KG Berlin, Beschl. v. 28.11.2014 – 6 W 140/14
Zur Anfechtung der Versäumung der Ausschlagungsfrist, notariell beglaubigte Anfechtungserklärung
(AG Berlin-Mitte, Beschl. v. 14.08.2014 – 62 VI 539/96)
Gründe:
I.
Die Beteiligten zu 1) und 2) sind neben einem nachverstorbenen älteren Bruder die Kinder der Erblasserin. Die Beteiligten zu 3) bis 5) sind die Kinder der Beteiligten zu 1).
Am 19.11.1996 ging bei dem Nachlassgericht folgende notariell beglaubigte Erklärung der Beteiligten zu 1) v. 13.11.1996 ein: „Die Erbschaft habe ich nicht annehmen wollen. Über die Frist zur Ausschlagung war mir nichts bekannt. Ich fechte daher die Versäumnis der Ausschlagungsfrist hiermit an und schlage die Erbschaft nach meine Mutter aus allen möglichen Berufungsgründen aus. Der Nachlaß ist überschuldet.”
Am 29.08.2013 ging die notariell beglaubigte Anfechtungserklärung der Erbausschlagung der Beteiligten zu 1) v. 28.08.2013 ein, in der sie die Anfechtung damit begründete, dass sie bei der Ausschlagung davon ausgegangen sei, der Nachlass sei überschuldet, jetzt jedoch durch ein Schreiben von Genealogen erfahren habe, dass zum Nachlass ihrer Mutter noch ein Anteil am Nachlass einer Tante ihrer Mutter, der Frau M. L. geb. K, verstorben 1955, gehört. Von dem Genealogen habe sie telephonisch erfahren, dass auf sie und ihre Brüder wohl ca. 12.000,00 € entfallen würden. Sie gehe deshalb davon aus, dass der Nachlass ihrer Mutter in Wirklichkeit nicht überschuldet war.
Der Beteiligte zu 2) hat durch notariell beurkundete Erklärung v. 12.11.2013 die Erteilung eines Erbscheins beantragt, der aufgrund gesetzlicher Erbfolge ihn und den nachverstorbenen Bruder zu je 1/3 und im Hinblick auf die Ausschlagung der Beteiligten zu 1) deren Kinder zu je 1/9 als Miterben ausweist; für den Fall, dass die Ausschlagung nicht wirksam sein sollte, hat er hilfsweise die Erteilung eines Erbschein beantragt, der statt der Beteiligten zu 3) bis 5) die Beteiligte zu 1) als weitere Miterbin zu 1/3 ausweist. Den Wert des auf den Antrag entfallenden reinen Nachlasswertes hat er mit ca. 65.000,00 € angegeben; hierbei handele es sich um den Anteil der Erblasserin am Nachlass einer vorverstorbenen Tante.
Das Nachlassgericht hat durch den mit der Beschwerde der Beteiligten zu 1) angefochtenen Beschl. v. 14.08.2014 die zur Erteilung des Erbscheins erforderlichen Tatsachen für festgestellt erachtet
II.
Die gem. §§ 58 ff. FamFG statthafte, form- und fristgerecht erhobene und auch im Übrigen zulässige Beschwerde hat in der Sache keinen Erfolg. […]
Da die Erblasserin zum Zeitpunkt ihres Todes verwitwet war und eine testamentarische Verfügung nicht ermittelt worden ist, sind ihre Kinder zu gleichen Teilen ihre gesetzlichen Erben (§ 1924 Abs. 1 und 4 BGB). Die Beteiligte zu 1) ist durch Ausschlagung als Miterbin weggefallen mit der Folge, dass an ihre Stelle ihre Kinder getreten sind (§ 1953 Abs. 1 und 2 BGB i.V.m. § 1924 Abs. 3 BGB).
Die Frist beträgt gem. § 1944 Abs. 1 BGB sechs Wochen und beginnt gem. § 1944 Abs. 2 Satz 1 BGB mit dem Zeitpunkt, in welchem der Erbe von dem Anfall und der Grund der Berufung Kenntnis erlangt.
