LSG Hessen, 23.08.2013 – L 5 R 359/12

März 3, 2019

LSG Hessen, 23.08.2013 – L 5 R 359/12
Leitsatz

1. Die Beurteilung der Rechtswidrigkeit eines Verwaltungsaktes im Rahmen von § 44 SGB X erfordert eine rückschauende Betrachtung der zum Zeitpunkt des Erlasses geltenden Sach- und Rechtslage aus heutiger – d. h. zum Zeitpunkt der Überprüfung geltender – Sicht (sog. geläuterte Rechtsauffassung).

2. Die fehlende Umsetzung gefestigter höchstrichterlicher Rechtsprechung kann bei bestehendem konkreten Anlass die Pflicht des Leistungsträgers zur Spontanberatung aufgrund „vorangegangenen Tuns“ begründen.

3. Die Anwendung des § 44 SGB X schließt die Herleitung weitergehender Rechtsfolgen auf der Grundlage des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs aus. Insbesondere steht die Fingierung eines früheren Überprüfungsantrags im Rahmen von § 44 Abs. 4 SGB X über den sozialrechtlichen Herstellungsanspruch nicht im Einklang mit dem Gesetz.
Tenor:

I. Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Fulda vom 16. August 2012 wird zurückgewiesen.

II. Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
1

Die Beteiligten streiten im Rahmen eines Überprüfungsverfahrens nach § 44 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) um die Nachzahlung einer neu berechneten Rente wegen Erwerbsunfähigkeit auch für die Zeit vom 1. April 1994 bis 31. Dezember 2000.
2

Die Beklagte bewilligte der 1946 geborenen Klägerin auf deren Antrag vom 21. November 1983 ausgehend von einem nach medizinischen Ermittlungen festgestellten halbschichtigen Leistungsvermögen durch Bescheid vom 4. Juni 1985 eine befristete Rente wegen Erwerbsunfähigkeit als Arbeitsmarktrente für die Zeit vom 22. Mai 1984 bis 30. November 1986. Veranlasst durch entsprechende Weiterzahlungsanträge der Klägerin wurde diese Rente jeweils über den im vorherigen Rentenbescheid festgestellten Wegfallzeitpunkt hinaus
3

– durch Bescheid vom 5. März 1987 bis zum 30. November 1990
– durch Bescheid vom 11. April 1991 bis zum 31. März 1994
– durch Bescheid vom 23. Dezember 1994 bis zum 31. März 1997
– durch Bescheid vom 21. Oktober 1997 bis zum 31. März 2000 und
– durch Bescheid vom 28. Juni 2000 bis zum 31. März 2003
weitergewährt.
4

Für die Zeit ab 1. Juli 1997 wurde die Erwerbsunfähigkeitsrente durch den Rentenanpassungsbescheid vom 22. Oktober 1997 neu berechnet.
5

Auf den Widerspruch der Klägerin gegen den Weitergewährungsbescheid vom 28. Juni 2000 änderte die Beklagte diesen Bescheid ab und bewilligte der Klägerin durch Bescheid vom 22. Dezember 2000 nunmehr eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit über den 31. März 2000 hinaus auf Dauer. Diese Dauerrente wurde wegen des Wegfalls des Beitragszuschlags zur Pflegeversicherung für die Zeit ab 1. November 2007 neu berechnet (Bescheid vom 2. November 2007).
6

Auf den Antrag der Klägerin vom 30. Oktober 2007 bewilligte die Beklagte ihr durch Bescheid vom 20. November 2007 anstelle der bisherigen Erwerbsunfähigkeitsrente eine Altersrente für schwerbehinderte Menschen beginnend ab 1. Oktober 2007. Im Rahmen des sich an diesen Bescheid anschließenden Widerspruchsverfahrens verlegte die Beklagte den Beginn der bewilligten Altersrente für schwerbehinderte Menschen unter Berücksichtigung eines Beratungsfehlers im Rahmen des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs auf den 1. November 2006 vor (Abhilfebescheid vom 22. August 2008).
7

Mit Schreiben vom 11. September 2009 wandte sich die Klägerin an die Beklagte und bat um Neuberechnung ihrer „Erwerbsminderungsrente auf Zeit“ unter Berücksichtigung des Urteils des Bundessozialgerichts vom 24. Oktober 1996 (AZ: 4 RA 31/96).
8

Die Beklagte stellte daraufhin durch Bescheid vom 16. Februar 2010 die der Klägerin gewährte Rente wegen Erwerbsunfähigkeit für die Zeit vom 1. April 1994 bis zum 31. März 1997 neu fest. Im Bescheid wurde ein Nachzahlungsbetrag in Höhe von 25.893,87 DM (13.239,33 €) ausgewiesen, welcher jedoch nicht zur Auszahlung kam.
9

Durch Bescheid vom 28. Februar 2010 stellte die Beklagte die der Klägerin bewilligte Rente wegen Erwerbsunfähigkeit für die Zeit vom 1. April 1997 bis 31. März 2000 neu fest und ermittelte insoweit einen Nachzahlungsbetrag von 27.032,28 DM (13.821,39 €). Auch dieser Betrag wurde nicht ausgezahlt.
10

Letztlich stellte die Beklagte die Erwerbsunfähigkeitsrente für die Zeit ab 1. April 2000 durch Bescheid vom 23. März 2010 neu fest und gab an, dass diese neu festgestellte Rente am 1. Januar 2005 beginne und mit dem 31. Oktober 2006 (Beginn der Altersrente) ende. Für die Zeit vom 1. Januar 2005 bis 31. Oktober 2006 stellte die Beklagte einen Nachzahlungsbetrag von 10.718,60 € fest, welcher den Angaben der Klägerin zufolge ausgezahlt wurde.
11

Die Neufeststellungsbescheide ergingen jeweils unter Verweis auf die Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 24. Oktober 1996 (AZ: 4 RA 31/96).
12

In einem an die Klägerin gerichteten Schreiben vom 31. März 2010 legte die Beklagte die Einzelheiten der im Überprüfungsverfahren vorgenommenen Neuberechnung der Erwerbsunfähigkeitsrente unter Berücksichtigung der geänderten höchstrichterlichen Rechtsprechung dar. Sie wies dabei u. a. darauf hin, dass nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts die Weiterzahlung einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit einen inhaltlich eigenständigen neuen Rentenanspruch darstelle, so dass die Rentenhöhe zu diesem Zeitpunkt neu bestimmt werden müsse. Da die der Klägerin zunächst befristet gewährte Erwerbsunfähigkeitsrente nach Ablauf der Befristung ohne erneute Bestimmung der persönlichen Entgeltpunkte weitergezahlt worden sei, habe man nunmehr im Überprüfungsverfahren die notwendige Neuberechnung vorgenommen. Dabei habe man auch die persönlichen Entgeltpunkte der vorherigen Weiterzahlungen unter Berücksichtigung des insoweit geltenden Besitzschutzes neu ermittelt. Wegen einer zwischenzeitlich eingetretenen Änderung der maßgebenden gesetzlichen Vorschriften wirke sich die Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 24. Oktober 1996 nur auf Rentenweitergewährungen bis zum 30. April 2007 aus. In dieser Zeit sei die Erwerbsunfähigkeitsrente der Klägerin durch die Bescheide vom 23. Dezember 1994 (für die Zeit vom 1. April 1994 bis 31. März 1997), 21. Oktober 1997 (für die Zeit vom 1. April 1997 bis 31. März 2000) und 21. Dezember 2000 (für die Zeit ab 1. April 2000 bis 31. Oktober 2006) weitergezahlt worden. Insoweit habe man eine Neuberechnung der persönlichen Entgeltpunkte vorgenommen. Allerdings könne aufgrund der Neufeststellungsbescheide vom 16. Februar 2010 und 28. Februar 2010 keine Nachzahlung erfolgen, weil für die in diesen Bescheiden festgestellten Anspruchszeiträume vom 1. April 1994 bis 31. März 2000 eine Nachzahlung durch § 44 Abs. 4 SGB X ausgeschlossen werde. Bei dem im Bescheid vom 23. März 2010 angegebenen Rentenbeginn handele es sich um den Zeitpunkt, von dem an unter Berücksichtigung des § 44 Abs. 4 SGB X Nachzahlungsbeträge aus der Neuberechnung zu leisten seien, wobei der Nachzahlungszeitraum ausgehend vom Zeitpunkt des Überprüfungsantrages bestimmt worden sei.
13

Die Klägerin erhob am 30. April 2010 Widerspruch gegen die Bescheide vom 16. Februar 2010, 28. Februar 2010 und 23. März 2010. Zur Begründung machte die Klägerin geltend, sie habe aufgrund eines Beratungsfehlers der Beklagten erst im Jahr 2009 über einen Zeitungsartikel Kenntnis von der Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 24. Oktober 1996 (AZ: 4 RA 31/96) erlangt und deshalb erst zu diesem Zeitpunkt einen Überprüfungsantrag gestellt. Sie müsse daher im Wege des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs so gestellt werden, als ob sie zeitnah nach der Entscheidung des Bundessozialgerichts einen Überprüfungsantrag gestellt hätte. Die (analoge) Anwendung des § 44 Abs. 4 SGB X im Rahmen eines solchen sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs sei – auch in der Rechtsprechung – umstritten.
14

Die Beklagte gelangte in der Folge nach erneuter interner Prüfung des Sachverhalts zu dem Ergebnis, dass das Datum des Überprüfungsantrages auf den 10. August 2005 vorverlegt werden könne, weil die Klägerin an diesem Tag nachweislich in der Auskunfts- und Beratungsstelle der Deutschen Rentenversicherung Hessen in Eschwege beraten worden sei. Zu diesem Zeitpunkt sei bereits klar gewesen, dass der von den Rentenversicherungsträgern zunächst gefasste Beschluss, die Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 24. Oktober 1996 (AZ: 4 RA 31/96) nicht umzusetzen, keinen Bestand haben könne, nachdem das Bundessozialgericht in einer weiteren Entscheidung betreffend die Nichtzulassung der Revision an die im Urteil vom 24. Oktober 1996 vertretene Rechtsauffassung angeknüpft habe (BSG, Beschluss vom 2. Mai 2005 – B 4 RA 212/04 B) und somit eine Änderung der höchstrichterlichen Rechtsprechung in diesem Punkt nicht mehr zu erwarten gewesen sei. Dass diese Rechtsprechung erst ab November 2005 in der Praxis umgesetzt worden sei, könne vorliegend nicht zu Lasten der Versicherten gehen.
15

Dementsprechend verlegte die Beklagte durch unter Verweis auf § 86 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ergangenen Bescheid vom 8. August 2010 den Beginn der neu berechneten Erwerbsunfähigkeitsrente auf den 1. Januar 2001 vor und stellte einen Nachzahlungsbetrag für die Zeit vom 1. Januar 2001 bis 31. Oktober 2006 in Höhe von 23.309,54 € fest.
16

Die Klägerin hielt ihren Widerspruch auch nach dieser Teilabhilfe aufrecht und verwies zur weiteren Begründung auf ein Urteil des Landgerichts Berlin vom 4. Februar 2010, in welchem die fehlende Umsetzung der Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 24. Oktober 1996 (AZ: 4 RA 31/96) als Amtspflichtverletzung gewertet und die Beklagte zum Ersatz des Schadens verurteilt worden war, der dem Versicherten aufgrund der Begrenzung der Nachzahlung durch § 44 Abs. 4 SGB X entstanden ist.
17

Die Beklagte wies die klägerischen Widersprüche gegen die Bescheide vom 16. Februar 2010, 28. Februar 2010 und 23. März 2010 durch Widerspruchsbescheid vom 4. Mai 2011 als unbegründet zurück, soweit ihnen nicht bereits durch den Bescheid vom 8. August 2010 abgeholfen wurde. Im Rahmen der Begründung führte sie aus, dass die in § 44 Abs. 4 SGB X geregelte Begrenzung der Nachzahlung nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung auch dann – zumindest analog – gelte, wenn Leistungen aufgrund eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs rückwirkend verlangt werden können, weil insoweit eine vergleichbare Interessenlage bestehe wie bei der Korrektur eines bindend gewordenen belastenden Verwaltungsaktes. Es könne für den zeitlichen Umfang der rückwirkend zu erbringenden Leistungen keinen Unterschied machen, ob der Leistungsträger eine Leistung durch Verwaltungsakt zu Unrecht versagt hat oder er aus anderen, ihm zuzurechnenden Gründen den Berechtigten nicht in den Leistungsgenuss habe kommen lassen. Unter Berücksichtigung der Ausschlussfrist des § 44 Abs. 4 SGB X komme vorliegend eine Nachzahlung für Zeiten vor dem 1. Januar 2001 nicht in Betracht.
18

