner Vaterschaft sind gesetzlich allerdings nicht ausdrücklich geregelt. Insoweit ist § 178 Abs. 1 FamFG jedoch entsprechend anzuwenden. Der Gesetzgeber hat mit dieser Norm den Eingriff in das Grundrecht der körperlichen Integrität zum Zwecke der Feststellung der Abstammung unter bestimmten Voraussetzungen ausdrücklich zugelassen, was zeigt, welche große Bedeutung er der Klärung des Personenstandes beimisst. Da nach dieser Vorschrift jede (lebende) Person Untersuchungen, insbesondere die Entnahme von Blutproben zu dem genannten Zweck zu dulden hat, kann kein Zweifel daran bestehen, dass erst recht die Entnahme als solche von Gewebeproben aus den sterblichen Überresten einer Person zu diesem Zweck grundsätzlich hingenommen werden muss (OLG München FamRZ 2001, 126, 127; OLG Dresden FPR 2002, 570, 571 [OLG Dresden 07.05.2002 – 10 WF 215/02] – jeweils zu § 372 a ZPO; Keidel/Engelhardt FamFG 18. Aufl. § 178 Rn. 11; BeckOK FamFG/Nickel [Stand: 1. Mai 2014] § 178 Rn. 4; Staudinger/Rauscher BGB [2011] Vorbem. zu §§ 1591 ff. Rn. 78). Demgemäß hat der totenfürsorgeberechtigte Angehörige die Exhumierung und Probenentnahme zu dulden, wenn die Abstammungsuntersuchung erforderlich und zumutbar ist.
a)
Das Oberlandesgericht ist zu dem Ergebnis gelangt, dass die DNAUntersuchung und die damit einhergehende Exhumierung von S. für die Feststellung der Vaterschaft erforderlich sind. Dieser Schluss ist frei von Rechtsfehlern.
Die Erforderlichkeit fehlt im Vaterschaftsfeststellungsverfahren, wenn die Sache unabhängig von der Abstammungsuntersuchung entscheidungsreif ist oder wenn andere Beweismittel zur Verfügung stehen, die eine Beantwortung der Beweisfrage mit einer vergleichbaren Sicherheit versprechen und eine geringere Rechtsbeeinträchtigung bedeuten.
Nach den insoweit nicht angegriffenen Feststellungen des Beschwerdegerichts stehen weder Gewebeproben des Verstorbenen zur Verfügung, noch ist der Beteiligte als Sohn bereit, eigenes DNA-Material für eine Untersuchung bereit zu stellen. Auch die Rechtsbeschwerde räumt die Erforderlichkeit der Untersuchung des Verstorbenen ein.
b)
Ebenso wenig ist etwas dagegen zu erinnern, dass das Beschwerdegericht die Begutachtung und die damit einhergehende Exhumierung iSd § 178 Abs. 1 FamFG für zumutbar erachtet hat. Vor allem ist es nicht zu beanstanden, dass das Gericht vorliegend dem Recht der Antragstellerin auf Kenntnis der eigenen Abstammung gegenüber dem Recht auf Totenruhe des Verstorbenen den Vorrang eingeräumt hat.
aa)
Allerdings ist streitig, nach welchen Maßstäben die Zumutbarkeitsprüfung nach § 178 Abs. 1 FamFG in Fällen einer notwendigen Exhumierung zu erfolgen hat.
(1)
Die überwiegende Auffassung räumt grundsätzlich dem Recht des Kindes an der Kenntnis seiner Abstammung den Vorrang vor der Achtung der Totenruhe ein (OLG München FamRZ 2001, 126, 127; OLG Dresden FPR 2002, 570, 571 [OLG Dresden 07.05.2002 – 10 WF 215/02]; Keidel/Engelhardt FamFG 18. Aufl. § 178 Rn. 11; Kieninger in: Helms/Kieninger/Rittner Abstammungsrecht in der Praxis Rn. 256; BeckOK FamFG/Nickel [Stand: 1. Mai 2014] § 178 Rn. 4; Kirchmeier FPR 2002, 370, 375).