Die Beteiligte zu 1) hatte Kenntnis vom Tod ihrer Mutter und davon, dass sie als ihre Tochter neben ihren beiden Brüdern als gesetzliche Miterbin berufen wäre. Die Ausschlagungsfrist war damit bei Abgabe ihrer Erklärung v. 13.11.1996 abgelaufen, wovon sie in dieser Erklärung auch selbst ausgegangen ist. Eine etwaig anfänglich bestehende Vorstellung, nicht Erbin „gewesen” zu sein, „weil kein Vermögen vorhanden war” (Bl. 88 d. A.), steht dem Beginn der Frist nicht entgegen, weil es sich dabei um keinen beachtlichen Rechtsirrtum handelt, sondern nur um die auf Tatsachen beruhende Schlussfolgerung, mangels eines vorhandenen Aktivnachlasses nichts geerbt zu haben.
Voraussetzung des Anfechtungsrechtes ist mithin, dass ohne den Irrtum weder der Irrende noch auch ein unparteiischer Beobachter bei verständiger Würdigung der Gesamtheit der Umstände die Annahme erklärt oder die Abgabe einer wirksamen Ausschlagungserklärung versäumt hätte (RGZ a.a.O., S. 424).
(1) Für den hypothetischen Kausalverlauf sind nach Auffassung des Senats die dem Anfechtenden zum Zeitpunkt des Fristablaufs bekannten und darüber hinaus auch die für ihn damals mit zumutbarer Anstrengung erfahrbaren Umstände zugrunde zu legen, nicht jedoch die erst wesentlich später bekannt gewordenen Tatsachen, die zu der weiteren „Anfechtung der Anfechtung” geführt haben.
Denn die für die Kausalitätsprüfung hypothetisch zugrunde zu legende „Kenntnis der Sachlage” bezieht sich auf den speziellen Sachverhalt, hinsichtlich dessen der Anfechtende bei der Abgabe der Erklärung – die bei der Annahme durch Ablauf der Ausschlagungsfrist fingiert wird – im Irrtum war, nicht auf die Kenntnis aller später jemals bekannt gewordener Umstände.
Eine derart weite Einschränkung des Anfechtungsrechtes durch die Kausalitätsprüfung würde über den Gesetzeszweck der Kausalitätsprüfung auf objektiver Tatsachengrundlage weit hinausgehen. Denn der Gesetzgeber bezweckte mit dem Kausalitätserfordernis, einem Missbrauch des Anfechtungsrechtes vorzubeugen, indem es „subjektiven Launen” den Schutz versagt (vgl. MünchKomm-BGB/Armbrüster, 6. Aufl. 2012, § 119 Rn. 137; Staudinger-BGB/Singer, 2004, § 119 Rn. 98; Anm. Stein zu LG Bonn, Rpfleger 1985, 148 (149)).
Es handelt sich damit um eine Plausibilitätskontrolle auf der Grundlage der zum Zeitpunkt der Anfechtungserklärung bekannten Tatsachen. Der „Idee” des Verfahrensbevollmächtigten der Beteiligten zu 1) im Schriftsatz v. 28.03.2014, dass wegen des erst später durch die Recherchen der Genealogen bekannt gewordenen Anteils am Nachlass einer vorverstorbenen Tante der Erblasserin als Aktivbestandteil des Nachlasses bereits für den Zeitpunkt des Ablaufs der Ausschlagungsfrist objektiv von der fehlenden Überschuldung auszugehen gewesen sei und bereits hieran die Wirksamkeit der ersten Anfechtungserklärung scheitere, kann also nicht gefolgt werden.
(2) Es kommt demzufolge zunächst darauf an, ob die Beteiligte zu 1) aus ihrem Kenntnisstand heraus zum Zeitpunkt des Ablaufs der Ausschlagungsfrist aus damaliger Sicht objektiv berechtigten Anlass für die Ausschlagung wegen Überschuldung hatte. Vorliegend hat die Beteiligte zu 1) auf die Fragen des Nachlassgerichts v. 04.02.2014 und 05.03.2014 mit den Schriftsätzen ihres Verfahrensbevollmächtigten v. 14.02.2014 und 28.03.2014 vortragen lassen, schon vor dem Tode ihrer Mutter gewusst zu haben, dass kein Vermögen vorhanden war. Diese habe sich in einem verwahrlosten Zustand befunden und der Betreuer habe sich nicht ordnungsgemäß um sie gekümmert.