Mit ihrer daraufhin am 3. Juni 2011 bei dem Sozialgericht Fulda erhobenen Klage begehrte die Klägerin weiterhin die sich aus der Neuberechnung der gewährten Erwerbsunfähigkeitsrente unter Berücksichtigung der Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 24. Oktober 1996 (AZ: 4 RA 31/96) ergebende Nachzahlung für die Zeit vom 1. April 1994 bis 31. Dezember 2000. Zur Begründung machte sie u. a. geltend, die Nachzahlung stehe ihr wegen eines Beratungsfehlers der Beklagten zu. Aufgrund eines solchen von der Beklagten anerkannten Beratungsfehlers sei letztlich bereits der Beginn für die im Überprüfungsverfahren neu berechnete Rente durch den Abhilfebescheid vom 8. August 2010 auf den 1. Januar 2001 vorverlagert und eine Nachzahlung auch für die Zeit vom 1. Januar 2001 bis 31. Dezember 2004 gewährt worden. Allerdings sei die Beklagte verpflichtet gewesen, sie bereits zuvor – insbesondere anlässlich einer am 13. März 1997 erfolgten telefonischen Beratung – auf die mögliche Überprüfung des Rentenbescheides aus dem Jahr 1994 vor dem Hintergrund der genannten höchstrichterlichen Entscheidung hinzuweisen. Die Klägerin behauptete in diesem Zusammenhang, am 13. März 1997 im Zusammenhang mit dem Antrag auf Weitergewährung der Erwerbsunfähigkeitsrente über den 31. März 1997 hinaus ein Telefonat mit einem Sachbearbeiter der Beklagten geführt zu haben. Auch im Rahmen der Folgetelefonate mit der Beklagten vom 20. Januar 1998, 24. November 1999 und 25. Juli 2000 sei ein solcher Hinweis nicht erfolgt. Spätestens im Rahmen des Widerspruchsverfahrens in Bezug auf den Rentenbescheid vom 28. Juni 2000, in welchem um die Dauerrentengewährung gestritten worden sei, habe eine entsprechende Beratungspflicht der Beklagten bestanden. Ausgehend von einer Beratungspflichtverletzung im Jahr 1997 erstrecke sich der 4-Jahreszeitraum auch auf Zeiträume ab dem 1. April 1994. Darüber hinaus verkenne die Beklagte, dass § 44 Abs. 4 SGB X nur Ansprüche erfasse, die nicht auf ein Verschulden des Sozialversicherungsträgers zurückzuführen seien. Die somit allenfalls in Analogie mögliche Anwendung des § 44 Abs. 4 SGB X auf den verschuldensabhängigen sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs sei hingegen fraglich. Allerdings sei eine analoge Anwendung des § 44 Abs. 4 SGB X vorliegend lediglich nachrangig zu prüfen, da nach ihrer Auffassung die Beklagte bereits 1997 eine Beratung über rechtswahrende Akte schuldhaft unterlassen habe, so dass die begehrte Nachzahlung auch bei Anwendung des § 44 Abs. 4 SGB X zu leisten seien. Zum Beleg legte die Klägerin eine handschriftliche Liste über erfolgte telefonische und persönliche Kontakte mit der Beklagten in der Zeit seit 1997 vor.
19

Die Beklagte vertrat hingegen die Auffassung, dass eine Beratungspflichtverletzung im Jahr 1997 nicht nachgewiesen sei. Im Allgemeinen bestimme sich der Umfang der Beratungspflicht nach dem Inhalt des Beratungsersuchens. Unabhängig von einem konkreten Beratungsersuchen bestehe die Pflicht des Leistungsträgers, auf naheliegende Gestaltungsmöglichkeiten hinzuweisen, durch deren Wahrnehmung der Versicherte einen Vorteil erlangen oder Nachteile vermeiden könne. Eine solche naheliegende Gestaltungsmöglichkeit könne jedoch nur angenommen werden, wenn sie eindeutig erkennbar und offenkundig zweckmäßig sei. Maßgebend für den Umfang der Beratungspflicht sei dabei die zu diesem Zeitpunkt geltende Sach- und Rechtslage. Im zeitlichen Zusammenhang mit der Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 24. Oktober 1996 (AZ: 4 RA 31/96) habe die Vorgehensweise des Rentenversicherungsträgers noch nicht festgestanden, so dass konkrete Auskünfte insoweit nicht möglich gewesen seien.
20

Das Sozialgericht hat die Klage nach vorheriger Anhörung der Beteiligten durch Gerichtsbescheid vom 16. August 2012 unter weitgehender Bezugnahme auf die Ausführungen der Beklagten im angefochtenen Widerspruchsbescheid abgewiesen. Ergänzend hat das Sozialgericht im Rahmen seiner Begründung ausgeführt, dass § 44 Abs. 4 SGB X eine materiell-rechtliche Anspruchsbeschränkung darstelle, die auch dann Anwendung finde, wenn eine Leistung aufgrund eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs rückwirkend verlangt werden könne. In diesen Fällen gelte § 44 Abs. 4 SGB X analog.
21

Die Klägerin hat gegen den ihr am 20. August 2012 zugestellten Gerichtsbescheid des Sozialgerichts am 18. September 2012 Berufung eingelegt, mit der sie ihr Begehren auf Auszahlung des im Bescheid vom 16. Februar 2010 ausgewiesenen Nachzahlungsbetrages in Höhe von 13.239,33 € für den Zeitraum vom 1. April 1994 bis 31. März 1997, des im Bescheid vom 28. Februar 2010 für den Zeitraum vom 1. April 1997 bis 31. März 2000 ausgewiesenen Nachzahlungsbetrages in Höhe von 13.821,39 € sowie die noch zu beziffernde Nachzahlung für den Zeitraum vom 1. April 2000 bis 31. Dezember 2000 aufgrund des Bescheides vom 23. März 2010 weiterverfolgt. Zur Begründung beruft sich die Klägerin im Wesentlichen auf ihr Vorbringen in erster Instanz. Ergänzend trägt sie vor, die Verweigerung der Nachzahlung stelle für sie eine unbillige Härte dar, weil sie trotz regelmäßiger Beratungstermine nicht zeitnah auf die Möglichkeit der Neuberechnung der Erwerbsunfähigkeitsrente unter Berücksichtigung der Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 24. Oktober 1996 hingewiesen worden sei. Angesichts dessen mute es geradezu zynisch an, ihr einerseits die errechnete Nachzahlungssumme mitzuteilen, deren Auszahlung andererseits aber zu verweigern. Dies gelte umso mehr, als im umgekehrten Fall der Beklagten ein 10-jähriges Rückforderungsrecht bezüglich überzahlter Rentenleistungen zustehe. Es sei nach dem Gleichheitsgrundsatz nicht nachvollziehbar, warum ein Versicherter hier anders (schlechter) behandelt werde, als im umgekehrten Fall der Sozialleistungsträger. Die Klägerin hat in einem am 19. Dezember 2012 durchgeführten Erörterungstermin vor dem Landessozialgericht angegeben, dass sie im jährlichen Abstand – auch wegen der Rentenhöhe – durch die Beklagte beraten worden sei. Zum Nachweis legt sie Kopien über die in ihrem privaten Kalender vermerkten Beratungstermine vor.
22

Die Klägerin beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Fulda vom 16. August 2012 aufzuheben und die Beklagte unter teilweiser Rücknahme der Bescheide vom 16. Februar 2010, 28. Februar 2010 und 23. März 2010 in der Fassung des Bescheides vom 8. August 2010 und in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 4. Mai 2011 zu verpflichten, die Rentenbewilligungsbescheide vom 23. Dezember 1994, 21. Oktober 1997 und 28. Juni 2000 – letzterer in der Fassung durch den Bescheid vom 22. Dezember 2000 – teilweise zurückzunehmen und ihr die sich aus der Neuberechnung der ab 22. Mai 1985 gezahlten Erwerbsunfähigkeitsrente durch die Bescheide vom 16. Februar 2010, 28. Februar 2010 und 23. März 2010 ergebenden Nachzahlungsbeträge auch für die Zeit vom 1. April 1994 bis 31. Dezember 2000 auszuzahlen.

23

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

24

Sie sieht sich in ihrer (Rechts-)Auffassung durch die angefochtene Entscheidung des Sozialgerichts bestätigt. Ergänzend trägt die Beklagte vor, es sei erst mit der zweiten Entscheidung des Bundessozialgerichts zur Problematik der Weiterzahlung befristeter Erwerbsminderungsrenten vom 2. Mai 2005 (AZ: B 4 RA 212/04 B) klar gewesen, dass die dem vorausgehende Entscheidung vom 24. Oktober 1996 (AZ: 4 RA 31/96) umgesetzt werden müsse, weil eine Änderung der höchstrichterlichen Rechtsprechung zu diesem Punkte im Sinne der von der Beklagten vertretenen Rechtsauffassung nicht mehr zu erwarten war. Hinsichtlich des mit der Berufung geltend gemachten Verstoßes gegen den Gleichheitsgrundsatz werde auf die bestehenden Unterschiede zwischen der Erbringung von Nachzahlungen einerseits und der Geltendmachung von Rückforderungen gegen die Versicherten andererseits verwiesen. Im Übrigen seien bezüglich der von der Klägerin behaupteten Beratungstermine keine Unterlagen mehr vorhanden.
25

Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten sowie zur Ergänzung des Sach- und Streitstandes im Übrigen wird Bezug genommen auf die gewechselten Schriftsätze sowie den Inhalt der die Klägerin betreffenden Renten- und Gerichtsakten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.
Entscheidungsgründe
26

Die Berufung ist zulässig. Sie ist insbesondere form- und fristgerecht eingelegt sowie statthaft (§ 151 Abs. 1 und §§ 143, 144 SGG).
27

Die Berufung ist jedoch unbegründet. Die angegriffene Entscheidung des Sozialgerichts Fulda vom 16. August 2012 ist im Ergebnis rechtlich nicht zu beanstanden.
28

Die Klägerin hat gegen die Beklagte keinen Anspruch auf Nachzahlung der durch die Bescheide vom 16. Februar 2010, 28. Februar 2010 und 23. März 2010 unter teilweise Aufhebung der bestandskräftigen Rentenbewilligungsbescheide vom 23. Dezember 1994, 21. Oktober 1997 und 28. Juni 2000 – letzterer in der Fassung durch den Bescheid vom 22. Dezember 2000 – neu berechneten Rente wegen Erwerbsunfähigkeit auch für die Zeit vom 1. April 1994 bis 31. Dezember 2000. Soweit dies durch die Bescheide vom 16. Februar 2010, 28. Februar 2010 und 23. März 2010 in der Fassung durch den Änderungsbescheid vom 8. August 2010 (§ 86 SGG) und in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 4. Mai 2011 (§ 95 SGG) abgelehnt wird, ist dies rechtlich nicht zu beanstanden. Die Klägerin wird hierdurch nicht im Sinne von § 54 Abs. 2 SGG beschwert.
29

Statthaft für das von der Klägerin verfolgte Überprüfungsbegehren ist die kombinierte Anfechtungs-, Verpflichtungs- und Leistungsklage gemäß §§ 54 Abs. 1 und 4 i. V. m. 56 SGG (vgl. BSG, Urteil vom 19. April 2011 – B 13 R 8/11 R m.w.N.).
30

Die Bescheide der Beklagten vom 23. Dezember 1994, 21. Oktober 1997 und 28. Juni 2000 – letzterer in der Fassung des Bescheides vom 22. Dezember 2000 –, mit denen die Beklagte der Klägerin die durch Bescheid vom 4. Juni 1985 bewilligte Rente wegen Erwerbsunfähigkeit auf Zeit bis zum 31. März 2003 befristet und ab 1. April 2003 auf Dauer weitergewährt hat, sind spätestens in dem Zeitpunkt für die Beteiligten bindend geworden (§ 77 SGG), in dem die einmonatige Widerspruchsfrist (§ 84 SGG) gegen die genannten Bescheide abgelaufen war. Unter welchen gesetzlichen Voraussetzungen ein nach Maßgabe von § 77 SGG in der Sache bindend gewordener Verwaltungsakt aufgehoben werden kann, ist in den Vorschriften der §§ 44 ff. SGB X geregelt. Vorliegend kommt allein eine – teilweise – Rücknahme der bestandskräftigen Rentenweitergewährungsbescheide auf der Grundlage von § 44 SGB X in Betracht.
31

