LSG Baden-Württemberg Urteil vom 1.6.2006, L 1 U 4329/05
gesetzliche Unfallversicherung – Rückforderungsanspruch gegen den Erben gem § 96 Abs 4 S 1 SGB 7 – Nachlassverbindlichkeit iS von § 1967 BGB – kein Vertrauensschutz gem §§ 45ff SGB 10
1. Der Rückforderungsanspruch nach § 96 Abs. 4 Satz 1 SGB VII, gegen den Erben des Versicherten gehört beim Tod des Erben zu den Nachlassverbindlichkeiten, nach § 1967 Abs. 1 BGB, für den dessen Gesamtrechtsnachfolger haftet.
2. Der Gesamtrechtsnachfolger des Erben des Versicherten kann dem Rückforderungsanspruch des Unfallversicherungsträgers aus § 96 Abs. 4 SGB VII keine in seiner Person gründende Vertrauensschutzgründe nach §§ 45 ff,50 SGB X entgegenhalten.
Tenor
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 20. September 2005 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Tatbestand
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Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Klägerin zur Rückzahlung von Verletztenrente verpflichtet ist, die die Beklagte dem Vater der Klägerin (Versicherter) über dessen Tod hinaus auf das Konto der Witwe, der Mutter der Klägerin, überwiesen hat. |
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Der Versicherte erhielt auf Grund eines Unfalls von 1956 eine Verletztenrente vom Württembergischen Gemeindeunfallversicherungsverband, einem Rechtsvorgänger der Beklagten (im folgenden nur noch Beklagte). Der Versicherte verstarb 1993. Alleinerbin wurde seine Ehefrau, die 2000 verstarb. Die Klägerin wurde Alleinerbin ihrer Mutter. |
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Die Verletztenrente des Versicherten wurde bis Juli 2001 auf das angegebene Konto bei der Volksbank H. eingezahlt, weil der Tod des Versicherten nicht angezeigt worden ist. Danach wurde die Rente wegen Kontoauflösung dort nicht mehr verbucht und deshalb bis März 2002 auf ein Extrakonto des Postrentendienstes überwiesen. |
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Nachdem der Beklagten im Mai 2002 der Tod des Versicherten bekannt wurde, holte sie die Auskunft der Volksbank H. vom 21.08.2002 ein. Der Kontostand des Versicherten habe am 10.02.1993 1566,08 DM betragen. Über die Geldleistungen nach dem Tod des Versicherten habe dessen Witwe verfügt, auf deren Namen das betreffende Konto umgeschrieben worden sei. |
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Nach Anhörung der Klägerin mit Schreiben vom 30.10.2002 über die beabsichtigte Rückforderung der von März 1993 bis zum Juli 2001 überwiesenen Rentenleistungen forderte die Beklagte mit Bescheid vom 08.01.2003 von der Klägerin insgesamt 24.451,64 EUR zurück. |
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Die Klägerin legte hiergegen Widerspruch ein, der nicht näher begründet wurde. Mit Widerspruchsbescheid vom 24.04.2003 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Der Bescheid wurde bestandskräftig. |
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Nach Einleitung der Zwangsvollstreckung wurde die Rentenüberzahlung für den Zeitraum nach Dezember 2000 in Höhe von 1972,99 EUR von der Klägerin erstattet. Im Übrigen beantragte die Klägerin den Rückforderungsbescheid gem. § 44 Sozialgesetzbuch (SGB) X zurückzunehmen. Sie haben nach dem Tode ihrer Mutter die Bank beauftragt die Rentenzahlung zurückzuweisen, was aber vor Erteilung eines Erbscheins von der Bank verweigert worden sei. Den Tod des Versicherten habe ihre Mutter beim Bürgermeisteramt angezeigt, das eine Kopie der Sterbeurkunde an die Rentenrechnungsstelle der Post übersandt habe. Da auf der nachfolgenden Rentenmitteilung für den verstorbenen Vater als Berechtigter das Geburtsdatum der Ehefrau eingetragen gewesen sei, habe ihre Mutter angenommen, bei der Rentenzahlung handle es sich um die ihr zustehende Witwenrente. Die eingegangenen Beträge habe ihre Mutter verbraucht, da die Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung auch nicht hoch gewesen sei. |