Sie habe sowohl vor als auch nach der Zeit der Abgabe der Erklärung v. 13.11.1996 Schreiben von Nachlassgläubigern erhalten; in der Zeit davor sei sie von der Wohnungsbaugesellschaft in Anspruch genommen worden.
Ihre damalige Arbeitgeberin habe ihr daraufhin geraten, zu einem Notar zu gehen und die Erbschaft auszuschlagen. Für offene Forderungen der vormaligen Vermieterin, des Gaslieferanten und der Rentenversicherungsanstalten sprechen auch die sich in der Nachlassakte befindlichen Anfragen nach dem Erben.
Da auch der Beteiligte zu 2) in seinem Erbscheinsantrag S. 4 als Nachlassvermögen lediglich den Anteil an dem Nachlass der Tante der Erblasserin angegeben hat, ist von der Richtigkeit der Angaben der Beteiligten zu 1) auszugehen, dass außer diesem erst später bekannt gewordenen Nachlassgegenstand kein verwertbarer Aktivnachlass vorhanden war. Jede bekannt gewordene Forderung gegen den Nachlass musste daher zwangsläufig dessen Überschuldung zur Folge haben.
Ein umsichtiger Erbe, der von dem fehlenden Aktivnachlass Kenntnis hatte, hätte schon deswegen vorsorglich vor Ablauf der Frist die Ausschlagung erklärt, auch wenn er noch nicht von einem Nachlassgläubiger als Erbe ermittelt und in Anspruch genommen worden ist, zumal hier aufgrund der unzureichenden Betreuung und Verwahrlosung mit Forderungen des Vermieters zu rechnen war.
(3) Unabhängig davon wäre für die Kausalität – bezogen auf den damaligen Zeitpunkt des Fristablaufs – nicht allein auf die subjektive Kenntnis des Anfechtenden abzustellen (so allerdings offenbar OLG Düsseldorf a.a.O. und Rn. 14), sondern auf „die Sicht einer vollinformierten Person” (so BayObLG, NJW-RR 2004 a.a.O. Rn. 30), weil diese breitere Erkenntnisgrundlage dem objektiv normativen Maßstab des § 119 Abs. 1 BGB eher entspricht. Eine „vollinformierte Person” hätte hier vor Ablauf der Ausschlagungsfrist Kenntnis von den oben genannten Nachlassverbindlichkeiten gehabt.
(1) Unmittelbar ist diese Vorschrift nicht anwendbar. Denn Gegenstand der Anfechtungserklärung ist nicht die Ausschlagungserklärung der Beteiligten zu 1) v. 13.11.1996. Diese hatte lediglich deklaratorische Wirkung, da die wirksame Anfechtung der Annahme und der Versäumung der Ausschlagungsfrist bereits gem. § 1957 Abs. 1 BGB die gegenläufige Wirkung der Ausschlagung hatte, ohne dass es noch einer solchen ausdrücklichen Erklärung bedurft hätte.
(2) Da mit der wirksamen Anfechtung der Anfechtungserklärung somit nicht nur die Nichtigkeit der ersten Anfechtungserklärung gem. § 142 Abs. 1 BGB eintreten, sondern zugleich auch die an ihre Wirksamkeit gem. § 1957 Abs. 1 BGB geknüpfte Funktion entfallen würde und eo ipso der Rechtszustand wieder hergestellt wäre, der vor der ersten Anfechtungserklärung bestanden hat, besteht aus rechtsdogmatischen Gründen auch kein Bedürfnis dafür, die Anfechtung der Anfechtungserklärung wie eine Anfechtung der auf ihr beruhenden Fiktion der Ausschlagung (oder Annahme) zu behandeln und § 1954 BGB analog anzuwenden (BayObLG a.a.O. Rn. 36 bis 40). Dieser Auffassung hat sich das Schrifttum weitgehend angeschlossen (vgl. Palandt/Weidlich a.a.O. § 1955 Rn. 1; Leipold a.a.O. § 1954 Rn. 21; Erman-BGB/Schmidt, 14. Aufl. 2014 § 1955 Rn. 5 m.w.N.; jurisPK-BGB/Hönniger, 7. Aufl. 2014, § 1954 Rn. 21; Lange/Kuchinke, Erbrecht, 5. Aufl. 2001, § 8 Ziff. VII lit. l zu gamma, S. 223 f.; Muscheler, Erbrecht, 2010, Bd. II, § 45 VII. 3. a), S. 1583; Münchener Anwaltshandbuch-Malitz, 2014, § 22 Rn. 62; Kraitz, BWNotZ 1992, 31 ff. (35)).