Gemäß § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei seinem Erlass das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind. Ist ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen worden, werden Sozialleistungen nach den Vorschriften der besonderen Teile dieses Gesetzbuches längstens für einen Zeitraum bis zu 4 Jahren vor der Rücknahme erbracht (§ 44 Abs. 4 Satz 1 SGB X).
32

Die Voraussetzungen des § 44 Abs. 1 SGB X sind vorliegend zwar grundsätzlich erfüllt.
33

Denn die Beklagte hat bei Erlass der bezogen auf den streitgegenständlichen Zeitraum (1. April 1994 bis 31. Dezember 2000) ergangenen und bestandskräftig gewordenen Rentenweitergewährungsbescheide vom 23. Dezember 1994, 21. Oktober 1997 und 28. Juni 2000 aufgrund einer unzutreffenden Auslegung der seinerzeit für die Befristung von Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit geltenden gesetzlichen Bestimmungen die der Klägerin bewilligte Erwerbsunfähigkeitsrente auf Zeit fehlerhaft berechnet und somit das Recht unrichtig angewandt. Aufgrund dieser fehlerhaften Rechtsanwendung ist der Klägerin eine geringere Rente ausgezahlt worden. Allerdings können die seinerzeit zu Unrecht nicht erbrachten Rentenleistungen aufgrund der Regelung des § 44 Abs. 4 SGB X nicht für den von der Klägerin vorliegend geltend gemachten Zeitraum gezahlt werden.
34

Die Weiterzahlung von befristeten Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit beurteilt sich nach § 102 SGB VI. Die Vorschrift wurde durch Art. 1 des Gesetzes zur Reform der gesetzlichen Rentenversicherung vom 18. Dezember 1989 (BGBl. I, S. 2261) eingeführt und gilt aufgrund des durch § 300 Abs. 1 SGB VI angeordneten Rentenbeginnprinzips grundsätzlich auch für eine über § 302b SGB VI noch nach altem Recht zu gewährende Rente wegen Berufs- bzw. Erwerbsunfähigkeit (vgl. dazu Senatsentscheidung vom 14. Dezember 2012 – L 5 R 361/10). Maßgebend ist vorliegend allerdings noch die bis zum 31. Dezember 2000 geltende Fassung des § 102 SGB VI durch das Rentenreformgesetz 1999 vom 16. Dezember 1997 (BGBl. I, S. 2998), während die mit Wirkung zum 1. Januar 2001 im Zuge der Neuordnung des Rechts der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vorgenommenen Änderungen aufgrund der Übergangsregelung des § 314b SGB VI keine Anwendung finden. Denn nach § 314b SGB VI verbleibt es für Renten wegen Berufs- bzw. Erwerbsunfähigkeit, auf die am 31. Dezember 2000 ein Anspruch bestand und die in Abhängigkeit von der Arbeitsmarktlage befristet geleistet werden, bei der bis zum 31. Dezember 2000 geltenden Rechtslage, d. h. in diesen Fällen gilt § 102 Abs. 2 in der bis zum 31. Dezember 2000 maßgebenden Fassung (im Folgenden § 102 SGB VI a. F.). Die Voraussetzungen des § 314b SGB VI sind vorliegend erfüllt, weil die der Klägerin durch Bescheid vom 4. Juni 1985 bewilligte und durch die nachfolgenden Bescheide vom 5. März 1987, 11. April 1991, 23. Dezember 1994, 21. Oktober 1997 und 28. Juni 2000 über den jeweiligen Wegfallzeitpunkt hinaus weitergezahlte Erwerbsunfähigkeitsrente auf Zeit nicht ausschließlich aufgrund des Gesundheitszustands der Klägerin, sondern wegen einer Verschlossenheit des Teilzeitarbeitsmarktes bei bestehendem halbschichtigen Leistungsvermögen gewährt wurde.
35

Nach dieser vorliegend noch maßgebenden (alten) Fassung des § 102 Abs. 2 SGB VI waren Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit auf Zeit zu leisten, wenn die begründete Aussicht bestand, dass die Minderung der Erwerbsfähigkeit in absehbarer Zeit behoben werden kann, oder der Anspruch auch von der jeweiligen Arbeitsmarktlage abhängig war (Satz 1). Die Befristung erfolgte für längstens 3 Jahre nach Rentenbeginn (Satz 3) und konnte wiederholt werden (Satz 4). § 102 Abs. 2 SGB VI a. F. wurde seinerzeit von den Rentenversicherungsträgern und somit auch von der Beklagten im vorliegenden Fall dahingehend ausgelegt, dass es sich bei der Weitergewährung einer befristeten Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit bzw. wegen Erwerbsunfähigkeit lediglich um eine Verlängerung der bisherigen Rente handelt, so dass bei der Entscheidung über die Weiterzahlung keine Neuberechnung der persönlichen Entgeltpunkte vorgenommen wurde.
36

Diese Auslegung entsprach jedoch nicht der höchstrichterlichen Rechtsprechung. Das Bundessozialgericht hat in seiner Entscheidung vom 24. Oktober 1996 (AZ: 4 RA 31/96), welche zu den inhaltsgleichen Vorgängervorschriften des § 102 SGB VI– dem § 53 Angestelltenversicherungsgesetz (AVG) und § 1276 Reichsversicherungsordnung (RVO) – ergangen ist, die Auffassung vertreten, dass die Weitergewährung einer Rente im Anschluss an eine befristete Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit eine „eigenständige und voll inhaltlich erneute (wiederholte) Bewilligung der beantragten Rente“ und somit einen neuen Rentenanspruch darstellt, bei dem „zukunftsgerichtet über die sog. „Weiter“-Gewährung einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit zu entscheiden“ ist. Dies gilt nach Auffassung des Bundessozialgerichts entsprechend für § 102 SGB VI. Dies hat zur Folge, dass bei der Entscheidung über die Weitergewährung einer befristeten Erwerbsminderungsrente nicht nur die einzelnen anspruchsbegründenden Elemente erneut geprüft, sondern dass die Rente auch auf der Grundlage des im Weitergewährungszeitraum maßgebenden Rechts neu zu berechnen ist. Von dieser Rechtsprechung des Bundessozialgerichts ausgehend hat die Beklagte beim Erlass der Bescheide vom 23. Dezember 1994, 21. Oktober 1997, 28. Juni 2000 und Bescheid vom 22. Dezember 2000 – ausgehend von der von ihr vertretenen Auslegung des § 102 SGB VI a. F. – dass Recht „unrichtig angewandt“, weil sie im Rahmen der Weitergewährung der Erwerbsunfähigkeitsrente keine Neuberechnung persönliche Entgeltpunkte vorgenommen hat.
37

Dem steht nicht entgegen, dass das genannte Urteil des Bundessozialgerichts zum Zeitpunkt der Entscheidung der Beklagten über die Weitergewährung der Erwerbsunfähigkeitsrente über den 31. März 1994 hinaus (durch Bescheid vom 23. Dezember 1994) noch nicht ergangen war. Zwar setzt § 44 SGB X grundsätzlich voraus, dass der Bescheid bereits „bei Erlass“ – d. h. anfänglich – rechtswidrig war. Tritt die Rechtswidrigkeit erst nach dem Erlass des Verwaltungsaktes ein, handelt es sich um einen von § 48 SGB X umfassten Fall der nachträglichen Rechtswidrigkeit und zwar grundsätzlich auch dann, wenn die zur Rechtswidrigkeit führende Änderung auf den Zeitpunkt des Bescheiderlasses zurückwirkt (vgl. BSG vom 6. November 1985 – 10 RKg 3/84 = BSGE 59, 111 = SozR 1300 § 48 Nr. 19). Allerdings kommt es für die Beurteilung der Rechtswidrigkeit eines Verwaltungsaktes im Sinne des § 44 SGB X nicht auf den Stand der Erkenntnis bei seinem Erlass, sondern im Rahmen einer rückschauenden Betrachtungsweise auf die zum Zeitpunkt des Erlasses geltende Sach- und Rechtslage aus heutiger Sicht – d. h. zum Zeitpunkt der Überprüfung – im Sinne einer sog. geläuterten Rechtsauffassung an (BSG vom 2. Februar 2006 – B 10 EG 9/05 R – BSGE 96, 44; BSG vom 26. Januar 1988 – 2 RU 5/87 = BSGE 63, 18, 23; BSG vom 25. Oktober 1984 – 11 RAz 3/08 – BSGE 57, 209 [BSG 25.10.1984 – 11 RAz 3/83]). Denn bereits der Wortlaut des § 44 SGB X stellt nicht darauf ab, dass der Verwaltungsakt bei seinem Erlass rechtswidrig war, sondern dass sich die unrichtige Anwendung des Rechts bei Erlass des Verwaltungsaktes (nachträglich) „ergibt“ bzw. sich der dem Verwaltungsakt zugrunde liegende Sachverhalt (nachträglich) als unrichtig „erweist“ (Schütze in: von Wulffen, SGB X, 7. Aufl., § 44 Rdnr. 10).
38

Diese Grundsätze gelten auch für die nachträgliche Änderung der Auslegung einer gesetzlichen Vorschrift durch die höchstrichterliche Rechtsprechung (Schütze in: von Wulffen, SGB X, 7. Aufl., § 44 Rdnr. 11). Ein Verwaltungsakt ist daher grundsätzlich auch bei einer Rechtsprechungsänderung anfänglich rechtswidrig im Sinne des § 44 SGB X und somit mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen und zwar selbst dann, wenn er bei seinem Erlass noch der seinerzeit geltenden höchstrichterlichen Rechtsprechung entsprochen hat (BSG vom 25. Oktober 1984 – 11 RAz 3/83 – BSGE 57, 209 = SozR 1300 § 44 Nr. 13). Dem steht auch die Regelung des § 48 Abs. 2 SGB X nicht entgegen, wonach ein Verwaltungsakt im Einzelfall mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben ist, wenn der zuständige oberste Gerichtshof des Bundes in ständiger Rechtsprechung nachträglich das Recht anders auslegt als die Behörde bei Erlass des Verwaltungsaktes und sich dieses zugunsten des Berechtigten auswirkt. Denn § 48 Abs. 2 SGB X schränkt den Anwendungsbereich des § 44 SGB X nicht ein, wie sich bereits aus dem in § 48 Abs. 2 Halbsatz 2 SGB X geregelten Zusatz eindeutig ergibt (vgl. dazu BSG vom 25. Oktober 1984 – BSGE 57, 209, 211 [BSG 25.10.1984 – 11 RAz 3/83] = SozR 1300 § 44 Nr. 13; BSG vom 21. März 1996 – 11 Rar 101/94– BSGE 78, 109 = SozR 3-1300 § 48 Nr. 48). Ein eigenständiger Anwendungsfall des § 48 Abs. 2 SGB X, welcher lediglich eine Änderung mit Wirkung für die Zukunft erlaubt, wird lediglich in den Fällen angenommen, in denen mit der geänderten Rechtsprechung gewandelten sozialen, wirtschaftlichen oder rechtlichen Umständen Rechnung getragen werden soll, wie z. B. bei der Änderung der rentenversicherungsrechtlichen Rechtsprechung zur Verschlossenheit des Arbeitsmarktes (BSG vom 30. Januar 1985 – 1 RJ 2/84 – BSGE 58, 28, 33 = SozR 1300 § 44 Nr. 16; kritisch dazu: BSG vom 21. März 1996 – 11 RAr 101/94– BSGE 78, 109 = SozR 3-1300 § 48 Nr. 48). Diese ggf. den Vorrang des § 48 Abs. 2 SGB X begründenden Voraussetzungen sind vorliegend nicht gegeben.
39

Demzufolge ist es im vorliegenden Fall unerheblich, dass zumindest bei Erlass des Weitergewährungsbescheides vom 23. Dezember 1994 die höchstrichterlich vertretene Auffassung zur Auslegung des § 102 SGB VI noch nicht bekannt und die Beklagte daher seinerzeit noch auf dem Boden geltenden Rechts entschieden hat, weil jedenfalls nach geläuterter Rechtsauffassung zum Zeitpunkt der Überprüfung eine anfängliche Rechtswidrigkeit zu bejahen ist. Auf ein Verschulden der Beklagten kommt es nicht an, weil allein die objektive Veränderung der für die Beurteilung des Verwaltungsaktes einschlägigen Rechtsprechung maßgebend für dessen „Unrichtigkeit“ ist (Waschull in: LPK-SGB X, § 44 Rdnr. 27).
40