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Mit Bescheid vom 10.12.2003 wies die Beklagte den Antrag auf Rücknahme des Rückforderungsbescheids ab. Den Mitteilungen zur Leistung aus der gesetzlichen Unfallversicherung der Rentenrechnungsstelle habe nur entnommen werden können, dass die laufende Rentenleistung des Versicherten angepasst würde, von einer Witwenrente habe auch nach Auslegung der Umstände nicht ausgegangen werden können. Außerdem sei nach dem allgemeinen Erfahrungssatz auch deshalb nicht von einer Witwenrente auszugehen gewesen, weil eine Witwenrente nicht höher sei als die ursprüngliche dem Versicherten zustehende Rente. |
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Den hiergegen eingelegten Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 26.01.2004 zurück. |
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Die Klägerin hat am 01.03.2004 beim Sozialgericht Reutlingen (SG) Klage erhoben und ihr bisheriges Vorbringen vertieft. |
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Mit Urteil vom 20.09.2005 hat das SG die Klage abgewiesen. In den Entscheidungsgründen ist ausgeführt, Vertrauensschutz habe bei der Mutter der Klägerin für die auf § 45 SGB X gestützte Rückforderung von ohne Rechtsgrund geleisteten Zahlungen nicht vorgelegen. Die Witwe habe die jährlichen Mitteilungen über die Anpassung der Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung erhalten. Das unzutreffende Geburtsdatum des Versicherten, nämlich das Geburtsdatum der Witwe, hätten die Mitteilungen der Rentenrechnungsstelle bereits in den Jahren vor dem Tod des Versicherten enthalten. Die Witwe habe ebenfalls grob fahrlässig gehandelt, wenn sie auf Grund der Umstände von einer ihr zustehenden Rentenzahlung ausgegangen sei. Die Beklagte habe aber im Rahmen des nach § 50 Abs. 2 SGB X auszuübenden Ermessens versäumt, die in der Person des Erben der Witwe liegenden Umstände zu berücksichtigen, vor allem dass der Klägerin selbst keine grobe Fahrlässigkeit in Bezug auf das Verhalten ihrer Mutter vorzuwerfen sei. Gleichwohl sei der Rückforderungsbescheid nicht zurückzunehmen, da der Erstattungsanspruch jedenfalls auf der Grundlage des § 96 Abs. 4 SGB VII bestehe. Danach seien Geldleistungen, die für die Zeit nach dem Tod des Berechtigten zu Unrecht erbracht worden sind, von den Personen, die sie in Empfang genommen haben, sodass sie nicht mehr von dem Geldinstitut zurück überwiesen werden können, zu erstatten. Eine Verjährung trete erst vier Jahre nach Kenntnis des erstattungsberechtigten Unfallversicherungsträgers ein. Diese Voraussetzungen seien durch die Witwe des Versicherten erfüllt gewesen. Der Erstattungsanspruch setze keinen Verschuldensvorwurf gegen den Verfügenden voraus, die allgemeinen Vorschriften über die Rücknahme von Sozialleistungen bewilligende Verwaltungsakte fänden keine Anwendung. Zum Zeitpunkt des Todes der Witwe habe ein solcher öffentlich-rechtlicher Erstattungsanspruch der Beklagten bestanden, der mit dem Tod der Witwe auf die Klägerin als Alleinerbin übergegangen sei. |
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Gegen das der Klägerin am 19.10.2005 zugestellte Urteil hat diese am 20.10.2005 Berufung eingelegt und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt, der geltend gemachte Erstattungsanspruch könne nicht auf § 96 Abs. 4 SGB VII gestützt werden. Die Vorschrift solle nur den Zugriff auf denjenigen Erben erleichtern, der tatsächlich über die überzahlten Rentenbeträge verfügt habe. Eine Anwendung über diese Fälle hinaus verbiete sich. |
