LSG Baden-Württemberg Urteil vom 11.10.2018, L 7 R 446/18 Sozialrechtliches Verwaltungsverfahren – Nachleistungsbegrenzung des § 44 Abs 4 SGB 10 – keine Dispositionsbefugnis

März 3, 2019

LSG Baden-Württemberg Urteil vom 11.10.2018, L 7 R 446/18

Sozialrechtliches Verwaltungsverfahren – Nachleistungsbegrenzung des § 44 Abs 4 SGB 10 – keine Dispositionsbefugnis

Leitsätze

§ 44 Abs. 4 SGB X beinhaltet eine materiell-rechtliche Ausschlussfrist, die als zwingendes Recht von Amts wegen zu beachten ist und nicht zur Disposition der Beteiligten steht (Anschluss an BSG, Urteil vom 26. Mai 1987 – 4a RJ 49/86 – BSGE 62, 10 – juris Rdnr.18; Urteil vom 23. Juli 1986 – 1 RA 31/85 – BSGE 60, 158 – juris Rdnr. 16).

Tenor

Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Stuttgart vom 18. Dezember 2017 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand

1

Zwischen den Beteiligten ist die Gewährung einer Rente wegen Erwerbs- bzw. Berufsunfähigkeit über den 30. Juni 2000 hinaus nach dem Sozialgesetzbuch (SGB) Sechstes Buch (VI) – Gesetzliche Rentenversicherung – (SGB VI) im Rahmen eines Zugunstenverfahrens nach dem Zehnten Buch Sozialgesetzbuch – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz – (SGB X) streitig.
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Die 1960 geborene Klägerin zog 1964 aus der Türkei in die Bundesrepublik Deutschland zu. Sie absolvierte eine Ausbildung zur Rechtsanwaltsfachangestellten und war ab April 1988 als Schreibkraft beim Landkreis E., zuletzt in Teilzeit mit einer wöchentlichen Arbeitszeit von 25 Stunden, beschäftigt. Seit Juni 1995 war sie arbeitsunfähig bzw. arbeitslos.
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Am 9. April 1997 beantragte die Klägerin bei der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte, der Rechtsvorgängerin der Beklagten (zukünftig einheitlich Beklagte), eine Rente wegen Berufsunfähigkeit bzw. Erwerbsunfähigkeit wegen einer im Juni 1995 aufgetretenen psychosomatischen Erkrankung. Nachdem der Arzt für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie Dr. M. in seinem Gutachten vom 2. Juni 1997 – unter Berücksichtigung der Diagnosen angstneurotische Entwicklung, neurasthenische Persönlichkeitsstruktur, Asthma bronchiale – zu der Einschätzung gelangt war, dass die Klägerin leichte Bürotätigkeiten als Verwaltungsangestellte im Landratsamt halb- bis unter vollschichtig verrichten könne, lehnte die Beklagte den Rentenantrag durch Bescheid vom 3. September 1997 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 17. November 1997 ab. Die Klägerin sei noch in der Lage, in dem ihrem Leistungsvermögen entsprechenden innegehaltenen bzw. angebotenen Teilzeitarbeitsplatz tätig zu sein. In dem anschließend von der Klägerin vor dem Sozialgericht (SG) Stuttgart geführten Klageverfahren S 17 RA 5831/97 erkannte die Beklagte einen Anspruch auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit auf Zeit aufgrund eines Leistungsfalls vom 9. April 1997 bis voraussichtlich 30. Juni 2000 an, nachdem die Ärztin für Psychiatrie und Naturheilverfahren Dr. S. in ihrem Gutachten vom 11. Mai 1998 eine Panikattacke mit Agoraphobie mit einer ausgeprägten phobischen Einengung beschrieben, eine konsequente Fortsetzung der begonnenen ambulanten Psychotherapie empfohlen und zum damaligen Zeitpunkt keine ausreichende Belastbarkeit für eine regelmäßige Berufsausübung gesehen hatte sowie die Beratungsärztin der Beklagten, Nervenärztin Dr. S., in ihrer nervenärztlichen Stellungnahme vom 16. Juni 1998 eine Zeitberentung für gerechtfertigt gehalten hatte. Die Beklagte bewilligte der Klägerin für die Zeit vom 1. November 1997 bis zum 30. Juni 2000 eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (Bescheid vom 19. Februar 1999).
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Am 4. April 2000 beantragte die Klägerin die Fortzahlung der bis zum 30. Juni 2000 bewilligten Rente. Auf Anfrage der Beklagten nahm die behandelnde Ärztin für Psychotherapie Dr. Sc unter dem 13. Juni 2000 dahingehend Stellung, dass sie eine Depression sowie Phobien diagnostiziert habe, der Zustand der Klägerin insgesamt stabiler sei, aber in emotional belastenden Situationen sehr schnell depressive Beschwerden mit Rückzugstendenzen sowie Neigung zu phobischen Beschwerden auftreten könnten. Es sei zu einer Befundbesserung und Stabilisierung gekommen. Die Beklagte veranlasste eine nervenärztliche Begutachtung. Der Facharzt für Neurologie und Psychiatrie sowie Psychotherapeutische Medizin Dr. W. gelangte in seinem Gutachten vom 6. Juli 2000 – unter Berücksichtigung der Diagnosen Angststörung und Panik bei Attacken von Dyspnoe – zu der Einschätzung, dass die Klägerin ihre letzte berufliche Tätigkeit als Verwaltungsangestellte vollschichtig verrichten könne. Insgesamt habe sich das Beschwerdebild gebessert. Die Erkrankung sei medikamentös und verhaltenstherapeutisch angehbar. Eine wesentliche Einschränkung der Leistungsfähigkeit bestehe nicht. Daraufhin lehnte die Beklagte durch Bescheid vom 11. August 2000 den Antrag auf Weitergewährung der Rente wegen Berufsunfähigkeit bzw. Erwerbsunfähigkeit über den 30. Juni 2000 hinaus ab, da sie nicht berufsunfähig bzw. erwerbsunfähig sei. Dagegen legte die Klägerin am 18. August 2000 Widerspruch ein. Die Beratungsärztin der Beklagten Dr. S. schloss sich in ihrer nervenärztlichen