Dem kann seitens der Beklagten auch nicht entgegen gehalten werden, dass es sich bei der Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 24. Oktober 1996 (AZ: 4 RA 31/96) um eine Einzelfallentscheidung und noch nicht um eine gefestigte bzw. ständige Rechtsprechung gehandelt hat. Eine entsprechende Einschränkung dahingehend, dass eine Rechtsprechungsänderung nur dann im Rahmen von § 44 SGB X von Bedeutung ist, wenn es sich um eine „ständige“ Rechtsprechung handelt, kann dem Wortlaut der Vorschrift nicht entnommen werden, zumal § 48 Abs. 2 SGB X ausdrücklich auf das Erfordernis der ständigen Rechtsprechung abstellt, § 44 SGB X hingegen nicht. Ob eine entsprechende einschränkende Auslegung des § 44 SGB X vor dem Hintergrund der mit Wirkung zum 1. Mai 2007 durch das Rentenversicherungs-Altersgrenzenanpassungs-gesetz vom 20. April 2007 (BGBl. I, 554) eingefügten Vorschrift des § 100 Abs. 4 SGB VI geboten ist, kann vorliegend dahinstehen. § 100 Abs. 4 SGB VI regelt in Abweichung zu § 44 SGB X den Beginn der Rente, wenn die Rücknahme eines Bescheides darauf zurückzuführen ist, dass die Rechtsnorm, auf der der zurückzunehmende Bescheid beruht, u. a. in ständiger Rechtsprechung anders als durch den Rentenversicherungsträger ausgelegt worden ist. Die Vorschrift kommt erst dann zur Anwendung, wenn die Voraussetzungen des § 44 SGB X erfüllt sind, woraus wiederum geschlossen werden könnte, dass auch im Rahmen von § 44 SGB X nur Rechtsprechungsänderungen von Bedeutung sind, die einer „ständigen“ Rechtsprechung entsprechen. Ob die erst mit Wirkung zum 1. Mai 2007 eingeführte Vorschrift des § 100 Abs. 4 SGB VI für die Auslegung des § 44 SGB X im vorliegenden Fall – d. h. für einen vor dem Inkrafttreten der Änderung maßgebenden Zeitraum – von Bedeutung ist, muss vom Senat nicht abschließend entschieden werden, weil letztlich die hier relevante Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 24. Oktober 1996 (AZ: 4 RA 31/96) die Voraussetzungen für eine ständige bzw. gefestigte Rechtsprechung erfüllt. Eine „ständige“ Rechtsprechung liegt im sozialversicherungsrechtlichen Bereich vor, wenn der Große Senat des Bundessozialgerichts, mehrere zuständige Senate des Bundessozialgerichts übereinstimmend oder ein allein zuständiger Fachsenat des Bundessozialgerichts die betreffende Rechtsfrage entschieden haben (BSG vom 23. März 1995 – 11 Rar 71/94– SozR 3-4100 § 152 Nr. 5 und BSG vom 29. Juni 2000 – B 11 AL 99/99 R– SozR 3-4100 § 152 Nr. 10 jeweils m. w. N.). Eine „ständige Rechtsprechung“ kann allerdings auch dann entstehen, wenn das Bundessozialgericht als Revisionsgericht in nur einer Entscheidung eine Rechtsfrage in einem bestimmten Sinne beantwortet hat und die Rechtsfrage damit „hinreichend geklärt“ ist (BSG vom 29. Juni 2000 – B 11 AL 99/99 R– SozR 3-4100 § 152 Nr. 10; BSG vom 21. Juni 2011 – B 4 AS 118/10 R– BSGE 108, 268 = SozR 4-4200 § 40 Nr. 3). Maßgebend für die Annahme einer „ständigen“ oder gefestigten Rechtsprechung ist in diesen Fallkonstellationen nicht die Zahl vorliegender Entscheidungen, sondern der Gesichtspunkt ihrer Akzeptanz (BSG a. a. O.). Daher kann eine ständige Rechtsprechung auch dann angenommen werden, wenn zwar nur eine Entscheidung des obersten Bundesgerichts ergangen ist, diese aber durch die Instanzgerichte, das Schrifttum oder auch die betroffenen Versicherungsträger überwiegend umgesetzt und akzeptiert wird (in diesem Sinne BSG vom 29. Juni 2000 – B 11 AL 99/99 R– SozR 3-4100 § 152 Nr. 10).
41

Von diesem Maßstab ausgehend ist die Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 24. Oktober 1996 (AZ: 4 RA 31/96), welche vorliegend zur Rechtswidrigkeit der bestandskräftigen Weitergewährungsbescheide vom 23. Dezember 1994, 21. Oktober 1997 und 28. Juni 2000 (in der Fassung durch den Bescheid vom 22. Dezember 2000) führt, als gefestigte bzw. ständige Rechtsprechung anzusehen. Zum einen handelt es sich gerade nicht um eine höchstrichterliche Einzelfallentscheidung, denn das Urteil des 4. Senats des Bundessozialgerichts vom 24. Oktober 1996 (AZ: 4 RA 31/96) knüpft inhaltlich an zuvor ergangene Entscheidungen anderer Senate des Bundessozialgerichts an, in denen bereits die in der Entscheidung vom 24. Oktober 1996 vertretene Auffassung zur Rechtsnatur des Anspruchs auf Weitergewährung einer befristeten Erwerbsminderungsrente – wenn auch nicht mit dieser Deutlichkeit und in den tragenden Gründen – vertreten worden ist. Unter anderem hatte der 11. Senat des Bundessozialgerichts bereits in einer Entscheidung vom 17. März 1983 (AZ: 11 RA 24/82) ausgeführt, dass es sich bei der Rente auf Dauer um eine andere, sich an die frühere (befristete) Rente nur zeitlich anschließende Leistung handelt, für die § 53 AVG keine Fortgeltung der früheren Rentengewährung vorschreibt. In einer weiteren Entscheidung vom 29. November 1990 (AZ: 5/4a RJ 41/87) hat das Bundessozialgericht ausgeführt, „der dem Weitergewährungsantrag stattgebende Bescheid, kraft dessen dem Versicherten auch nach Ablauf des Zeitraumes, für den er bisher Erwerbsunfähigkeitsrente bezog, weiterhin Erwerbsunfähigkeitsrente (nunmehr auf Dauer) zusteht, stellt nicht bloß die Verlängerung einer früher bereits dem Grunde nach anerkannten Sozialleistung dar, sondern ist die eigenständige und vollinhaltlich erneute Bewilligung der beantragten Rente“. Dies entspricht letztlich im Wesentlichen – zum Teil wort- und inhaltsgleich – bereits dem Kerngehalt der Entscheidung vom 24. Oktober 1996.
42

Zudem ist die Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 24. Oktober 1996 auch nahezu durchgehend von den Instanzgerichten akzeptiert und umgesetzt worden (vgl. u. a. LSG Hamburg vom 5. September 2012 – L 2 R 50/10; LSG Berlin-Brandenburg vom 13. Februar 2007 – L 12 RJ 13/04; LSG Schleswig-Holstein vom 25. August 2004 – L 8 RA 18/03; LSG Berlin vom 12. Februar 2004 – L 3 RJ 26/02). Angesichts dessen kann die in der Entscheidung vom 24. Oktober 1996 durch den 4. Senat des Bundessozialgerichts vertretene Rechtsauffassung zum eigenständigen Charakter des Anspruchs auf Weitergewährung einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit als gefestigte und somit im Rahmen von § 44 SGB X beachtliche Rechtsprechung angesehen werden.
43

Im Ergebnis „ergibt“ sich somit vorliegend die Rechtswidrigkeit der Bescheide vom 23. Dezember 1994, 21. Oktober 1997, 28. Juni 2000 und 22. Dezember 2000 aufgrund der geläuterten Rechtsauffassung zur Auslegung des § 102 Abs. 2 SGB VI a. F., wie sie durch das Bundessozialgericht in der Entscheidung vom 24. Oktober 1996 (AZ: 4 RA 31/96) vertreten worden ist.
44

Die von der Beklagten zur Auslegung des § 102 SGB VI a. F. vertretene Auffassung und die darauf gestützten Weitergewährungsbescheide sind jedoch nur bis zum 30. April 2007 rechtswidrig. Denn mit Wirkung zum 1. Mai 2007 ist § 102 Abs. 2 Satz 3 SGB VI durch das RV-Altersgrenzenanpassungsgesetz vom 20. April 2007 (BGBl. I, S. 554) um einen 2. Halbsatz ergänzt worden, der nunmehr festlegt, dass es im Fall einer Verlängerung der Befristung „bei dem ursprünglichen Rentenbeginn“ verbleibt. Diese Gesetzesänderung ist als unmittelbare Reaktion des Gesetzgebers auf die Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 24. Oktober 1996 (AZ: 4 RA 31/96) und die entsprechende Bestätigung durch den Beschluss des Bundessozialgerichts vom 2. Mai 2005 (AZ: B 4 RA 212/04 B) zu sehen. Mit diesem Zusatz soll zum Ausdruck gebracht werden, dass die Weitergewährung einer befristeten Erwerbsminderungsrente lediglich eine Verlängerung der anfänglichen Befristung darstellt und Folgerenten somit ohne Neuberechnung im Umfang der bisherigen Rente weiterzuzahlen sind (BT-Drucks. 16/3794, S. 37) Auf diese Weise will der Gesetzgeber die Gleichbehandlung von Beziehern befristeter und unbefristeter Renten erreichen und einen unangemessenen Verwaltungsaufwand für die Rentenversicherungsträger verhindern (BT-Drucks. 16/3794, S. 37). Für die Zeit ab 1. Mai 2007 entspricht die Vorgehensweise der Beklagten somit geltendem Recht. Für die Zeit bis zum 30. April 2007 verbleibt es hingegen in Bezug auf die Zeitrentengewährung bei den vom Bundessozialgericht in der Entscheidung vom 24. Oktober 1996 (AZ: 4 RA 31/96) aufgestellten Grundsätzen und somit bei der Rechtswidrigkeit der in dieser Zeit unter Umgehung dieser Rechtsprechung ergangenen Weitergewährungsbescheide. Da die der Klägerin gewährte Erwerbsunfähigkeitsrente ohnehin mit Wirkung zum 1. November 2006 durch eine Altersrente für schwerbehinderte Menschen ersetzt worden ist (vgl. Bescheide vom 20. November 2007 und 22. August 2008), ist im vorliegenden Fall der gesamte streitgegenständliche Rentenbezugszeitraum nach den Vorgaben der genannten Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 24. Oktober 1996 zu beurteilen.
45

Aufgrund der im Ergebnis rechtswidrig unterlassenen Neuberechnung der Entgeltpunkte bei der Entscheidung über die Weitergewährung der befristeten Erwerbsunfähigkeitsrente durch die Bescheide vom 23. Dezember 1994, 21. Oktober 1997 und 28. Juni 2000 (in der Fassung durch den Bescheid vom 22. Dezember 2000) ist die Erwerbsunfähigkeitsrente der Klägerin nicht in der ihr zustehenden Höhe ausgezahlt worden. Dies wird durch die von der Beklagten in den Bescheiden vom 16. Februar 2010, 28. Februar 2010 und 23. März 2010 sowie im Schriftsatz vom 9. April 2013 ausgewiesenen Nachzahlungsbeträge belegt. Der Klägerin sind somit kausal bedingt durch die Rechtswidrigkeit der genannten Bescheide Sozialleistungen „nicht erbracht“ worden.
46

Im Ergebnis sind somit die Voraussetzungen für die teilweise Rücknahme der Bescheide vom 23. Dezember 1994, 21. Oktober 1997 und 28. Juni 2000 nach § 44 SGB X mit Wirkung für die Vergangenheit grundsätzlich gegeben.
47