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das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 20.09.2005 und den Bescheid der Beklagten vom 10.12.2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheid vom 26.01.2004 aufzuheben sowie die Beklagte zu verpflichten, ihren Bescheid vom 08.01.2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheid vom 24.04.2003 insoweit zurückzunehmen, als überzahlte Rentenbeträge für die Zeit vom 01.03.1993 bis 04.12.2000 zurückgefordert werden. |
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die Berufung zurückzuweisen |
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Sie bezieht sich auf ihr Vorbringen im sozialgerichtlichen Verfahren und die Begründung im angefochtenen Urteil. |
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Im Termin zur Erörterung der Sach- und Rechtslage am 27.04.2006 haben die Beteiligten die Möglichkeiten von Zahlungserleichterungen im Rahmen eines Prozess beendenden Vergleichs erörtert und sich nach ausbleibender Einigung mit einer Entscheidung des Senats durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt. |
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Der Senat hat die Verwaltungsakte der Beklagten und die Akte des SG beigezogen. Auf diese Unterlagen und die vor dem Senat angefallene Akte wird Bezug genommen. |
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Entscheidungsgründe
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Die nach §§ 143, 144 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte und auch im Übrigen zulässige Berufung der Klägerin, über die der Senat im Einverständnis der Beteiligten gem. §§ 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 SGG ohne mündliche Verhandlung hat entscheiden können, ist nicht begründet. Das angefochtene Urteil des SG ist nicht zu beanstanden. Der angefochtene Bescheid der Beklagten ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten, denn sie hat keinen Anspruch auf Rücknahme des Rückforderungsbescheids. |
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Rechtsgrundlage für die begehrte Zugunstenentscheidung (Rücknahmebescheid) ist § 44 Abs.1 des SGB X. Nach dieser Vorschrift ist ein ablehnender Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei seinem Erlass das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen wurde, der sich als unrichtig erweist. Insoweit ist zu prüfen, ob das Vorbringen der Betroffenen für eine Unrichtigkeit der früheren – bindenden – Entscheidung spricht. Ergibt sich, dass nichts für eine Unrichtigkeit spricht, kann sich die Verwaltung ohne jede Sachprüfung auf die Bindungswirkung der früheren Entscheidung berufen. Werden zwar neue Tatsachen oder Erkenntnisse vorgetragen und neue Beweismittel benannt, ergibt aber die Prüfung, dass die vorgebrachten Gesichtspunkte nicht tatsächlich vorliegen oder für die frühere Entscheidung nicht erheblich waren, darf sich die Behörde ebenfalls auf die Bindungswirkung der früheren Bescheide stützen. Nur wenn die Prüfung zu dem Ergebnis führt, dass ursprünglich nicht beachtete Tatsachen oder Erkenntnisse vorliegen, die für die Entscheidung wesentlich sind, ist ohne Rücksicht auf die Bindungswirkung erneut zu entscheiden (vgl. BSG SozR 1300 § 44 SGB X Nr. 33). Im Rahmen einer Entscheidung nach § 44 SGB X gelten dabei die allgemeinen Verfahrens- und Beweislastregeln (vgl. BSGE 45, 1, 10; BSG SozR 3870 § 2 BKGG Nr. 44; Urteil des BSG vom 01.03.1989 – 2 RU 42/88 -). |
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Nach diesen Grundsätzen ist der Rückforderungsbescheid vom 08.01.2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 24.04.2003 nicht in dem begehrten Umfang zurückzunehmen. |