(2)
Nach anderer Ansicht ist stets eine umfassende Abwägung aller Interessen im Einzelfall erforderlich (Staudinger/Rauscher BGB [2011] Vorbem. zu §§ 1591 ff. Rn. 78; Lakkis FamRZ 2006, 454, 460).
(3)
Der Senat hält die erstgenannte Auffassung für zutreffend.
Das postmortale Persönlichkeitsrecht des Verstorbenen tritt regelmäßig hinter das Recht des Kindes auf Kenntnis der eigenen Abstammung zurück. Dieser Grundsatz folgt daraus, dass der Schutzbereich des durch Art. 1 Abs. 1 GG geschützten postmortalen Persönlichkeitsrechts in Fällen der vorliegenden Art im Regelfall nicht betroffen ist. Dem steht entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde die Europäische Menschenrechtskonvention – in der Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte – nicht entgegen.
(a)
Das Recht des Kindes auf Kenntnis seiner Abstammung folgt unmittelbar aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht, weil die Kenntnis und Zuordnung des Vaters von wesentlicher Bedeutung für die Entfaltung der Persönlichkeit ist (BVerfGE 90, 263 = FamRZ 1994, 881, 882; BVerfGE 79, 256 = FamRZ 1989, 255, 258). Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG sichert dem Einzelnen einen autonomen Bereich privater Lebensgestaltung, in dem er seine Individualität entwickeln und wahren kann. Zu den Elementen, die für die Entfaltung der Persönlichkeit von entscheidender Bedeutung sein können, gehört die Kenntnis der eigenen Abstammung. Der Bezug zu den Vorfahren kann im Bewusstsein des Einzelnen eine Schlüsselstellung für sein Selbstverständnis und seine Stellung in der Gemeinschaft einnehmen. Die Kenntnis der Herkunft kann wichtige Anknüpfungspunkte für das Verständnis des familiären Zusammenhangs und für die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit geben. Die Unmöglichkeit, die eigene Abstammung zu klären, kann den Einzelnen erheblich belasten und verunsichern (BVerfGE 90, 263 = FamRZ 1994, 881, 882; BVerfGE 79, 256 = FamRZ 1989, 255, 258).
(b)
Demgegenüber ist das postmortale Persönlichkeitsrecht des Verstorbenen in den Blick zu nehmen. Es folgt aus dem Gebot der Unverletzlichkeit der Menschenwürde gemäß Art. 1 Abs. 1 GG. Hingegen besteht kein Schutz des Verstorbenen durch das allgemeine Persönlichkeitsrecht gemäß Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG, weil Träger dieses Grundrechts nur die lebende Person ist. Der aus Art. 1 Abs. 1 GG resultierende Schutz des postmortalen Persönlichkeitsrechts ist demgemäß nicht identisch mit den Schutzwirkungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts (BVerfG NJW 2001, 2957, 2958 f. mwN). Geschützt ist bei Verstorbenen zum einen der allgemeine Achtungsanspruch, der dem Menschen kraft seines Personseins zusteht. Dieser Schutz bewahrt den Verstorbenen insbesondere davor, herabgewürdigt oder erniedrigt zu werden. Schutz genießt aber auch der sittliche, personale und soziale Geltungswert, den die Person durch ihre eigene Lebensleistung erworben hat. Steht fest, dass eine Maßnahme in den Schutzbereich des postmortalen Persönlichkeitsrechts eingreift, ist zugleich ihre Rechtswidrigkeit geklärt. Der Schutz kann nicht etwa im Zuge einer Güterabwägung relativiert werden. Beeinträchtigungen können dementsprechend nicht durch die grundrechtliche Gewährleistung kollidierender Freiheitsrechte gerechtfertigt werden. Da aber nicht nur einzelne, sondern sämtliche Grundrechte Konkretisierungen des Prinzips der Menschenwürde sind, hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt, dass es stets einer sorgfältigen Begründung bedarf, wenn angenommen werden soll, dass der Gebrauch eines Grundrechts auf die unantastbare Menschenwürde durchschlägt. Dafür genügt ein Berühren der Menschenwürde nicht. Vorausgesetzt ist eine sie treffende Verletzung. Bei Angriffen auf den durch die Lebensstellung erworbenen Geltungsanspruch genügt beispielsweise nicht dessen Infragestellung, wohl aber deren grobe Entstellung (BVerfG NJW 2001, 2957, 2959).