Dem hat die Beklagte mit den am 16. Februar 2010, 28. Februar 2010 und 23. März 2010 ergangenen Neufeststellungsbescheiden Rechnung getragen. Sie hat in diesen Bescheiden die der Klägerin bewilligte Erwerbsunfähigkeitsrente auf Zeit unter Berücksichtigung der Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 24. Oktober 1996 (AZ: 4 RA 31/96) für die Zeit ab 1. April 1994 neu berechnet. Dabei ist sie davon ausgegangen, dass die Weiterzahlung der Erwerbsunfähigkeitsrente über den jeweiligen Wegfallzeitpunkt hinaus jeweils als eigenständige und inhaltlich erneute Bewilligung der Rente anzusehen ist, und hat daher im Zeitpunkt der Entscheidung über die Weitergewährung die persönlichen Entgeltpunkte der Rente unter Berücksichtigung des Besitzschutzes für die bisherigen Entgeltpunkte (§ 88 Abs. 1 Satz 2 SGB VI) neu berechnet. Im Rahmen dieser Neuberechnung hat die Beklagte für die Zeit vom 1. April 1994 bis 31. März 1997 eine Summe von 26,7987 persönlichen Entgeltpunkten, für die Zeit vom 1. April 1997 bis 31. März 2000 eine Summe von 27,3358 persönlichen Entgeltpunkten und für die Zeit ab 1. April 2000 bis zum Beginn der Altersrente 30,4961 persönliche Entgeltpunkte ermittelt. Ausgehend von diesen neu berechneten Entgeltpunkten ergab sich für die Klägerin im streitgegenständlichen Zeitraum ein höherer Rentenzahlbetrag. Unter Berücksichtigung der in der Vergangenheit bereits geleisteten Zahlungen hat die Beklagte aufgrund der Neuberechnung für die Zeit vom 1. April 1994 bis 31. März 1997 einen Nachzahlungsbetrag in Höhe von 13.239,33 € (vgl. Bescheid vom 16. Februar 2010), für die Zeit vom 1. April 1997 bis 31. März 2000 einen Nachzahlungsbetrag in Höhe von 13.821,39 € (Bescheid vom 28. Februar 2010) und für die Zeit vom 1. April 2000 bis 31. Dezember 2000 eine Nachzahlung in Höhe von 4.235,60 € (vgl. Schriftsatz der Beklagten vom 9. April 2013) sowie für die Zeit vom 1. Januar 2001 bis 31. Oktober 2006 einen Nachzahlungsbetrag in Höhe von 23.309,54 € (vgl. Bescheid vom 8. August 2010) ermittelt. Dass das Rechenwerk der Beklagten bei der Ermittlung der Entgeltpunkte und der Umsetzung im Rahmen der Rentenneuberechnung nicht den gesetzlichen Bestimmungen bzw. deren Auslegung durch die höchstrichterliche Rechtsprechung entspricht oder in sonstiger Weise fehlerbehaftet sein könnte, ist weder von der Klägerin vorgetragen worden, noch sonst erkennbar.
48

Die Klägerin beanstandet vielmehr lediglich, dass die in den Bescheiden vom 16. Februar 2010, 28. Februar 2010 festgestellten und im Schriftsatz der Beklagten vom 9. April 2013 ausgewiesenen Nachzahlungsbeträge für die vom Zeit 1. April 1994 bis 31. Dezember 2000 nicht ausgezahlt worden sind.
49

Einer Auszahlung dieser Beträge steht jedoch vorliegend die Vorschrift des § 44 Abs. 4 SGB X entgegen. Danach werden Sozialleistungen, falls ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen wird, längstens für einen Zeitraum von 4 Jahren vor der Rücknahme erbracht (Satz 1). Der Zeitraum der Rücknahme wird vom Beginn des Jahres an gerechnet, in dem der Verwaltungsakt zurückgenommen wird (Satz 2). Beruht die Rücknahme auf einem Antrag des Berechtigten, ist dieser für die Berechnung des Zeitraums der Rücknahme maßgebend (Satz 3). Die 4-Jahresfrist beginnt mit dem letzten Tag des Vorjahres (§ 26 Abs. 1 SGB X i. V. m. § 187 Abs. 1 Bürgerliches Gesetzbuch -BGB) und endet nach 4 Jahren mit dem ersten Tag des Jahres (§ 26 Abs. 1 SGB X i. V. m. § 188 Abs. 2 BGB). Die Regelung des § 44 Abs. 4 SGB X bewirkt eine materiell-rechtliche Anspruchsbeschränkung, d. h. die Rücknahme nach § 44 Abs. 1 und 2 SGB X steht unter dem Vorbehalt, dass (Sozial-)Leistungen nach § 44 Abs. 4 SGB X noch zu erbringen sind (in diesem Sinne BSG vom 28. Februar 2013 – B 8 SO 4/12 R; Schütze in: von Wulffen, SGB X, 10. Aufl., § 44 Rdnr. 28).
50

Entgegen der von der Vorinstanz vertretenen Rechtsauffassung, gilt § 44 Abs. 4 SGB X im vorliegenden Fall direkt und kommt nicht nur analog zur Anwendung. Denn die Klägerin hat mit ihrem Antrag vom 11. September 2009 die Überprüfung der bestandskräftigen Rentenbewilligungsbescheide für die Zeit ab 1994 und somit die Durchführung eines Zugunstenverfahrens nach § 44 SGB X beantragt, in welchem § 44 Abs. 4 SGB X unmittelbar anzuwenden ist.
51

Die Beklagte konnte letztlich auch nicht von der Anwendung der anspruchsbegrenzenden Regelung des § 44 Abs. 4 SGB X absehen. Denn die in § 44 Abs. 4 SGB X geregelte 4- Jahresfrist ist als Ausschlussfrist zwingend von Amts wegen zu beachten. Von ihrer Geltendmachung kann die Verwaltung daher weder im Wege des Ermessens absehen (BSGE 54, 223, 225 [BSG 15.12.1982 – GS – 2/80] = SozR 1300 § 44 Nr. 3; BSG SozR 1300 § 44 Nr. 15 S. 26; Nr. 17 S. 37 und Nr. 23 S. 54), noch verstößt ihre Anwendung gegen Treu und Glauben (BSG vom 23. Juli 1986 – 1 RA 31/85- BSGE 60, 158 = SozR 1300 § 44 Nr. 23).
52

Letztlich unterliegt die Vorschrift auch keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Sie verstößt weder gegen die Eigentumsgarantie des Art. 14 Abs. 1 GG noch gegen den aus dem Rechtsstaatsprinzip abzuleitenden Grundsatz des Vertrauensschutzes (BSG vom 15. Dezember 1982 – GS 2/80 – BSGE 54, 223, 231 = SozR 1300 § 44 Nr. 3 S. 10; BSG vom 23. Juli 1986 – 1 RA 31/85– BSGE 60, 158 = BSG SozR 1300 § 44 Nr. 23; BSG vom 21. Januar 1987 – 1 RA 27/86 – BSG SozR 1300 § 44 Nr. 25; BSG vom 23. Juli 1986 – 1 RA 31/85 m. w. N.; LSG B-Stadt vom 30. Juni 1998 – L 4 V 1306/97). Auch ein Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz (Art. 3 Abs. 1 GG) kann – entgegen der von der Klägerin vertretenen Auffassung – nicht angenommen werden. Soweit die Klägerin eine Ungleichbehandlung darin begründet sieht, dass den Sozialversicherungsträgern hinsichtlich der Rückforderung von zu Unrecht erbrachten Leistungen gesetzlich eine Frist von 10 Jahren nach Bekanntgabe des bewilligenden Bescheides eingeräumt wird (§ 45 Abs. 3 Satz 3 SGB X), während rechtswidrig vorenthaltene Nachzahlungen aufgrund der Regelung des § 44 Abs. 4 SGB X an die Versicherten nur für einen Zeitraum von 4 Jahren rückwirkend erbracht werden, handelt es sich bereits nicht um vergleichbare Sachverhalte. Denn zwischen beiden Fallkonstellationen bestehen Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht, dass eine ungleiche Behandlung gerechtfertigt ist (zum Maßstab für einen Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz vgl. BVerfGE 112, 50, 67 [BVerfG 09.11.2004 – 1 BvR 684/98]; 117, 272, 301 – std. Rspr.). Letztlich ist die Regelung des § 44 Abs. 4 SGB X ungeachtet dessen auch durch sachliche Gründe gerechtfertigt. Hierbei ist insbesondere zu berücksichtigen, dass § 44 SGB X eine Durchbrechung der Bestandskraft zulässt. Die Vorschrift dient der Verwirklichung materieller Gerechtigkeit zugunsten des Bürgers und zulasten der Bestandskraft und damit der Rechtssicherheit, obwohl aus der Verfassung letztlich keine Verpflichtung abgeleitet werden kann, rechtswidrige belastende Verwaltungsakte nach Eintritt der Bestandskraft von Amts wegen oder auf Antrag aufzuheben (BVerfGE 117, 302, 315 [BVerfG 27.02.2007 – 1 BvR 1982/01]). Die mit § 44 Abs. 1 und 2 SGB X vorgenommene Durchbrechung der Bestandskraft wird daher zum Ausgleich und im Interesse der Rechtssicherheit durch § 44 Abs. 4 SGB X zeitlich begrenzt (BSG vom 23. Juli 1986 – 1 RA 31/85– BSGE 60, 158 = SozR 1300 § 44 Nr. 23). Der Gesetzgeber hat mit der in § 44 Abs. 4 SGB X getroffenen Regelung den Konflikt zwischen dem Interesse des Versicherten an einer vollständigen Erbringung der ihm zu Unrecht vorenthaltenen Sozialleistung einerseits und der Solidargemeinschaft aller Versicherten an einer Erhaltung der Leistungsfähigkeit des in Anspruch genommenen Versicherungsträgers und damit einhergehend an einer möglichst geringen Belastung mit Ausgaben für Leistungen für zurückliegende Zeiträume andererseits gelöst (BSG a. a. O.). Das schließt aus, einseitig das Interesse des Versicherten an der Erfüllung seiner Ansprüche auch für weiter zurückliegende Zeiträume als ausschlaggebend zu bewerten und darüber die Interessen der Versichertengemeinschaft daran zu vernachlässigen, dass die Ausgaben des Leistungsträgers zur Erfüllung rückständiger Leistungen in vertretbarem Umfang gering gehalten werden und dadurch annähernd kalkulierbar bleiben (BSG a. a. O.). § 44 SGB X stellt eine in sich ausgewogene Gesamtregelung dar (BSG a. a. O.), innerhalb derer die Regelung des § 44 Abs. 4 SGB X eine den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahrende und damit zulässige Bestimmung darstellt, die geeignet ist, ggf. bestehende Ungleichbehandlungen zu rechtfertigen.
53

Ausgehend von dem von der Klägerin am 11. September 2009 gestellten Überprüfungsantrags kann die unter Berücksichtigung der Entscheidung des BSG vom 24. Oktober 1996 (AZ: 4 RA 31/96) aus der Neuberechnung der Erwerbsunfähigkeitsrente durch die Bescheide vom 18. Februar 2010, 28. Februar 2010 und 23. März 2010 ermittelte Nachzahlung in Anwendung von § 44 Abs. 4 SGB X grundsätzlich erst ab dem 1. Januar 2005 gewährt werden. Dies hat die Beklagte in rechtlich nicht zu beanstandender Weise im Bescheid vom 23. März 2010 festgestellt. Über diesen sich nach dem Gesetz ergebenden Zeitpunkt hinaus hat die Beklagte im Wege der Abhilfe durch Bescheid vom 8. August 2010 einen weitergehenden Anspruch der Klägerin auf Nachzahlung der neuberechneten Rente auch für die Zeit ab 1. Januar 2001 anerkannt, wobei sie von einem im August 2005 gestellten Überprüfungsantrag ausgegangen ist.
54

Eine weitere Vorverlegung des Zeitpunktes des Überprüfungsantrags auf März 1997 und eine Berechnung der 4-Jahresfrist des § 44 Abs. 4 SGB X auf dieser Grundlage kann die Klägerin auch nicht im Wege des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs verlangen.
55