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Das Sozialgericht hat zutreffend darauf verwiesen, dass der Rückforderungsanspruch der Beklagten gegen die Witwe auf dem verschuldensunabhängigen Erstattungsanspruch des § 96 Abs. 4 Satz 1 SGB VII beruht. Danach können die für die Zeit nach dem Tod des Berechtigten zu Unrecht erbrachten Geldleistungen sowohl von den Personen, die die Geldleistungen unmittelbar in Empfang genommen haben oder an die der entsprechende Betrag durch Dauerauftrag, Lastschrifteinzug oder sonstiges bankübliches Zahlungsgeschäft weitergeleitet wurde als auch von den Personen, die als Verfügungsberechtigte über den entsprechenden Betrag ein bankübliches Zahlungsgeschäft zu Lasten des Kontos vorgenommen oder zugelassen haben, durch den leistenden Unfallversicherungsträger mit Verwaltungsakt zurückgefordert werden. |
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Das Sozialgericht hat zutreffend dargelegt, dass diese Voraussetzungen für die Zeit nach dem Tod des Versicherten von der Witwe erfüllt wurden. Der Senat nimmt nach eigener Prüfung auf die Ausführungen im angefochtenen Urteil des SG Bezug (§ 153 Abs. 2 SGG). |
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Danach haftet die Klägerin als Alleinerbin der Mutter im Wege der Gesamtrechtsnachfolge nach § 1922 Abs. 1 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) für die Nachlassverbindlichkeiten (§ 1967 Abs. 1 BGB), zu denen der Rückforderungsanspruch nach § 96 Abs. 4 Satz 1 SGB VII als Erblasserschulden gehört. |
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Ein Rücküberweisungsanspruch an das Kreditinstitut bestand nicht nach § 96 Abs. 3 Satz 3 SGB VII, da nach Vorbringen der Klägerin ihre Mutter über die eingegangenen Beträge unmittelbar nach Eingang auf das Konto verfügte und sie zur täglichen Lebenshaltung verbrauchte. Der Erstattungsanspruch gegen die Witwe ist mit Eingang der Überzahlung entstanden. Zum Zeitpunkt des Todes der Witwe im Dezember 2000 gehörte der Rückforderungsanspruch der Beklagten zum Nachlass. Die Klägerin als Alleinerbin ihrer Mutter hat die Erbschaft nicht ausgeschlagen, so dass sie die Schuldnerin des Erstattungsanspruchs geworden ist. |
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Ob die Regelung des § 96 Abs. 4 Satz 4 SGB VII, wonach ein Anspruch gegen die Erben nach § 50 SGB X unberührt bleibt, und worauf die Klägerin im Berufungsverfahren sinngemäß abstellt, die vorliegende Fallkonstellation betrifft, kann dahinstehen. |
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Als lex specialis könnte diese Regelung sich nur auf den Erben oder Miterben des Versicherten beziehen und lediglich klarstellen, dass eine Rückforderung gegen etwaige (Mit-)Erben des Versicherten, die weder über das Konto verfügen konnten noch durch bankübliches Zahlungsgeschäft davon Leistungen erhalten haben, nur auf §§ 50, 45ff SGB X gestützt werden kann. Eine Regelung über einen bereits entstandenen Rückforderungsanspruch, der im Wege der Gesamtrechtsnachfolge auf den Erben des Erstattungspflichtigen übergeht, wäre damit nicht getroffen. |
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Hielte man §§ 96 Abs. 4 Satz 4 SGB VII, 50 SGB X dagegen auch für den Fall des Erben nach dem Erben des Versicherten für anwendbar, ergäbe sich nach § 50 Abs. 2 SGB X nichts anderes. |
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Der Gesamtrechtsnachfolger tritt in die rechtliche Position des Erblassers und kann nur die Einwendungen des Erblassers bzw. die Haftungsbeschränkungen des Erben nach §§ 1975 ff BGB geltend machen (vgl. BVerwG, Urt. vom 22.11.2002, NJW 2002, 1892). Da der Mutter aber Vertrauensgesichtspunkte nach § 96 Abs. 4 SGB VII nicht zur Seite standen, kann die Klägerin als Erbin keinen Vertrauensschutz nach §§ 45 ff SGB X geltend machen (vgl. BVerwG a.a.O.). |
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. |
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Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor. |
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