Stellungnahme vom 15. November 2000 der Leistungseinschätzung des Dr. W. an. Daraufhin wies die Beklagte den klägerischen Widerspruch gegen den Bescheid vom 11. August 2000 als unbegründet zurück (Widerspruchsbescheid vom 2. Februar 2001). Gegen diese Entscheidung erhob die Klägerin am 13. Februar 2001 Klage zum SG Stuttgart (S 8 RA 737/01), das den Rechtsstreit an das SG Heilbronn verwies (S 4 RA 2911/02). In diesem Verfahren wurde Beweis erhoben durch Einholung nervenärztlicher Gutachten bei dem Arzt für Psychiatrie und Neurologie Dr. F. vom 15. Oktober 2001 nebst ergänzenden Stellungnahmen vom 7. Januar 2002 und vom 8. August 2002, wonach die Klägerin in der Lage sei, als Verwaltungsangestellte vollschichtig tätig zu sein (Diagnosen leichte, nicht mehr mit einer Panikstörung verbundene Agoraphobie), sowie bei dem Facharzt für Neurologie und Psychotherapie und Psychiatrie Dr. H. vom 2. Juni 2003, der eine Dysthymia und eine Agoraphobie mit leichten Panikattacken diagnostizierte und von einem vollschichtigen Leistungsvermögen für leichte körperliche Tätigkeiten ausging. Daraufhin wies das SG Heilbronn die Klage durch Urteil vom 17. Februar 2004 – gestützt auf die Gutachten des Dr. F. und Dr. H. – ab, weil die Klägerin weder erwerbsunfähig im Sinne des § 44 Abs. 2 Satz 1 SGB VI alter Fassung (a.F.) noch berufsunfähig im Sinne des § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI a.F. sei. In dem sich anschließenden Berufungsverfahren vor dem Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg (L 13 RA 1780/04) erstattete auf Antrag der Klägerin nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) die Ärztin für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie Dr. G. unter dem 10. Mai 2005 ein nervenärztliches Gutachten (Diagnosen Angststörung mit Panikstörung und Agoraphobie auf dem Boden einer frühen Persönlichkeitsstörung; berufliches Leistungsvermögen unter drei Stunden täglich). Der 13. Senat des LSG Baden-Württemberg wies die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG Heilbronn durch Urteil vom 13. Dezember 2005 zurück, da sie keinen Anspruch auf Rente wegen Erwerbs- oder Berufsunfähigkeit über den 30. Juni 2000 hinaus und auch keinen Anspruch auf Rente wegen voller oder teilweiser Erwerbsminderung nach dem seit 1. Januar 2001 geltenden Recht habe. Die Klägerin könne seit 1. Juli 2000 wieder vollschichtig ihrer letzten versicherungspflichtigen Beschäftigung im Schreibdienst beim Landratsamt E. nachgehen. Erst recht erfülle sie nicht die noch strengeren Anforderungen für das Vorliegen einer Erwerbsunfähigkeit.
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Am 27. September 2006 beantragte die Klägerin eine Überprüfung des „Sachverhalts nach § 44 SGB X“ sowie die Weitergewährung der Rente wegen Erwerbsunfähigkeit über den 30. Juni 2000 hinaus. Diesen Antrag lehnte die Beklagte ab (Bescheid vom 3. Mai 2007). Der Bescheid vom 11. August 2000 sei nicht zu beanstanden. In dem sich anschließenden Widerspruchsverfahren holte die Beklagte bei der Ärztin für Psychiatrie, Psychotherapie und Neurologie Dr. B. ein weiteres Gutachten ein. Diese gelangte in ihrem Gutachten vom 13. November 2007 – unter Berücksichtigung der Diagnosen Panikstörung mit Agoraphobie, emotional instabile Persönlichkeitsstörung Typ Borderline – zu der Einschätzung, dass die Klägerin ihre letzte Tätigkeit als Verwaltungsangestellte seit 13. November 2007 unter drei Stunden und leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes zeitweise im Stehen, Gehen und Sitzen in Tagesschicht nur noch unter drei Stunden verrichten könne. Die Beklagte wies den Widerspruch durch Widerspruchsbescheid vom 17. Juli 2008 zurück. Berufs- bzw. Erwerbsunfähigkeit im Sinne der §§ 43, 44 SGB VI a.F. habe über den 30. Juni 2000 nicht vorgelegen. Die Ermittlungen im Rahmen des Widerspruchsverfahrens hätten jedoch ergeben, dass im September 2006 volle Erwerbsminderung eingetreten sei. Zu diesem Zeitpunkt hätten jedoch die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen nicht vorgelegen. Der betreffend den Bescheid vom 3. Mai 2007 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 17. Juli 2008 geführte Rechtsstreit um die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsunfähigkeit über den 30. Juni 2000 hinaus hatte keinen Erfolg (SG Stuttgart, Gerichtsbescheid vom 27. Juli 2010 – S 22 R 5649/08 -; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 14. März 2012 – L 5 R 4211/10 -).
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Einen Überprüfungsantrag der Klägerin betreffend den Bescheid vom 3. Mai 2007 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 17. Juli 2008 lehnte die Beklagte durch Bescheid vom 14. Mai 2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 12. September 2013 ab. Dabei fasste die Beklagte das Begehren der Klägerin dahingehend auf, dass sie die Zeit ab 1. Januar 2001 als Anrechnungszeit wegen Arbeitsunfähigkeit im Sinne des § 58 Abs. 1 Nr. 1 SGB VI begehre. In dem sich anschließenden Klageverfahren vor dem SG Stuttgart (S 17 R 5641/13) wegen der durchgehenden Anerkennung der Zeit von 2001 als Anrechnungszeit hatte die Klage keinen Erfolg (Urteil vom 25. August 2015). In dem von der Klägerin angestrebten Berufungsverfahren vor dem LSG Baden-Württemberg L 9 R 4001/15 schlossen die Beteiligten am 27. Juli 2016 folgenden Vergleich:

