OLG Karlsruhe, Beschl. v. 21.05.2015 – 11 Wx 82/14
Amtsermittlung bei Einwand der Testierunfähigkeit
Die Beteiligten streiten im Erbscheinsverfahren darum, ob der Erblasser aufgrund eines notariellen Testaments von seiner Witwe beerbt worden ist oder wegen Testierunfähigkeit zum Zeitpunkt der Errichtung die gesetzliche Erbfolge eingetreten ist.
Der Erblasser war ein 1942 geborener türkischer Staatsangehöriger; er ist am 04.08.2012 in Karlsruhe verstorben und hat die Beteiligte zu 1 – seine Witwe – sowie fünf volljährige Kinder, die Beteiligten zu 2 bis 6, hinterlassen. Als letztwillige Verfügungen liegen ein maschinenschriftliches Testament v. 24.05.2012 und ein notarielles, unter Hinzuziehung eines Dolmetschers errichtetes Testament v. 16.07.2012 vor. Das notariell errichtete Testament enthält eine Wahl des deutschen Rechts und eine Einsetzung der Witwe als Alleinerbin.
Der Beteiligte zu 6 hat mit am 12.02.2013 eingegangenen Schriftsatz einen Erbschein nach der gesetzlichen Erbfolge des türkischen Rechts beantragt und dabei geltend gemacht, dass der Erblasser bei Errichtung des notariellen Testaments testierunfähig gewesen sei. Er hat angegeben, der Erblasser habe sowohl im Inland als auch in der Türkei bewegliches und unbewegliches Vermögen hinterlassen.
Das Nachlassgericht hat Gutachten zur Echtheit der Unterschrift des Erblassers unter dem maschinenschriftlichen Testament v. 24.05.2012 (Gutachten Sachverständige C. v. 27.06.2014) und zur Testierfähigkeit bei der notariellen letztwilligen Verfügung eingeholt (Gutachten Sachverständiger G. v. 07.04.2014); Zeugen und Beteiligte zur Frage der Testierfähigkeit wurden nicht angehört. Auf dieser Grundlage hat das Nachlassgericht durch Beschl. v. 10.07.2014 die Erteilung eines Erbscheins nach der gesetzlichen Erbfolge angekündigt; es ist auf der Grundlage des psychiatrischen Gutachtens von Testierunfähigkeit des Erblassers bei Errichtung des notariellen Testaments ausgegangen. Das Nachlassgericht hat die Auffassung vertreten, eine Befragung des bei der Testamentserrichtung tätigen Urkundsnotars sei nicht erforderlich, da davon auszugehen sei, dass dieser die Geschäfts- und Testierfähigkeit bestätigen werde, dies aber im Gegensatz zu den überzeugenden Ausführungen des Gutachters stünde.
Gegen die Entscheidung des Nachlassgerichts, die ihr am 14.07.2014 zugestellt worden ist, richtet sich die am 14.08.2014 eingegangene Beschwerde der Beteiligten zu 1. Sie verfolgt unter Anführung weiterer Beweismittel – darunter des Urkundsnotars und des hinzugezogenen Dolmetschers als Zeugen sowie eines nervenärztlichen Gutachtens von dem Facharzt M. v. 09.04.2015 – ihre Auffassung weiter, dass der Erblasser zur Errichtung einer wirksamen letztwilligen Verfügung imstande gewesen sei. Mit der Beschwerdeschrift ist der Antrag verbunden, einen Erbschein auf der Grundlage des öffentlichen Testaments v. 16.07.2012 zu erteilen.
Aus den Gründen:
Die nach §§ 352, 58 FamFG zulässige Beschwerde hat vorläufig Erfolg und führt zu einer Zurückverweisung an das Nachlassgericht. Das erstinstanzliche Verfahren leidet unter einem wesentlichen Mangel; die Sache war daher auf Antrag der Beschwerdeführerin an das Nachlassgericht zurückzuweisen, weil vor einer Sachentscheidung noch eine umfangreiche Beweiserhebung erforderlich ist (§ 69 Abs. 1 Satz 3 FamFG).