(c)
Der Rechtsposition des Totenfürsorgeberechtigten, der – wie hier der Beteiligte – die Rechte des Verstorbenen gleichsam als Treuhänder wahrnimmt, kommt im Rahmen der Zumutbarkeitsprüfung des § 178 Abs. 1 FamFG regelmäßig keine eigenständige Bedeutung zu. Zwar kann er etwa ein eigenes Recht auf ein ungestörtes Andenken des Verstorbenen haben, was regelmäßig bei dessen Verunglimpfung zum Tragen kommt. Im Rahmen einer Vaterschaftsfeststellung bzw. -anfechtung ist dieses Recht indes regelmäßig nicht berührt (Lakkis FamRZ 2006, 454, 457). Denn das Recht der Angehörigen auf Totenfürsorge findet eine Grenze in den zur verfassungsmäßigen Ordnung gehörenden Vorschriften, wozu auch § 178 FamFG gehört (vgl. BVerfG NJW 1994, 783, 784).
(d)
Unter Beachtung der besonderen Bedeutung des verfassungsrechtlich geschützten Rechts auf Kenntnis der eigenen Abstammung führt eine im legitimen Interesse des Kindes entsprechend § 178 FamFG durchgeführte Untersuchung des Verstorbenen und dessen damit einhergehende Exhumierung nicht zu einem Eingriff in den Schutzbereich des Art. 1 Abs. 1 GG und damit auch nicht zu einer hierdurch indizierten Verletzung der auch postmortal geschützten Menschenwürde. Deshalb gebührt dem Recht des Kindes grundsätzlich der Vorrang.
Sofern im Einzelfall durch die Untersuchung eine Verletzung des postmortalen Persönlichkeitsrechts des Verstorbenen droht und damit das Recht des Kindes auf Kenntnis der eigenen Abstammung zurückzutreten hat, kann dem im Rahmen der Zumutbarkeitsprüfung des § 178 Abs. 1 FamFG hinreichend Rechnung getragen werden.
(e)
Diesem Ergebnis steht die Europäische Menschenrechtskonvention – in der Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte nicht entgegen.
Die Gewährleistungen der Europäischen Menschenrechtskonvention und ihrer Zusatzprotokolle stehen in der deutschen Rechtsordnung im Rang eines Bundesgesetzes und sind damit in der Normenhierarchie kein unmittelbarer verfassungsrechtlicher Prüfungsmaßstab. Allerdings dienen der Konventionstext und die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte auf der Ebene des Verfassungsrechts als Auslegungshilfen für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite von Grundrechten (BVerfGE 111, 307 = FamRZ 2004, 1857, 1859).
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat entschieden, dass die widerstreitenden Interessen des Kindes und des Verstorbenen im Einzelfall sorgfältig gegeneinander abzuwägen seien (EGMR Urteil vom 13. Juli 2006 – Jäggi ./. Schweiz – Individualbeschwerde Nr. 58757/00 – Rn. 39 = FamRZ 2006, 1354). Dabei hat er jedoch betont, dass das – von Art. 8 Abs. 1 EMRK geschützte – Recht auf Kenntnis der eigenen Abstammung für ein Kind von besonderer Bedeutung ist (EGMR Urteil vom 13. Juli 2006 – Jäggi ./. Schweiz – Individualbeschwerde Nr. 58757/00 – Rn. 39 = FamRZ 2006, 1354; Urteil vom 7. Februar 2002 – Mikulic gg. Kroatien – Rs. 53176/99 – Rn. 64 „vital interest“). Hinzu kommt, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in einer anderen Entscheidung ausgeführt hat, dass eine Exhumierung des Verstorbenen zum Zwecke der Probenentnahme keinen Eingriff in das Recht auf Achtung des Privatlebens iSd Art. 8 Abs. 1 EMRK darstellt (EGMR Entscheidung vom 15. Mai 2006 – Nachlass des Kresten Filtenborg Mortensen ./. Dänemark Individualbeschwerde Nr. 1338/03 Umdruck S. 9).
