VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 27.08.1990 – 6 S 2346/88

Mai 5, 2021

VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 27.08.1990 – 6 S 2346/88

1. Unterhaltsansprüche nach bürgerlichem Recht iS von § 91 BSHG sind nur solche Ansprüche, die sich aus den Vorschriften des BGB über die Unterhaltspflicht ergeben. Vertragliche Ansprüche und ihre Surrogate fallen auch dann nicht unter § 91 BSHG, wenn ihnen unterhaltsähnliche Merkmale eigen sind (aM OVG Lüneburg, FEVS 18, 51).
Tatbestand

Der Kläger, der Landwirt ist, wendet sich gegen die Überleitung von Entschädigungsansprüchen im Zusammenhang mit einem Leibgedingsvertrag.

Die Schwester des Klägers (Hilfeempfängerin), die in einem Pflegeheim untergebracht war, erhielt vom Beklagten seit August 1976 Hilfe zur Pflege nach § 68 BSHG. Die Hilfe erreichte einen ganz erheblichen Umfang; so belief sie sich im Jahre 1981 auf monatlich mehr als 2 500,– DM.

Am 21.07.1986 starb die Mutter des Klägers. Mit dieser hatte er am 17.12.1963 einen Übergabevertrag geschlossen, wonach er an die Hilfeempfängerin eine Kapitalzahlung in Höhe von 700,– DM zu erbringen hatte. Weiter hieß es in § 1 des Vertrags, dieser Geldbetrag sei nicht zu zahlen, wenn diese lebenslang auf dem Hof Kost und Wohnung erhalte. In § 8 des Vertrags hieß es wörtlich:

Leibgedingsvertrag und Wohnungsrecht (die Bestimmungen des AGBGB gelten ergänzend)

I.

Für die Übergeberin das ausschließliche Wohnungsrecht in Geb. 2 (…): in der Stubenkammer

II.

Für die noch ledigen Kinder namens

1. Frieda (die Hilfeempfängerin, Ergänzung vom Senat),

2. (…)

auf die Dauer des ledigen Standes je das ausschließliche Wohnungsrecht in Geb. Nr. 2 (…) in folgenden Räumen: Frieda in der Stubenkammer, solange die Mutter lebt, beschränkt durch deren Wohnungsrecht (…)

Der Übernehmer ist verpflichtet, seine gebrechliche Schwester Frieda (die Hilfeempfängerin, Ergänzung vom Senat), solange sie bei ihm auf dem Hof bleiben kann, zu verköstigen und mit Kleidung zu versorgen. Dieser Anspruch erlischt, wenn die Schwester in eine Anstalt aufgenommen werden muß. Sie erhält dann die vorne vereinbarten 700,– DM.

Der Kläger hatte die 700,– DM an die Hilfeempfängerin bezahlt, nachdem diese ins Pflegeheim aufgenommen worden war.

Mit Bescheid vom 26.08.1986 — etwa fünf Wochen nach dem Tod der Mutter — leitete der Beklagte etwaige Entschädigungsansprüche der Hilfeempfängerin gegen den Kläger wegen Nichtausübung des Wohnungsrechtes auf sich über. Der Bescheid lautete wörtlich:

Sehr geehrter Herr D.,

das Kreissozialamt … trägt die für Ihre Schwester … entstehenden Heimunterbringungskosten.

Aufgrund des Übergabevertrags vom 17.12.1963 hat Ihre Schwester das Wohnungsrecht in der Stubenkammer im Gebäude 2 …

Durch den Tod Ihrer Mutter ist die Beschränkung dieses Wohnungsrechtes durch das Wohnungsrecht Ihrer Mutter weggefallen.

Gemäß § 90 BSHG leiten wir die Ansprüche Ihrer Schwester auf eine evtl. Entschädigung für die Nichtausübung des Wohnungsrechtes auf das Kreissozialamt … über.

Um eine weitere Entscheidung treffen zu können, bitten wir Sie um Mitteilung, wie der Raum, in dem das Wohnungsrecht eingeräumt ist, von Ihnen in Zukunft genutzt wird.

Hiergegen erhob der Kläger am 10.09.1986 Widerspruch; er war der Auffassung, aus dem Übergabevertrag gehe hervor, daß das Wohnungsrecht der Hilfeempfängerin mit dem Tode der Mutter erloschen sei. Dies sei auch evident.