- Die Beschwerde ist wirksam eingelegt worden. […]
- Das Rechtsmittel führt zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und zur Zurückverweisung, weil das Nachlassgericht den entscheidungserheblichen Sachverhalt entgegen § 26 FamFG nicht ordnungsgemäß ermittelt hat.
- Die deutschen Gerichte sind für das Erbscheinsverfahren gem. § 105 FamFG international zuständig, da eine örtliche Zuständigkeit eines deutschen Gerichts – nämlich ausgehend vom letzten Wohnsitz des Erblassers des Nachlassgerichts Schwetzingen (§ 343 Abs. 1 FamFG) – begründet ist und Vermögen auch im Inland vorhanden ist. Ein Erbscheinsverfahren ist daher jedenfalls für das inländische Vermögen zu betreiben, wenn auch für etwaigen Grundbesitz in der Türkei die Zuständigkeit der dortigen Justiz begründet sein könnte (vgl. OLG Karlsruhe, BeckRS 2013, 20823).
- Anwendbar ist, soweit das bewegliche Vermögen in Rede steht und eine wirksame Rechtswahl durch Testament nicht vorliegen sollte (vgl. insoweit § 2 des notariellen Testaments v. 16.07.2012), nach Artikel 14 des deutsch-türkischen Nachlassabkommens (Anlage zum Konsularvertrag zwischen der Türkischen Republik und dem Deutschen Reich v. 28.05.1929, zitiert nach Ferid/Firsching/Dörner/Hausmann, Internationales Erbrecht, Türkei, Abschnitt A Nr. 1) das türkische materielle Recht, hinsichtlich des unbeweglichen Vermögens jeweils das Recht des Staates, in dem sich der Nachlass befindet.
- Sowohl nach dem deutschen Recht (§ 2229 Abs. 4 BGB) als auch nach dem für das bewegliche Nachlassvermögen im Falle fehlender wirksamer Rechtswahl anwendbaren türkischen materiellen Recht (vgl. hierzu Ferid/Firsching/Dörner/Hausmann, Internationales Erbrecht, Türkei, Rn. 223) hängt die Erteilung des Erbscheins davon ab, ob der Erblasser bei Errichtung des notariellen Testaments v. 16.07.2012 testierunfähig war. Die hierzu angestellten Ermittlungen des Nachlassgerichts sind von einem wesentlichen Verfahrensfehler beeinflusst, weil das Gericht der ersten Instanz die aus § 26 FamFG folgende Pflicht zur Ermittlung der entscheidungserheblichen Tatsachen in schwerwiegender Weise verletzt hat (MünchKomm-FamFG/Fischer, 2. Aufl., § 69 Rn. 43; Keidel/Sternal, FamFG, 18. Aufl., § 69 Rn. 15b).
Nach § 2358 Abs. 1 BGB hat das Nachlassgericht im Erbscheinsverfahren unter Benutzung der vom Antragsteller angegebenen Beweismittel von Amts wegen die zur Feststellung der Tatsachen erforderlichen Ermittlungen zu veranstalten und die geeignet erscheinenden Beweise zu erheben. Dem entspricht verfahrensrechtlich § 26 FamFG, der verlangt, dass das Gericht von Amts wegen die zur Feststellung der entscheidungserheblichen Tatsachen erforderlichen Ermittlungen durchzuführen hat. Welche Nachforschungen geboten sind, bestimmt das Gericht nach pflichtgemäßem Ermessen. Die von Amts wegen einzuleitenden und durchzuführenden Ermittlungen sind jedoch so weit auszudehnen, wie es die Sachlage erfordert; mit anderen Worten muss das Verfahren geeignet sein, eine möglichst zuverlässige Grundlage für die zu treffende Entscheidung zu erlangen.
Die richterliche Aufklärungspflicht ist verletzt, wenn Ermittlungen, zu denen nach dem Sachverhalt als solchem und dem Vorbringen der Beteiligten Anlass bestand, nicht durchgeführt worden sind; die Ermittlungen sind erst abzuschließen, wenn von weiteren Maßnahmen ein sachdienliches, die Entscheidung beeinflussendes Ergebnis nicht mehr zu erwarten ist.