Der vom Bundessozialgericht entwickelte und seither in ständiger Rechtsprechung bestätigte verschuldensunabhängige sog. sozialrechtliche Herstellungsanspruch (vgl. SozR 2100 § 27 Nr. 2; BSG SozR 1200 § 14 Nr. 20; BSG SozR 4100 § 105 Nr. 2, BSG SozR 4100 § 125 Nr. 3; BSG SozR 1200 § 14 Nr. 28; BSG SozR 3-1200 § 14 Nr. 9; BSG SozR 3-4100 § 37 Nr. 1; SozR 4-4300 § 137 Nr. 1) dient als Institut des Verwaltungsrechts vornehmlich dazu, eine Lücke im Schadensersatzrecht zu schließen (BSG SozR 2100 § 27 Nr. 2). In diesem Zusammenhang knüpft der sozialrechtliche Herstellungsanspruch zum einen an die Verletzung behördlicher Auskunfts-, Beratungs- und Betreuungspflichten im Sozialrechtsverhältnis und somit an sich aus dem Sozialrechtsverhältnis ergebende Nebenpflichten an. Das Gesetz differenziert dabei zwischen allgemeinen Auskunfts- und Beratungspflichten einerseits, deren Inhalt die Vermittlung von sozialrechtlichen Rechten und Pflichten ist und die ihre gesetzliche Grundlage in den §§ 14 und 15 Sozialgesetzbuch Erstes Buch (SGB I) haben sowie speziellen Beratungspflichten andererseits, die im Zusammenhang mit der Gewährung bestimmter Sozialleistungen der einzelnen Bücher des SGB bestehen. Darüber hinaus findet der sozialrechtliche Herstellungsanspruch auch allgemein bei zurechenbarem Fehlverhalten eines Leistungsträgers Anwendung, d. h. bei Verletzung sonstiger aus dem Sozialrechtsverhältnis erwachsender behördlicher Nebenpflichten gegenüber dem Versicherten (vgl. BSG vom 22. Oktober 1996 – 13 RJ 23/95– BSGE 79, 168 = SozR 3-2600 § 115 Nr. 1 ). Der sozialrechtliche Herstellungsanspruch setzt dabei voraus, dass zwischen der (Neben-)Pflichtverletzung des Sozialleistungsträgers und dem Nachteil des Betroffenen ein ursächlicher Zusammenhang besteht. Darüber hinaus muss der durch das pflichtwidrige Verwaltungshandeln eingetretene Nachteil durch eine zulässige Amtshandlung beseitigt werden können und die Korrektur muss im Einklang mit dem jeweiligen Gesetzeszweck stehen (vgl. BSG vom 25. Januar 1994 – 7 RAr 50/93– SozR 3-4100 § 249e Nr. 4; BSG vom 1. April 2004 – B 7 AL 52/03 R– BSGE 92, 267 = SozR 4-4300 § 137 Nr. 1 jeweils m. w. N.).
56

Der Anspruchsinhalt ist dabei auf Naturalrestitution in Gestalt der Vornahme einer Rechtshandlung zur Herstellung desjenigen Zustandes gerichtet, der bestehen würde, wenn der Sozialleistungsträger die ihm aus dem Sozialleistungsverhältnis erwachsenden Nebenpflichten ordnungsgemäß wahrgenommen haben würde. Anerkannte Rechtsfolge einer solchen behördlichen Verletzung von Nebenpflichten ist gegebenenfalls auch, dass versäumte Anträge und Erklärungen des betroffenen Bürgers bzw. des Versicherten als rechtzeitig und ordnungsgemäß gelten.
57

Im vorliegenden Fall hat die Beklagte eine aus dem zur Klägerin infolge des Rentenbezuges bestehenden Sozialrechtsverhältnis erwachsende Nebenpflicht in Form einer Beratungs- und Hinweispflicht durch Unterlassen verletzt, so dass die Voraussetzungen für den sozialrechtlichen Herstellungsanspruch grundsätzlich erfüllt sind. Allerdings würde die Fingierung eines früheren Überprüfungsantrags im Rahmen der Berechnung der 4-Jahresfrist des § 44 Abs. 4 SGB X nicht im Einklang mit den gesetzgeberischen Wertentscheidungen stehen, so dass die Korrektur im Wege des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs letztlich als unzulässig angesehen werden muss.
58

Die Beklagte hat vorliegend eine allgemeine Beratungs- und Hinweispflicht verletzt.
59

Eine Beratungspflicht des Leistungsträgers besteht grundsätzlich nur dann, wenn der aus einem Sozialrechtsverhältnis (potentiell) Berechtigte mit einem entsprechenden Beratungsersuchen an ihn herantritt (BSG vom 30. September 2009 – B 9 VG 3/98 R – BSGE 104, 245 = SozR 4-3100 § 60 Nr. 6; BSG vom 17. August 2000 – B 13 RJ 87/98 R m. w. N.). Denn nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung folgt aus der den Versicherungsträgern nach § 14 SGB I obliegenden (allgemeinen) Beratungspflicht regelmäßig noch keine Verpflichtung, ohne konkreten Anlass so weit in die vom informationellen Selbstbestimmungsrecht geschützte Privatsphäre der Versicherten einzudringen und deren Lebensverhältnisse so weit zu erforschen, dass ein eventuell nützlicher Hinweis zur Gestaltung des Versicherungsverhältnisses gegeben werden kann. Eine solche Verpflichtung wird nur in Ausnahmefällen bei gesetzlichen Änderungen mit schwerwiegenden Folgen – wie dem drohenden Totalverlust eines Anspruchs – für möglich erachtet und erwogen (BSG SozR 3-1200 § 14 Nr. 12, BSG SozR 3-2600 § 115 Nr. 1). Eine Auskunfts- und Beratungspflicht trifft den Leistungsträger daher im Regelfall erst, wenn ein konkretes Beratungsersuchen an ihn herangetragen wird. Der Umfang der Beratung wird in diesen Fällen durch den Inhalt des Beratungsersuchens und die Zuständigkeit des Leistungsträgers bestimmt. Allerdings hat der Versicherungsträger dabei auch auf naheliegende Gestaltungsmöglichkeiten hinzuweisen, durch deren Wahrnehmung der Versicherte einen Vorteil erlangt oder Nachteile vermeiden kann (BSGE 50, 88 [BSG 24.04.1980 – 1 RA 33/79]; BSGE 52, 145).
60

Darüber hinaus sieht das Bundessozialgericht einen konkreten Anlass zur (Spontan-) Beratung dann als gegeben an, wenn anlässlich eines Kontakts zwischen dem Versicherten und dem Leistungsträgers bzw. im Rahmen einer konkreten Aktenbearbeitung für den Leistungsträger erkennbar ist, dass der Versicherte zu einem Personenkreis gehört, auf den eine für dessen Ansprüche bedeutsame gesetzliche Regelung Anwendung findet bzw. wenn klar zu Tage tretende Gestaltungsmöglichkeiten erkennbar sind, die sich offensichtlich als zweckmäßig erweisen und von einem verständigen Versicherten mutmaßlich genutzt würden (BSG vom 6. Mai 2010 – B 13 RJ 44/09 R –SozR 4-1200 § 14 Nr. 13; BSG vom 28. September 2010 – B 1 KR 31/09 R– BSGE 106, 296 = SozR 4-2500 § 50 Nr. 2 jeweils m. w. N.).
61

Von diesen Grundsätzen ausgehend kann vorliegend zwar ein konkretes Beratungsersuchen in Bezug auf die Höhe der gezahlten Erwerbsunfähigkeit auf Zeit nicht als nachgewiesen angesehen werden. Soweit die Klägerin behauptet, am 13. März 1997 im Zusammenhang mit einem Weitergewährungsantrag mit einem Mitarbeiter der Beklagten (Herrn X.) telefoniert und am 20. Januar 1998, 24. November 1999 und 25. Juli 2000 ebenfalls jeweils eine telefonische Beratung bei der Beklagten in Anspruch genommen zu haben, kann hieraus mangels Kenntnis über den Inhalt der behaupteten Beratungsgespräche keine Beratungspflicht der Beklagten über die Konsequenzen der höchstrichterlichen Entscheidung vom 24. Oktober 1996 (AZ: 4 RA 31/96) abgeleitet werden. Selbst wenn man zugunsten der Klägerin die Durchführung von telefonischen Beratungen zu den genannten Zeitpunkten als nachgewiesen ansehen würde, ist der Inhalt dieser Gespräche nicht mehr feststellbar. Die Klägerin hat zum diesbezüglichen Nachweis im erstinstanzlichen Verfahren lediglich eine handschriftliche Notiz über die erfolgten telefonischen Beratungen unter Angabe von Datum und Uhrzeit vorgelegt, aus der jedoch nicht ersichtlich ist, mit welchem inhaltlichen Anliegen sich die Klägerin seinerzeit an die Beklagte gewandt hat. Dies wäre aber erforderlich, um den Umfang der Beratungspflicht feststellen zu können. Im Berufungsverfahren hat die Klägerin auf Nachfrage auszugsweise Kopien ihres privaten Kalenders vorgelegt, in welchen wiederum die Beratungstermine nach Datum und Uhrzeit aber ohne Inhaltsangabe vermerkt worden sind. Konkrete Angaben zum Inhalt ihres Beratungsersuchens vermochte die Klägerin lediglich in Bezug auf die im Jahr 2005 wahrgenommenen Beratungstermine (24. August 2005 und 28. September 2005) zu machen. Diese Beratungstermine sind jedoch von der Beklagten bereits als konkretes Beratungsersuchen und als Anknüpfungspunkt für eine Beratungspflichtverletzung berücksichtigt worden und haben zur rückwirkenden Gewährung der neu berechneten Erwerbsunfähigkeitsrente auch für die Zeit vom 1. Januar 2000 bis 31. Oktober 2006 geführt (vgl. Abhilfebescheid vom 8. August 2010). Hinsichtlich der übrigen von der Klägerin angegebenen Beratungstermine sind bei der Beklagten keine Unterlagen mehr vorhanden. Eine fehlerhafte bzw. unterlassene Beratung anlässlich eines konkreten Beratungsersuchens kann bei dieser Sachlage nicht als belegt angesehen werden, zumal ein bloßer Verwaltungskontakt in der Regel nicht ausreicht, um eine Pflicht zur (Spontan- )Beratung auszulösen (Hase, SGb 2001, 593, 596).
62

Allerdings wäre die Beklagte nach Auffassung des Senats anlässlich des von der Klägerin am 25. März 1997 gestellten Antrags auf Weiterzahlung der befristeten Erwerbsunfähigkeitsrente über den 31. März 1997 hinaus verpflichtet gewesen, auf die Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 24. Oktober 1996 (AZ: 4 RA 31/96) und die damit verbundenen Konsequenzen für den klägerischen Rentenanspruch sowie die Tatsache der fehlenden Umsetzung der Entscheidung durch die Rentenversicherungsträger hinzuweisen. Das Unterlassen dieses Hinweises ist als Verstoß gegen die sich aus dem zur Klägerin bestehenden Sozialrechtsverhältnisses ergebende Nebenpflicht zur Spontanberatung zu werten. Denn die Beklagte hat anlässlich einer konkreten Sachbearbeitung die Klägerin nicht auf eine anhand der tatsächlichen Umstände „klar zu Tage“ tretende und für den Versicherungsträger „erkennbare“ sowie für die Klägerin offensichtlich zweckmäßige Gestaltungsmöglichkeit hingewiesen. Ein konkreter Anlass für diese Spontanberatung hat aufgrund des Antrags auf Weitergewährung der befristeten Erwerbsunfähigkeitsrente bestanden. Aufgrund dieses Antrages hat eine Sachbearbeitung durch einen Mitarbeiter der Beklagten stattgefunden, d. h es wurde nicht nur eine EDV-gestützte Bearbeitung von Massenverfahren (wie z. B. bei Rentenanpassungsbescheiden) vorgenommen. Zudem bestand auch eine inhaltliche Verknüpfung zwischen dem Anlass für die Sachbearbeitung und dem Gegenstand der pflichtwidrig unterlassenen Beratung. Die Klägerin hat mit ihrem am 25. März 1997 gestellten Antrag die Weitergewährung der zuvor bis zum 31. März 1997 befristeten Erwerbsunfähigkeitsrente über den Wegfallmonat hinaus begehrt. Es handelt sich somit um eine von der höchstrichterlichen Entscheidung vom 24. Oktober 1996 (AZ: 4 RA 31/96) erfasste Fallkonstellation, denn im Rahmen der Weitergewährung hatte die Beklagte u. a. darüber zu befinden, ob sie die Weitergewährung lediglich als Verlängerung der ursprünglichen Rente ansieht oder aber unter Umsetzung der genannten Entscheidung des Bundessozialgerichts als neuen Rentenanspruch wertet mit der Konsequenz einer durchzuführenden Rentenneuberechnung. Ein Hinweis auf die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts im Urteil vom 24. November 1996 war daher nicht nur naheliegend, sondern hätte sich geradezu aufdrängen müssen. Denn grundsätzlich erstreckt sich die Beratungspflicht auch auf die Verwaltungspraxis des Leistungsträgers (vgl. Mitteilungen der LVA Oberfranken-Mittelfranken, 1999, S. 338, 340).
63

