Kammergericht Berlin – Auslegung eines Testaments: Selbst bei scheinbar klarem Wortlaut können die Umstände anderes ergeben

Februar 4, 2019

Auslegung eines Testaments: Selbst bei scheinbar klarem Wortlaut können die Umstände
anderes ergeben
Die Unterscheidung zwischen der Anordnung einer Voll- und einer Vorerbschaft durch ein
Testament ist zuweilen schwierig, da ein Vorerbe nicht im gleichen Ausmaß über das Erbe verfügen kann
wie ein Vollerbe. Dass aus diesem Umstand heraus häufig Streitigkeiten entstehen, war Grundlage des
folgenden Falls, den das Kammergericht Berlin (KG) zu entscheiden hatte.
Ein Ehepaar hatte sich in einem gemeinschaftlichen Testament gegenseitig zu Erben eingesetzt und
ihre gemeinsamen Kinder zu Erben des Letztversterbenden. Der Sohn sollte dabei zudem „unbedingt“ ein
bestimmtes Grundstück erhalten. Nach dem Tod des Mannes stritten die Kinder darüber, ob ihre Mutter
lediglich Vorerbin oder Vollerbin war. Der Sohn befürchtete, dass die Mutter das Grundstück
unentgeltlich auf den Sohn seiner Schwester übertragen wollte, und argumentierte daher, dass sie als
Vorerbin dazu nicht berechtigt sei.
Das KG ging zunächst davon aus, dass die Ehefrau lediglich befreite Vorerbin war. Es stellte klar,
dass der Wortlaut hier zwar eher für eine Vollerbschaft spricht – stellte aber gleichsam klar, dass es sich bei der Auslegung des Testaments auch bei einer ihrem Wortlaut nach scheinbar eindeutigen
Willenserklärung an den Wortlaut nicht gebunden sieht. Denn hier hat sich aus den Umständen heraus
ergeben, dass der Erklärende mit seinen Worten einen anderen Sinn verbunden hatte, als es dem
allgemeinen Sprachgebrauch entspricht.
Nach der Beweisaufnahme befand das KG abschließend, dass es der Wille des Ehepaars gewesen
war, dass der als Alleinerbe eingesetzte überlebende Ehepartner in seiner Verfügungsbefugnis über das
Grundstück weitgehend unbeschränkt sein sollte, soweit es um die eigene finanzielle Absicherung der
zukünftigen Lebensgestaltung geht. Mit dem Testament sollte jedoch zugleich der Zweck erreicht werden,
dass der Sohn das Grundeigentum am gesamten Grundstück erhalten sollte, weil er auf dem Grundstück
seinen Lebensmittelpunkt und die Schwester unstrittig kein Interesse an dem Grundstück hatte. Das
Grundstück sollte innerhalb der Familie an den Sohn weitergegeben werden, sofern der überlebende
Ehepartner nicht aus Gründen der Beschaffung finanzieller Mittel das Grundstück veräußern wolle.
Hinweis: Bei handschriftlichen Testamenten kann die Ermittlung des wahren Erblasserwillens häufig
schwierig sein. Selbst scheinbar klare Formulierungen können aus juristischer Sicht anderes bedeuten, als der Erblasser beabsichtigt hat. Daher empfiehlt es sich entweder, fachkundigen Rat einzuholen und/oder die Beweggründe für eine Entscheidung im Testament mit aufzunehmen.

KG, Beschl. v. 16.11.2018 – 6 W 54/18

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