Dieser Rechtsprechung steht der nach den oben stehenden Ausführungen anzuwendende Prüfungsmaßstab – jedenfalls im Ergebnis – nicht entgegen. Denn sowohl nach der Europäischen Menschenrechtskonvention als auch nach dem Grundgesetz kommt dem Recht des Kindes auf Kenntnis der eigenen Abstammung besondere Bedeutung zu. Andererseits wird auch bei dem von der Verfassung vorgegebenen Ansatz der Rechtssphäre des Verstorbenen hinreichend Rechnung getragen, indem bei erheblichen Beeinträchtigungen der Schutzbereich des Art. 1 Abs. 1 GG eröffnet ist.
bb)
Gemessen an den oben stehenden Anforderungen ist die Entscheidung des Oberlandesgerichts von Rechts wegen nicht zu beanstanden.
Das Oberlandesgericht ist frei von Rechtsfehlern zu dem Ergebnis gelangt, dass das Interesse der Antragstellerin auf Kenntnis ihrer Abstammung Vorrang vor der Achtung der Totenruhe des S. hat. Die vom Oberlandesgericht getroffenen Feststellungen lassen einen Eingriff in das postmortale Persönlichkeitsrecht des S. durch die Beweisanordnung nicht erkennen. Da sich der Schutz Verstorbener auf Art. 1 Abs. 1 GG beschränkt, kann sich der Beteiligte für den Verstorbenen entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde auch nicht auf eine Verletzung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung gemäß Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG berufen.
Zutreffend hat das Oberlandesgericht darauf verwiesen, das Interesse der Antragstellerin an der Feststellung der Vaterschaft werde nicht dadurch geschmälert, dass die Antragstellerin bereits seit langer Zeit über die mögliche Vaterschaft des S. informiert gewesen sei bzw. sie keine Zweifel mehr an seiner Vaterschaft habe. Der Gesetzgeber hat von einer Frist für die Vaterschaftsfeststellung abgesehen. Im Lichte der Bedeutung des verfassungsrechtlich geschützten Rechts auf Kenntnis der eigenen Abstammung scheidet zudem eine Verwirkung des Anspruchs aus (OLG München FamRZ 2001, 126, 128). Nicht zu beanstanden ist in diesem Zusammenhang schließlich der Verweis des Oberlandesgerichts darauf, dass die Antragstellerin nachvollziehbare Gründe für ihr spätes Tätigwerden genannt hat.
Es ist auch nichts gegen die Erwägungen des Oberlandesgerichts zu erinnern, wonach es die Exhumierung nicht unzumutbar macht, dass es der Antragstellerin vorwiegend um eine Erbschaft und damit um vermögensrechtliche Interessen geht. Mit dem Zweiten Erbrechtsgleichstellungsgesetz (Zweites Gesetz zur erbrechtlichen Gleichstellung nichtehelicher Kinder, zur Änderung der Zivilprozessordnung und der Abgabenordnung vom 12. April 2011 BGBl. I S. 615) wurde es der 1944 geborenen Antragstellerin erstmals ermöglicht, im Falle der Feststellung der Vaterschaft in die Erbenstellung einzurücken, da S. erst im Jahr 2011 verstorben war. Das Interesse der Antragstellerin an der Feststellung der Vaterschaft ist jedoch nicht deswegen geringer zu bewerten, weil sie damit vor allem die Geltendmachung eines Erbrechts verfolgt. Das Wissen um die eigene Herkunft ist von zentraler Bedeutung für das Verständnis und die Entfaltung der eigenen Individualität. Daran ändert nichts, dass im Einzelfall bei der Klärung der Abstammungsfrage vermögensrechtliche Interessen im Vordergrund stehen können (OLG München FamRZ 2001, 126, 127). Zudem hat das Beschwerdegericht zu Recht ausgeführt, dass auch die Teilhabe an dem väterlichen Erbe ein legitimes Interesse darstellt.
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