Dies gilt erst Recht, wenn diese Verwaltungspraxis im Widerspruch zum geltenden Recht steht oder eine gefestigte höchstrichterliche Rechtsprechung nicht umsetzt. In diesem Fall ergibt sich die Pflicht zur Spontanberatung bereits aus „vorangegangenem Tun“ (vgl. dazu Mitteilungen der LVA Oberfranken-Mittelfranken, 1999, S. 338, 340).
64

Gerade der Umstand, dass die Rentenversicherungsträger in Bezug auf die Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 24. Oktober 1996 (AZ: 4 RA 31/96) intern den Beschluss gefasst haben, diese Entscheidung in der Praxis nicht umzusetzen, führt zu einer gesteigerten Hinweis-, Beratungs- und Betreuungspflicht in Bezug auf die Fälle des laufenden Leistungsbezugs, die von der genannten höchstrichterlichen Entscheidung erfasst werden und in denen sich in Anwendung dieser Entscheidung für die betroffenen Versicherten eine günstigere Regelung im Sinne eines höheren Rentenzahlbetrages ergeben könnte. Denn der Versicherte kann aufgrund der verfassungsrechtlich statuierten und als Ausdruck des Rechtsstaatsprinzips anzusehenden Bindung der Verwaltung an Recht und Gesetz (Art. 20 Abs. 3 GG) grundsätzlich davon ausgehen, dass das Handeln der Sozialleistungsträger den Grundsätzen von Recht und Gesetz entspricht und diese nicht nur das geltende geschriebene Recht richtig anwenden, sondern auch die zur Auslegung des geltenden Rechts ergangene höchstrichterliche Rechtsprechung ihrer Verwaltungspraxis zugrunde legen. Zwar erzeugt die höchstrichterliche Rechtsprechung keine dem Gesetzesrecht vergleichbare Rechtsbindung, sondern stellt die Rechtslage in einem konkreten Fall fest. Bei einer gefestigten bzw. ständigen höchstrichterlichen Rechtsprechung kann sich aber eine dem geschriebenen Recht zumindest nahekommende Bindung ergeben (vgl. dazu: GrS BFH vom 17. Dezember 2007 – GrS 2/04). Soweit ein Sozialleistungsträger einer nicht als Einzelfallentscheidung anzusehenden höchstrichterlichen Rechtsprechung nicht folgt, muss er dies daher für die von der Entscheidung konkret betroffenen Leistungsempfänger offenlegen. Dies wird im Umkehrschluss mit Blick auf die Praxis der Finanzverwaltung bestätigt, die in weitaus größerem Umfang als im sozialversicherungsrechtlichen Bereich höchstrichterliche Rechtsprechung in der Praxis nicht umsetzt. Allerdings ergeht in diesen Fällen seitens des Bundesfinanzministeriums regelmäßig ein Nichtanwendungserlass, welcher im Bundessteuerblatt veröffentlicht und daher für den Bürger ähnlich einem Gesetz zur Kenntnis gebracht wird. In diesen Fällen könnte ein Hinweis auf die geänderte, aber nicht umgesetzte Rechtsprechung entbehrlich sein, weil diese Fallkonstellation eher der einer Gesetzesänderung vergleichbar ist. Insoweit wurde bereits vom Bundessozialgericht entschieden, dass die Versicherungsträger nicht verpflichtet sind, nach einer Gesetzesänderung darüber zu belehren, wie man Nachteile aus der gesetzlichen Änderung vermeiden kann (BSG vom 18. August 1983 – 11 RA 40/82 – BSGE 55, 257 = SozR 1200 § 13 Nr. 2). Zudem ergehen behördliche Entscheidungen, welche höchstrichterliche Rechtsprechung nicht anwenden, im Bereich der Finanzverwaltung im Regelfall unter Vorbehalt (vgl. § 164 Abgabenordnung) und schaffen somit – weder zugunsten noch zuungunsten des betroffenen Bürgers – vollendete Tatsachen. Im Bereich der gesetzlichen Rentenversicherung werden hingegen Nichtanwendungsbeschlüsse als reines Internum behandelt (vgl. dazu auch Vogts, RV 2010, S. 169, 170). Es ist daher für den Versicherten gerade nicht ersichtlich, ob eine höchstrichterliche Rechtsprechung umgesetzt wird oder ob er ggf. aufgrund der Nichtumsetzung entsprechende Anträge auf Überprüfung bestandskräftiger Bescheide stellen oder Rechtsmittel gegen noch nicht bestandskräftige Bescheide einlegen muss. Gerade bei umstrittenen Rechtsfragen muss der Rentenversicherungsträger daher darauf hinweisen, dass er einer bestimmten höchstrichterlichen Rechtsprechung nicht folgt (so auch Amtliche Mitteilungen LVA Oberfranken und Mittelfranken, 199, S. 338, 340).
65

Die Beklagte hat somit im Ergebnis vorliegend im März 1997 eine aus dem zur Klägerin bestehenden Sozialrechtsverhältnis folgende Pflicht zur (Spontan-)Beratung bzw. eine Hinweispflicht verletzt.
66

Die Verletzung einer durch § 115 Abs. 6 SGB VI speziell für den Bereich der gesetzlichen Rentenversicherung geregelten Hinweispflicht kann hingegen vorliegend nicht – jedenfalls nicht in direkter Anwendung der Vorschrift – angenommen werden.
67

Für den Bereich der gesetzlichen Rentenversicherung werden zusätzlich zu den in §§ 14 und 15 SGB I geregelten allgemeinen Auskunfts- und Beratungspflichten durch § 115 Abs. 5 und 6 SGB VI besondere Auskunfts- und Hinweispflichten normiert, deren Verletzung vom Betroffenen ebenfalls im Wege des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs geltend gemacht werden kann (vgl. dazu BSG vom 22. Oktober 1996 – 13 RJ 23/95– BSGE 79, 168 = SozR 3-2600 § 115 Nr. 1; BSG vom 9. Dezember 1997 – 8 RKn 1/97– BSGE 81, 251 = SozR 3-2600 § 115 Nr. 2). Gemäß § 115 Abs. 5 SGB V besteht die Möglichkeit der Erteilung von Rentenauskünften von Amts wegen. Nach § 115 Abs. 6 SGB VI sollen die Träger der Rentenversicherung die Berechtigten in geeigneten Fällen darauf hinweisen, dass sie eine Leistung erhalten können, wenn sie diese beantragen. § 115 Abs. 6 SGB VI regelt einen – den allgemeinen Beratungspflichten der §§ 14, 15 SGB I gegenüber – vorrangigen Sonderfall der sog. Spontanberatung (BSG vom 14. November 2002 – B 13 RJ 39/01 R– SozR 3-2600 § 115 Nr. 9). Denn die Vorschrift begründet eine Hinweispflicht des Rentenversicherungsträgers nicht nur ohne ein konkretes Beratungsersuchen, sondern auch ohne den Anlass konkreter Sachbearbeitung (Pflüger in juris-PK SGB VI, § 115 RdNr. 147; Marschner, ZFSH/SGB 1998, S. 521 f.). Hintergrund dieser besonderen Beratungspflicht ist der Umstand, dass es den Rentenversicherungsträgern aufgrund der über die Versicherten gespeicherten Daten in der Regel möglich sei, einzelne Versicherte auf für sie naheliegende hinzuweisen (BSG vom 14. November 2000 – B 13 RJ 39/01 R – SozR 3-2600 § 115 Nr. 9).
68

Voraussetzung für eine auf § 115 Abs. 6 SGB VI gestützte Hinweispflicht ist, dass ein „geeigneter Fall“ vorliegt. Darüber hinaus muss Gegenstand der Hinweispflicht eine antragsgebundene Leistung sein. Mit dem Begriff der „geeigneten Fällen“ nimmt das Gesetz auf einen unbestimmten Rechtsbegriff Bezug, der jedoch in vollem Umfang der gerichtlichen Kontrolle unterliegt (BSG vom 22. Oktober 1996 – 13 RJ 23/95 – SozR 3-2600 § 115 Nr. 1; BSG vom 9. Dezember 1997 – 8 RKn 1/97– SozR 3-2600 § 115 Nr. 2; BSG vom 22. Oktober 1998 – B 5 RJ 62/97 R – SozR 3-2600 § 115 Nr. 4; BSG vom 1. September 1999 – SozR 3-2600 § 115 Nr. 5; a. A. BSG vom 6. März 2003 – B 4 RA 38/02 R–SozR 4-2600 § 115 Nr. 1). Ob die Beklagte im vorliegenden Fall auf der Grundlage von § 115 Abs. 6 SGB VI verpflichtet war, auf die Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 24. Oktober 1996 (AZ: 4 RA 31/96), die sich daraus ergebenden Konsequenzen für den Rentenanspruch der Klägerin und die fehlende Umsetzung der Entscheidung durch die Rentenversicherungsträger hinzuweisen – es sich mithin um einen „geeigneten Fall“ im Sinne der Vorschrift handelt – kann letztlich dahin stehen.
69

Denn die Hinweispflicht des § 115 Abs. 6 SGB VI erstreckt sich offensichtlich nur auf die Möglichkeit, einen Leistungsantrag zu stellen. Dies folgt aus dem Wortlaut der Vorschrift und ihrer Entstehungsgeschichte. § 115 Abs. 6 SGB VI ist dem Wortlaut nach auf Hinweispflichten für antragsgebundene „Leistungen“ beschränkt. Ausgehend von der systematischen Stellung der Norm sind damit alle Leistungen der gesetzlichen Rentenversicherung gemeint (BSG vom 25. Mai 2005 – B 10 LW 16/99 – SozR 3-5868 § 44 Nr. 1). Aufgrund der Stellung der Norm in der Gesamtsystematik des SGB VI werden allerdings nicht nur Rentenansprüche, sondern auch Ansprüche auf Beitragserstattung erfasst (BSG vom 22. Oktober 1998 – B 5 RJ 62/97 R– SozR 3-2600 § 115 Nr. 4; BSG vom 25. Mai 2005 – B 10 LW 16/99 – SozR 3-5868 § 44 Nr. 1). Bestätigt wird dies durch den aus der Entstehungsgeschichte ersichtlichen Normzweck. § 115 Abs. 6 SGB VI wurde durch das Rentenreformgesetz 1992 vom 18. Dezember 1989 (BGBl. I, S. 1989) als Korrektiv zu dem zeitgleich eingeführten § 99 SGB VI im Gesetz aufgenommen, um die Versicherten in bestimmten Fällen vor den Nachteilen des Antragsprinzips zu bewahren (Pflüger in juris-PK SGB VI, § 115 Rdnr. 3, 83). Grundsätzlich bezieht und beschränkt sich die Hinweispflicht somit auf antragsgebundene Leistungen der Rentenversicherung. Hiervon weicht die vorliegend streitgegenständliche Fallkonstellation ab, denn Gegenstand der Hinweispflicht wäre die Stellung eines Überprüfungsantrags bezogen auf den bestandskräftigen Bewilligungsbescheid vom 23. Dezember 1994 (Rentenbezug in der Zeit vom 1. April 1994 bis 31. März 1997) sowie die Einlegung eines Rechtsbehelfs gegen den laufend ergehenden bzw. künftige Weitergewährungsbescheide. Dies dürfte vorliegend nicht vom Anwendungsbereich des § 115 Abs. 6 SGB VI erfasst sein.
70

Ob § 115 Abs. 6 SGB VI in Fallkonstellationen der vorliegenden Art analog angewandt werden kann, muss der Senat nicht entscheiden, weil die Beklagte jedenfalls vorliegend eine aus § 14 SGB I folgende Pflicht zur Spontanberatung verletzt hat. Insoweit wird auf die obigen Ausführungen verwiesen. Die Voraussetzungen für einen sozialrechtlichen Herstellungsanspruch sind damit grundsätzlich erfüllt.
71

Gleichwohl kann die Klägerin die von ihr begehrte Fingierung eines im März 1997 gestellten Überprüfungsantrages und eine darauf basierende Berechnung der 4- Jahresfrist des § 44 Abs. 4 SGB X nicht im Wege des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs verlangen, weil dies nicht im Einklang mit dem Gesetz stehen würde.
72