Diese Grenzen reichen aus, um die Annahme einer Amtsermittlungspflicht in Fällen zu unterbinden, in denen die Ermittlung sozusagen „ins Blaue” hinein geschähe oder das Gericht einer lediglich denkbaren, rein theoretischen Möglichkeit nachginge. Auf der anderen Seite sind die Beteiligten, wie sich aus § 27 Abs. 1 und 2 FamFG ergibt, auch in Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit von der Verpflichtung, durch eingehende Tatsachendarstellung an der Aufklärung des Sachverhalts mitzuwirken, nicht befreit. Ihrer Mitwirkungs- und Verfahrensförderungslast genügen sie, indem ihr Vortrag und die Bezeichnung geeigneter Beweismittel dem Gericht Anhaltspunkte dafür geben, in welche Richtung es seine Ermittlungen durchführen soll.
Insbes. findet die Verpflichtung des Gerichts zur weiteren Aufklärung des Sachverhalts dort ihre Grenze, wo es die Verfahrensbeteiligten allein oder hauptsächlich in der Hand haben, die notwendigen Erklärungen abzugeben und Beweismittel zu bezeichnen bzw. vorzulegen, um eine ihren Interessen entsprechende Entscheidung herbeizuführen (OLG Düsseldorf, NJW-RR 2013, 782, juris-Rn. 14 f., m.w.N.).
- Nach diesem rechtlichen Maßstab hat das Nachlassgericht seiner Amtsermittlungspflicht nicht genügt. Zwar hat es ein Sachverständigengutachten zur Frage der Testierfähigkeit erhoben. Dieses gründet sich jedoch nicht auf hinreichend festgestellten Anknüpfungstatsachen. Vielmehr ergeben sich aus den Akten noch eine Reihe Erfolg versprechender Ermittlungsansätze zu Anknüpfungstatsachen für eine sachverständige Begutachtung, denen das Nachlassgericht – nachdem die offenbar ursprüngliche bestehende Absicht, die gesetzlichen Erben und weitere Anhörungspersonen anzuhören, aufgegeben worden ist – nicht nachgegangen ist.
- a) Zunächst besteht Anlass, jedenfalls diejenigen Beteiligten anzuhören, die im Zeitpunkt der Testamentserrichtung näheren Kontakt zu dem Erblasser hatten; es ist zu erwarten, dass diese Angaben machen können, die zur Beurteilung der Testierfähigkeit des Erblassers geeignet sind, insbes. etwaige auffällige Verhaltensweisen oder erkennbare Störungen des Lang- oder Kurzzeitgedächtnisses schildern können.
- b) Bei den Akten befindet sich eine eidesstattliche Versicherung der Frau M. v. 24.05.2012, die sich auf die Anfertigung des auf denselben Tag datierten Testaments bezieht. Dieses Testament ist zwar unzweifelhaft wegen Formunwirksamkeit unbeachtlich. Gleichwohl besteht Anlass, die Zeugin M. dazu zu befragen, welche Wahrnehmungen sie im Zusammenhang mit der Anfertigung der letztwilligen Verfügung im Zusammenhang mit dem psychischen Zustand des Erblassers gemacht hat.
- c) Es besteht ferner Anlass, den mit der Testamentserrichtung beauftragten Urkundsnotar und ggf. auch den von ihm hinzugezogenen Dolmetscher zu vernehmen. Davon kann nicht mit den vom Nachlassgericht angestellten Erwägungen abgesehen werden. Bei der Vernehmung des Notars als Zeugen kommt es nicht darauf an, dessen eigene Einschätzung der Testierfähigkeit des Erblassers in Erfahrungen zu bringen, sondern – soweit noch erinnerlich – die Wahrnehmungen, die er anlässlich der Testamentsbeurkundung, etwa in einem Vorgespräch, gemacht hat.