(3) Auch die erbrechtlichen Wirkungen der Anfechtung der Anfechtung rechtfertigt im Ergebnis nicht die analoge Anwendung des § 1954 BGB. Wie sich aus den vorstehend dargestellten Wirkung einer zweiten wirksamen Anfechtungserklärung ergibt, hat zwar auch diese wiederum Konsequenzen für die Nachlassbeteiligten, auch sie kann Maßnahmen das Nachlassgerichtes veranlassen. Im Hinblick darauf wird von Gegenstimmen in der Literatur vertreten, dass die Bestimmung des § 1954 BGB auch für die Anfechtung der Anfechtung anzuwenden sei und beide Institute gleich zu behandeln seien (vgl. Soergel-Stein a.a.O. Rn. 12; Damrau/Masloff, Praxiskommentar Erbrecht, 3. Aufl. 2014, § 1954 Rn. 13; LG Berlin, Beschl. v. 06.12.1990 – 83 T 323/90, NJW 1991, 1238, Orientierungssatz Nr. 2 und Rn. 18 zit. nach juris).
(4) Das OLG Hamm hat sich entgegen der Auffassung des Verfahrensbevollmächtigten der Beteiligten zu 1) in dem Beschl. v. 29.01.2008 zu dieser Frage nicht geäußert und sich lediglich für die entsprechende Anwendung der Formvorschriften der §§ 1955, 1945 ausgesprochen (Rn. 37 ff.), die dort schon nicht eingehalten war.
(5) Der Senat ist der Auffassung, dass eine entsprechende Anwendung der längeren Fristen des § 1954 BGB für die „Anfechtung der Anfechtung” nicht geboten erscheint. Dies gilt zunächst für die Anfechtungsfrist von sechs Wochen. Denn hat der Erbe bereits eine Anfechtungserklärung in der besonderen Form der §§ 1955, 1945 abgegeben, weiß er um die Bedeutung dieser Erklärung für den Rechtsverkehr.
Erfährt er später von Tatsachen, die seine in besonderer Form abgegebene Anfechtungserklärung wiederum als irrtumsbehaftet erscheinen lassen, ist es ihm zumutbar, nunmehr unverzüglich die Anfechtung der Anfechtung zu erklären, um möglichst schnell Rechtsklarheit zu schaffen. Darüber hinaus besteht aber auch kein Bedürfnis, durch eine entsprechende Anwendung der langen dreißigjährigen Ausschlussfrist gem. § 1954 Abs. 4 BGB einen erneuten irrtumsbedingten Wechsel der Erbfolge zu ermöglichen, vielmehr ist dem Rechtssicherheitsinteresse der Vorzug zu geben.
Die Ausschlussfrist soll dem Bedürfnis aller Nachlassbeteiligten und des Rechtsverkehrs nach endgültiger Rechtssicherheit dienen und vor den erheblichen Schwierigkeiten der Rückgängigmachung lang zurückliegender Entscheidungen des Erben bewahren. Angesichts der – seit der Schuldrechtsmodernisierung (01.01.2002) von den allgemeinen Vorschriften abweichenden – Dauer von 30 Jahren ist die Erreichung dieses Zwecks schon bei der ersten Anfechtung erheblich eingeschränkt.
Würde sie auf nachfolgende Anfechtungen analog angewendet, würde ihr Zweck letztlich in ihr Gegenteil verkehrt, weil mit je 30jährigen Fristen die Erbenstellung nach erfolgreicher Anfechtung wechseln könnte, was der Rechtssicherheit diametral zuwider läuft.
Ein demgegenüber überragendes Schutzbedürfnis des sich mehrfach irrenden Erben an dem Durchgreifen seiner erneuten Anfechtungserklärung nach dem Ablauf von über zehn Jahren seit Abgabe seiner ersten Anfechtungserklärung besteht nach Auffassung des Senats nicht.
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