Soweit die Voraussetzungen für einen sozialrechtlichen Herstellungsanspruch im Grundsatz erfüllt sind, muss abschließend regelmäßig geprüft werden, ob das im Wege des Herstellungsanspruchs geltend gemachte Begehren nach dem Gesetz – vorliegend nach dem SGB VI und SGB X – möglich ist. Der Versicherte kann über den sozialrechtlichen Herstellungsanspruch nur das verlangen, für das es dem Grunde nach eine (gesetzliche) Anspruchsgrundlage gibt (vgl. BSG vom 1. April 2004 – SozR 4-4300 § 137 Nr. 1; BSG vom 14. Mai 1985 – 5a RKn 23/84 – SozR 1300 § 44 Nr. 18; Bühler, RV 1993, S. 8, 10), d. h. es kann nur die „Vornahme einer mit Recht und Gesetz in Einklang stehenden Amtshandlung“ verlangt werden (BSG vom 14. Mai 1985 – 5a RKn 23/84 – SozR 1300 § 44 Nr. 18). Denn der sozialrechtliche Herstellungsanspruch erlaubt letztlich nur eine „Reparatur mit den Bordwerkzeugen“ die das Gesetz vorsieht (Bühler, RV 1993, S. 8, 10).
73

Der Fingierung eines früheren Antragsdatums für den Überprüfungsantrag im Zugunstenverfahren nach § 44 SGB X über die Grundsätze des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs mit der Folge einer Berechnung der in § 44 Abs. 4 SGB X geregelten 4-Jahresfrist ab dem auf diese Weise fingierten Antragszeitpunkt würde vorliegend jedoch im Widerspruch zu der vom Gesetzgeber in § 44 SGB X im Allgemeinen und in § 44 Abs. 4 SGB X im Besonderen getroffenen Regelung und somit nicht im Einklang mit dem Gesetz stehen. Auch würde auf diese Weise die dem sozialrechtlichen Herstellungsanspruch zukommende Funktion unterlaufen.
74

Der im Wege der richterlichen Rechtsfortbildung entwickelte sozialrechtliche Herstellungsanspruch dient der Korrektur von fehlerhaften Verwaltungsentscheidungen, die dadurch entstehen, dass der Bürger in seinen Entscheidungen oder Handlungen durch Fehler seitens der Verwaltung in Form von Nebenpflichtverletzungen fehlgeleitet worden ist (Gagel, SGb 2000, S. 517). Allerdings greift der sozialrechtliche Herstellungsanspruch erst dann und nur dann ein, wenn eine entsprechende Korrektur nach den verfahrensrechtlichen und materiell-rechtlichen Vorschriften des SGB nicht vorgesehen ist. Entsprechende „Korrekturvorschriften“ sieht das Gesetz in den §§ 44 bis 48 SGB X, den Rechtsbehelfsmöglichkeiten (Widerspruch und Klage), in § 27 SGB X (Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand) und in § 28 SGB X (wiederholte Antragstellung mit Rückwirkung) vor. Zudem finden sich in den einzelnen Büchern des SGB teilweise spezielle Korrekturtatbestände. Der sozialrechtliche Herstellungsanspruch dient somit allein der Füllung einer Regelungslücke (dazu ausführlich Gagel, a. a. O.).
75

Aus der Lückenschließungsfunktion des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs folgt zum einen, dass dieses richterrechtlich entwickelte Rechtsinstitut keine Anwendung findet, soweit einer der gesetzlich geregelten Korrekturtatbestände eingreift. Bezogen auf § 44 SGB X wird daher in ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung die Auffassung vertreten, dass § 44 SGB X als gesetzliche Sondervorschrift dem richterrechtlich entwickelten Rechtsinstitut des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs vorgeht (BSG vom 14. Mai 1985 – 5a RKn 23/84 – SozR 1300 § 44 Nr. 18; BSG vom 23. Juli 1986 – 1 RA 31/85 – BSGE 60, 158 = SozR 1300 § 44 Nr. 23; Steinwedel in: Kasseler Kommentar, SGB X, § 44 Rdnr. 16; Schütze in: von Wulffen, SGB X, 7. Aufl., § 44 Rdnr. 33). Die Anwendbarkeit des § 44 SGB X schließt die Herleitung weitergehender Rechtsfolgen auf der Grundlage des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs aus (BSGE 60, 158 – 1 [BSG 23.07.1986 – 1 RA 31/85] RA 31/85 = BSGE 60, 158 [BSG 23.07.1986 – 1 RA 31/85] = SozR 1300 § 44 Nr. 23). Dieser unbedingte Vorrang des § 44 SGB X gilt insbesondere in den Fällen, in denen antragsgemäß ein Bescheid ergeht, der u. a. wegen einer Verletzung der Beratungs-, Aufklärungs- und Betreuungspflicht durch die Behörde rechtswidrig ist, denn ein solcher Bescheid ist allein auf der gesetzlichen Grundlage des § 44 SGB X einer Überprüfung zugänglich, in deren Rahmen das behördliche Fehlverhalten bewertet wird (Schmidt-De Caluwe, SV 1991, S. 314, 315). Ausgehend von dem eingangs dargestellten Prinzip der Lückenfüllung besteht in den Fällen, in denen eine Fallkonstellation von § 44 SGB X erfasst wird, somit bereits keine Regelungslücke, welche die Anwendung des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs rechtfertigen würde.
76

Ferner hat die dem Herstellungsanspruch zukommende Lückenfüllungsfunktion zur Folge, dass über den Herstellungsanspruch nur Vorgänge fingiert werden können, die sich aus den sozialrechtlichen gesetzlichen Bestimmungen ergeben (Gagel, SGb 2000, 517, 518). Zu diesen gesetzlichen Bestimmungen gehört auch § 44 Abs. 4 SGB X.
77

Hiervon ausgehend kann der Zeitpunkt zur Stellung eines Überprüfungsantrages im Rahmen von § 44 Abs. 4 SGB X vorliegend nicht im Wege des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs vorverlegt werden. Denn zum einen ist der sozialrechtliche Herstellungsanspruch vorliegend bereits nicht neben dem Anspruch aus § 44 SGB X anwendbar, weil es sich um eine Fallkonstellation handelt, in der das rechtswidrige Verwaltungshandeln allein in den Grenzen des § 44 SGB X als Sondervorschrift überprüft wird. Dies schließt erst Recht aus, dass einzelne Voraussetzungen des § 44 SGB X im Wege des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs fingiert bzw. in zeitlicher Hinsicht verändert werden. Vielmehr schließt der dem § 44 SGB X gebührende Vorrang die Herleitung von weitergehenden (nicht über § 44 SGB X erreichbaren) Rechtsfolgen über den sozialrechtlichen Herstellungsanspruch aus.
78

Zudem würde selbst bei unterstellter Zulässigkeit des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs im Rahmen von § 44 Abs. 4 SGB X letztlich mit der Vorverlegung des Zeitpunktes für den Überprüfungsantrag die 4-Jahresfrist des § 44 Abs. 4 SGB X und die damit verbundene Wertentscheidung des Gesetzgebers umgangen. Die im Wege des Herstellungsanspruchs herbeigeführte Rechtsfolge würde damit gerade nicht im Einklang mit dem Gesetz stehen, was einen solchen Herstellungsanspruch im Ergebnis ausschließt.
79

Gemäß § 44 Abs. 4 SGB X hat der Leistungsträger nach Rücknahme eines nicht begünstigenden Verwaltungsaktes die zu Unrecht vorenthaltenen Sozialleistungen längstens für einen Zeitraum bis zu 4 Jahren vor der Rücknahme zu erbringen. Der in dieser Regelung manifestierte Wille des Gesetzgebers würde missachtet, wenn letztlich unter denselben Voraussetzungen durch Zuhilfenahme des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs eine Erbringung der vorenthaltenen Leistungen für einen weiter als 4 Jahre zurückliegenden Zeitraum erreicht werden könnte. Mit § 44 Abs. 4 SGB X hat der Gesetzgeber im Hinblick auf nachträglich bewilligte Sozialleistungen für die Vergangenheit eine materiell-rechtliche Einschränkung schaffen wollen, weil er das Institut der Verjährung für die erstrebte Leistungsbegrenzung nicht für ausreichend gehalten hat (zur Entstehungsgeschichte BSG vom 21. Januar 1987 – 1 RA 27/86– SozR § 44 Nr. 25). Gerade die Ausgestaltung als materiell-rechtliche Anspruchsbegrenzung und Ausschlussfrist zeigen, dass der Gesetzgeber die rückwirkende Leistungsgewährung im Interesse der Rechtssicherheit unbedingt beschränken wollte. Insoweit ist wiederum zu berücksichtigen, dass § 44 Abs. 1 und 2 SGB X eine Durchbrechung der Rechtskraft zugunsten der Versicherten vorsieht, die aber aus Gründen der Kontinuität und Rechtssicherheit zeitlich begrenzt werden soll. Diese Aufgabe der Begrenzung erfüllt – wie bereits dargestellt – § 44 Abs. 4 SGB X. Bei einer Umgehung der in § 44 Abs. 4 SGB X geregelten Frist im Wege des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs würde das über § 44 Abs. 1 und 2 SGB X einerseits und § 44 Abs. 4 SGB X andererseits austarierte Gleichgewicht zwischen materieller Gerechtigkeit und Rechtssicherheit in einer nicht mehr mit der Intention des Gesetzes vereinbarten Weise gestört.
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Unerheblich ist dabei, dass die anfänglich höchstrichterlich vertretene Auffassung, § 44 Abs. 4 SGB X sei Ausdruck eines allgemeinen Rechtsgedankens, wonach Leistungen generell nicht über 4 Jahre hinaus rückwirkend zu gewähren sind (BSGE 60, 245, 247 [BSG 09.09.1986 – 11a RA 28/85] = SozR 1300 § 44 Nr. 24; BSG SozR 1300 § 44 Nr. 25 und 45), zwischenzeitlich aufgegeben worden ist (vgl. BSGE 79, 177 [BSG 22.10.1996 – 13 RJ 17/96] = SozR 3-1200 § 45 Nr. 6; BSGE 74, 267 [BSG 22.06.1994 – 10 RKg 32/93]; BSGE 89, 152). Denn es geht vorliegend nicht um eine analoge Anwendung des § 44 Abs. 4 SGB X im Rahmen des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs, sondern umgekehrt um eine abweichende Auslegung des § 44 Abs. 4 SGB X in den Fällen, in denen die Vorschrift unmittelbar anzuwenden ist, über einen sozialrechtlichen Herstellungsanspruch. Dies kann in Anbetracht des obigen Konkurrenzverhältnisses und des daraus folgenden Vorrangs der Regelung des § 44 SGB X nicht als zulässig erachtet werden. Hinzu kommt, dass derjenige, der als Folge eines fehlerhaften Verwaltungshandelns einen rechtswidrigen Bescheid erhalten hat und im Rahmen des Überprüfungsverfahren nach § 44 SGB X seine Ansprüche geltend macht, nicht schlechter gestellt werden darf als der Versicherte, der „nur“ unzutreffend oder nicht beraten wurde und dem aus diesem Grund eine Leistung rechtwidrig vorenthalten worden ist, zumal es in beiden Fällen nicht auf ein behördliches Verschulden ankommt. Der Herstellungsanspruch, der die Verletzung einer Nebenpflicht (vorliegend durch unterlassenen Hinweis auf die Nichtumsetzung der BSG-Entscheidung vom 24. Oktober 1996 – 4 RA 31/96) durch den Leistungsträger sanktioniert, darf daher nicht weiter reichen, als der Anspruch nach § 44 Abs. 1 SGB X, der die Verletzung einer Hauptpflicht (vorliegend durch fehlende Anwendung der BSG-Entscheidung) sanktioniert (BSG vom 27. März 2007 – B 13 R 34/06 m. w. N.)
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Im Ergebnis sind somit die Voraussetzungen des § 44 SGB X bezogen auf die vorliegend streitgegenständliche Zeit vom 1. April 1994 bis 31. Dezember 2000 nicht erfüllt, weil dem die materiell-rechtliche Anspruchsbeschränkung des § 44 Abs. 4 SGB X entgegen steht.
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Das Begehren der Klägerin konnte somit unter keinem denkbaren rechtlichen Gesichtspunkt zum Erfolg führen.
83

Es bleibt der Klägerin vorbehalten, die Nachzahlungsbeträge, die aufgrund der Anwendung des § 44 Abs. 4 SGB X nicht zur Auszahlung gelangen, im Wege des Amtshaftungsanspruchs geltend zu machen. Insoweit wird auf die Entscheidung des Landgerichts Berlin vom 18. Februar 2010 (AZ: 9 O 259/09) verwiesen. Der Amtshaftungsanspruch selbst bleibt von § 44 Abs. 4 SGB X unberührt (BGH VersR 1989, S. 747 [BGH 09.03.1989 – III ZR 76/88]).
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
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Die Revision war nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht erfüllt sind.

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