Mit Widerspruchsbescheid vom 05.08.1987 wies der Landeswohlfahrtsverband W den Widerspruch zurück. Zur Begründung wurde im wesentlichen ausgeführt, der Schwester des Klägers werde seit August 1976 Sozialhilfe gewährt. Anhaltspunkte, wonach ihr Wohnrecht mit Eintritt in die Anstalt erloschen sei, bestünden nicht. Auf die Evidenztheorie komme es nicht an, weil es im vorliegenden Falle nicht um Unterhaltsansprüche, sondern um vertragliche Ansprüche gehe. Diese könnten nach pflichtgemäßem Ermessen des Trägers der Sozialhilfe übergeleitet werden. — Der Widerspruchsbescheid wurde dem Kläger nach dessen Angaben am 07.08.1987 („86“ ist ein offensichtlicher Schreibfehler) zugestellt.

Am 05.09.1987 hat der Kläger beim Verwaltungsgericht Sigmaringen Klage erhoben, mit der er sich weiterhin gegen die Überleitungsanzeige wendet. Zur Begründung hat er seine Auffassung wiederholt und vertieft, er habe der Hilfeempfängerin das Wohnrecht nur so lange einräumen wollen, als es dieser tatsächlich möglich gewesen sei, auf dem Anwesen zu leben. Deshalb sei evident, daß der übergeleitete Anspruch nicht bestehe. Im übrigen enthalte § 91 BSHG „eine auf die Überleitung bürgerlich-rechtlicher Unterhaltsansprüche beschränkte Sonderregelung“. — Der Beklagte hat Klageabweisung beantragt.

Mit Urteil vom 19.05.1988 hat das Verwaltungsgericht die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, den bei der Überleitung von Ansprüchen nach § 90 BSHG zu beachtenden sozialhilferechtlichen Grundsätzen seien Rechnung getragen worden. Die Überleitungsanzeige sei schriftlich abgefaßt und lasse erkennen, wegen welcher Leistungen die Überleitung erfolge. Jedenfalls in Verbindung mit dem Widerspruchsbescheid lasse sie auch erkennen, von welchem Zeitpunkt an Sozialhilfe geleistet werde; die „zeitliche Deckungsgleichheit“ könne mithin überprüft werden. Der übergeleitete Anspruch sei auch hinreichend bezeichnet. Demgegenüber sei es nicht erforderlich, das Bestehen des Anspruchs nach Grund und Höhe darzulegen; dies sei gegebenenfalls vor den ordentlichen Gerichten zu prüfen. Anderes könne allenfalls dann gelten, wenn der übergeleitete Anspruch im streitigen Zeitraum offensichtlich nicht bestehe. Das sei hier jedoch nicht der Fall.

Gegen dieses ihm am 08.06.1988 zugestellte Urteil hat der Kläger am 07.07.1988 Berufung eingelegt, mit der er sein bisheriges Vorbringen wiederholt und vertieft.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Verwaltungsgerichts Sigmaringen vom 19.05.1988 zu ändern sowie die Überleitungsanzeige des Beklagten vom 26.08.1986 und den Widerspruchsbescheid des Landeswohlfahrtsverbandes W vom 05.08.1987 aufzuheben.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung des Klägers zurückzuweisen.

Er verteidigt das angefochtene Urteil und räumt ein, daß der Übergabevertrag auslegungsfähig sei; indessen könne nicht davon die Rede sein, daß die vom Kläger vertretene Auslegung offensichtlich die richtige sei.

Die Beteiligten haben auf mündliche Verhandlung verzichtet.

Dem Senat liegen die zur Sache gehörenden Akten des Landratsamts Ravensburg und des Verwaltungsgerichts Sigmaringen vor.
Gründe

Im Einverständnis der Beteiligten entscheidet der Senat über die Berufung ohne mündliche Verhandlung (vgl. § 101 Abs. 2 VwGO).

Die Berufung des Klägers ist nicht begründet, denn das Verwaltungsgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen. Die angefochtenen Bescheide sind rechtmäßig; das Verwaltungsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, daß die Voraussetzungen der Überleitung nach §§ 90, 91 BSHG erfüllt sind.