- d) Zu den Akten des Nachlassgerichts sind Atteste von Dr. B. und Dr. H. gelangt. Angesichts dessen, dass der Inhalt dieser Atteste und die Unbefangenheit ihrer Aussteller von der Beteiligten zu 1 in Zweifel gezogen werden, besteht Anlass, die betreffenden Ärzte als Zeugen zu vernehmen, damit sich das Nachlassgericht einen eigenen Eindruck von der Glaubhaftigkeit ihrer Angaben und ihrer Glaubwürdigkeit verschaffen und diese zudem um konkrete Angaben zu Beobachtungen bitten kann, die für die Beurteilung der Testierfähigkeit durch den Sachverständigen von Bedeutung sein könnten.
- e) Dem Schreiben der Frau Dr. B. v. 09.07.2012 lässt sich entnehmen, dass der Erblasser – auch in zeitlicher Nähe zur Testamentserrichtung – in verschiedenen Krankenhäusern behandelt worden sein soll. Auf die Beiziehung der Behandlungsunterlagen dieser Krankenhäuser, aus denen sich auch bei einer Behandlung außerhalb einer psychiatrischen Klinik wertvolle Erkenntnisse ergeben könnten, wird nicht verzichtet werden können. Entlassungsberichte von Krankenhäusern (vgl. etwa Bericht des S. Krankenhauses; Bericht der Universitätsklinik H.) vermögen erfahrungsgemäß die Beiziehung von Krankenunterlagen nicht vollständig zu ersetzen. Das gilt insbes. deshalb, weil sich aus der Pflegedokumentation der Krankenhäuser auch Beobachtungen von Pflegepersonen ergeben können, die für die Beurteilung der geistigen Gesundheit des Erblassers hilfreich sein können.
- f) Mit der Beschwerdeschrift, die dem Nachlassgericht bei der Entscheidung im Abhilfeverfahren vorgelegen hat, hat die Beteiligte zu 1 vorgetragen, dass der Zeuge O. I. bei einem Protokollierungstermin am 11.07.2012 – also wenige Tage vor dem Testament – mit dem Erblasser einen beabsichtigten Vertrag besprochen habe. Aus der Aussage dieses Zeugens könnten sich ebenfalls Hinweise auf die geistige Verfassung des Erblassers am Tag der Testamentserrichtung ergeben.
- g) Es könnte schließlich Anlass bestehen, den von der Beteiligten zu 1 benannten Zahnarzt, der den Erblasser bis 25.07.2012 behandelt haben soll, zu möglichen Erkenntnissen zu befragen. Es erscheint durchaus denkbar, dass der Zahnarzt – etwa im Gespräch mit dem Erblasser über Behandlungsmöglichkeiten – Wahrnehmungen gemacht hat, die die Feststellung der Testierfähigkeit erleichtern können. Die Vernehmung des Zahnarztes könnte insbes. wegen der zeitlichen Nähe zu der in Rede stehenden Testamentserrichtung eine wertvolle Erkenntnisquelle sein.
- Das im Beschwerdeverfahren eingereichte Gutachten des Sachverständigen G., das dieser zur Frage der Geschäftsfähigkeit des Erblasser zum 16.07.2012 in einem Streitverfahren vor dem LG Mannheim erstattet hat, rechtfertigt keine andere Beurteilung; es ändert insbes. nichts daran, dass eine hinreichende Ermittlung der Anknüpfungstatsachen für ein Gutachten bisher nicht erfolgt ist.
- Der Senat sieht von einer eigenen Sachentscheidung ab und verweist die Sache an das Nachlassgericht zurück.
- Vor einer Entscheidung in der Sache ist – wie die Ausführungen unter B. zeigen – eine umfangreiche weitere Beweisaufnahme erforderlich. Zunächst werden die Beteiligten und Zeugen anzuhören, sodann der medizinische Sachverständige dazu zu befragen sein, ob die gewonnenen Erkenntnisse zu einer abweichenden Beurteilung der Frage der Testierfähigkeit führen. Schließlich wird auch eine Auseinandersetzung mit dem eingereichten Privatgutachten des Facharztes für Neurologie M. erforderlich sein.
- Die Zurückverweisung an das Gericht des ersten Rechtszug ist, was genügend ist (Keidel/Sternal, FamFG, 18. Aufl., § 69 Rn. 15d), von der Beteiligten zu 1 hilfsweise beantragt worden.