Der Beklagte hat den formellen Anforderungen an eine Überleitung Rechnung getragen. Die Schriftform ist gewahrt; Hilfeempfänger und Beginn der Hilfeleistung (vgl. insoweit den Widerspruchsbescheid vom 05.08.1987) sind benannt. Der Zeitpunkt, von dem an die Überleitung wirksam werden sollte, ist allerdings nicht ausdrücklich festgelegt; namentlich im Hinblick darauf, daß der Beklagte unmittelbar auf den im Zeitpunkt der Überleitung erst einen Monat zurückliegenden Tod der Mutter des Klägers Bezug nimmt, kann jedoch die Überleitungsanzeige nur dahin verstanden werden, die Überleitung solle „ex nunc“ wirksam werden. Daß der übergeleitete Betrag nicht genannt wird, ist gleichfalls unschädlich (vgl. BVerwGE 42, 198, 200); dies um so mehr, als eine Überleitung „dem Grunde nach“ möglich sein muß, wenn die Höhe des überzuleitenden Anspruchs — wie hier — noch gar nicht feststeht (vgl. LPK-BSHG, 2. Aufl. 1989, § 90 RdNr. 29). Unerheblich ist schließlich auch, daß der Beklagte die Höhe der Hilfeleistung nicht benannt hat; eine solche Bezifferung ist jedenfalls dann nicht erforderlich, wenn die Überleitung — wie hier — lediglich für die Zukunft erfolgt (vgl. LPK-BSHG, a.a.O., RdNr. 30).

Bestehen und Höhe des übergeleiteten Anspruchs sind im vorliegenden Zusammenhang unerheblich; soweit hierüber Streit besteht, ist dieser, wie das Verwaltungsgericht zutreffend ausgeführt hat, grundsätzlich vor den Gerichten der ordentlichen Gerichtsbarkeit auszutragen (vgl. etwa Urteile des Senats vom 04.06.1986 — 6 S 935/84 — und vom 02.05.1989 — 6 S 1214/87 –). Anderes könnte allenfalls dann gelten, wenn der Anspruch, um dessen Überleitung es geht, im fraglichen Zeitraum offensichtlich nicht bestünde (Negativevidenz). Das ist jedoch entgegen der Auffassung des Klägers nicht der Fall. Der Übergabevertrag vom 17.12.1963 enthielt in seinem hier maßgeblichen § 8 unter anderem einen Leibgedingsvertrag zugunsten der Hilfeempfängerin (Art. 96 EGBGB), für den die Vorschriften der §§ 6 ff. des bad.-württ. AGBGB gelten, wie die Vertragsparteien ausdrücklich vereinbart haben. Nach § 14 Abs. 1 AGBGB kann der Gläubiger (hier: die Hilfeempfängerin) eine monatlich im voraus fällige Geldrente verlangen, wenn er die ihm im Leibgedingsvertrag eingeräumte Wohnung auf dem Grundstück — wie hier — aus einem anderen als in §§ 15, 16 genannten Grund aufgegeben hat. Diese Ersatzrente kann, wie sich aus § 6 AGBGB ergibt, vertraglich abbedungen werden. Davon, daß dies in dem im Tatbestand dieses Urteils wörtlich mitgeteilten Text des Übergabevertrages geschehen wäre, kann keineswegs mit Sicherheit ausgegangen werden. Dem Kläger ist zwar zuzugeben, daß manches für die von ihm vertretene Auslegung sprechen mag; die gegenteilige Sicht erscheint jedoch gleichfalls als möglich. Bei dieser Sachlage läuft die Auffassung des Klägers letztlich auf das Begehren hinaus, der Senat möge im verwaltungsgerichtlichen Verfahren wegen der Überleitungsanzeige eine Vorabentscheidung über die zwischen den Beteiligten streitige Auslegung des Übergabevertrages treffen. Daß dies der Aufgabenteilung zwischen Verwaltungs- und ordentlicher Gerichtsbarkeit grundlegend zuwiderliefe, bedarf keiner näheren Erörterung.

Schließlich steht der Überleitung auch nicht § 91 BSHG entgegen, denn diese Vorschrift ist auf den vorliegenden Fall nicht anwendbar. Der Kläger ist der Hilfeempfängerin — seiner Schwester — nach den Vorschriften des BGB nicht unterhaltspflichtig; die Unterhaltspflicht gilt nur für Verwandte in gerader Linie (§ 1601 BGB; vgl. dazu Münchener Kommentar zum BGB, Bd. 5/2, 2. Aufl. 1987, § 1601 RdNr. 5). Der Ersatzrentenanspruch, um den es allenfalls gehen kann, ist auch nicht aus anderen Gründen ein bürgerlich-rechtlicher Unterhaltsanspruch. Zwar wird davon auszugehen sein, daß die dem Kläger gegenüber seiner Schwester kraft Übergabevertrages obliegenden Verpflichtungen, deren Surrogat die Pflicht zur Leistung einer Ersatzrente wäre, der Sicherung des Lebensunterhalts diente und daß dem Anspruch der Hilfeempfängerin insoweit unterhaltsähnliche Merkmale eigen sind. Eigentlicher Zweck der Verpflichtung ist jedoch sowohl bei „echter“ Erbschaft (vgl. insoweit das Gesetz über das Anerbenrecht i.d.F. vom 08.08.1950, württ.-hohenz. RegBl. S. 279) als auch im hier vorliegenden Falle „vorweggenommener“ Erbschaft nicht die Unterhaltsgewährung im Rechtssinne, sondern die Abfindung des weichenden Erben; Leibgedinge unterliegen mithin grundsätzlich anderer rechtlicher Beurteilung (vgl. Münchener Kommentar, a.a.O., vor § 1601, RdNr. 14). Damit scheidet jedoch eine Anwendung des § 91 BSHG aus, denn bürgerlich-rechtliche Unterhaltsansprüche im Sinne dieser Vorschrift können allein solche sein, die sich aus den Vorschriften des BGB über die Unterhaltspflicht ergeben.

Die in Literatur und Rechtsprechung vertretene weitergehende Auffassung, der Schutz des § 91 BSHG müsse auch Personen zugute kommen, die sich vertraglich zur Leistung von Unterhalt verpflichtet haben, wenn für den Vertragsabschluß verwandtschaftliche Beziehungen oder sittliche Beweggründe mitbestimmend waren (vgl. etwa Gottschick/Giese, BSHG, 9. Aufl. 1985, § 91 RdNr. 6.1; ausdrücklich für Altenteilsverträge LPK-BSHG, a.a.O., § 91 RdNr. 46 und 49; mit Einschränkungen OVG Lüneburg, FEVS 18, 51, 52 f., zu § 27 e BVG), vermag der Senat nicht zu teilen. Zum einen führt diese Auffassung zu einer Auflösung der klaren Konturen der Vorschrift; dies zeigt sich namentlich in der dogmatisch kaum greifbaren Erwägung, die erweiternde Auslegung rechtfertige sich daraus, daß „auch für vertragliche Unterhaltsregelungen das bürgerliche Recht maßgeblich ist“ (Gottschick/Giese a.a.O.). Zum zweiten trifft auch nicht zu, daß der Zweck des § 91 BSHG eine derartige erweiternde Auslegung rechtfertige (Gottschick/Giese ebd.; OVG Lüneburg, a.a.O., S. 52). Insbesondere im Blick auf § 91 Abs. 1 S. 1 BSHG erweist sich, daß die Vorschrift von vornherein nicht auf Verpflichtungen zugeschnitten ist, die ihren Rechtsgrund nicht in den unterhaltsrechtlichen Vorschriften des BGB, sondern in Verträgen haben. Nach § 91 Abs. 1 S. 1 BSHG darf der Träger der Sozialhilfe den Übergang eines Anspruchs nach § 90 gegen einen nach bürgerlichem Recht Unterhaltspflichtigen nicht bewirken, wenn der Unterhaltspflichtige mit dem Hilfeempfänger im zweiten oder in einem entfernteren Grade verwandt ist. Mithin sollen „entferntere“ Unterhaltspflichtige von vornherein nicht herangezogen werden; die Vorschrift beschränkt den Zugriff ausdrücklich auf die „näheren“ Verpflichteten. Diese Differenzierung verliert jedoch dort ihre innere Rechtfertigung, wo Rechtsgrund der Verpflichtung eine freiwillig eingegangene vertragliche Bindung ist. Um so weniger kann § 91 BSHG anwendbar sein, wenn der Pflichtige — wie hier — nach bürgerlich-rechtlichen Vorschriften von vornherein nicht Unterhaltspflichtiger sein kann; dem entspricht, daß auch das OVG Lüneburg (a.a.O.) seinen erweiternden Ansatz ausdrücklich auf Personen beschränkt hat, für die grundsätzlich eine Unterhaltspflicht nach den Vorschriften des BGB in Betracht kommt.

Haben Sie Fragen? 

Rufen Sie uns an oder schreiben Sie uns eine E-Mail, damit wir die grundsätzlichen Fragen klären können.

© Rechtsanwalt Krau. All rights reserved.
Powered by wearehype.eu.
© Rechtsanwalt Krau. All rights reserved.
Powered by wearehype.eu.