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„1. Die Beklagte erklärt sich bereit, die Ablehnung der Weitergewährung von Erwerbsunfähigkeitsrente über den 30.06.2000 hinaus (Bescheid vom 11.08.2000) erneut zu überprüfen und zwar unter Außerachtlassung der Vier-Jahres-Frist des § 44 SGB X.

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2. Die Klägerin nimmt die Berufung zurück.

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3. Außergerichtliche Kosten des Berufungsverfahrens sind nicht zu erstatten.“
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Die Beklagte lehnte durch Bescheid vom 8. August 2016 den Antrag der Klägerin auf Rücknahme des Bescheids vom 11. August 2000 ab. Nach § 44 SGB X sei die Beklagte verpflichtet, einen rechtswidrigen Bescheid zurückzunehmen, wenn sich herausstelle, dass das Recht unrichtig angewandt oder von einem unrichtigen Sachverhalt ausgegangen worden sei und deshalb Leistungen zu Unrecht nicht erbracht worden seien. Die Überprüfung des Bescheids vom 11. August 2000 habe ergeben, dass weder das Recht unrichtig angewandt noch von einem unrichtigen Sachverhalt ausgegangen worden sei. Aus ärztlicher Sicht hätten sich keine neuen medizinischen Sachverhalte ergeben, die eine günstigere Entscheidung hätten herbeiführen können. Dagegen legte die Klägerin Widerspruch ein (Schriftsatz ihres Bevollmächtigten vom 12. September 2016) und machte geltend, dass sie eine Neurologin und Psychiaterin aufbieten könne zum Beweis, dass sie im maßgeblichen Zeitraum nicht in der Lage gewesen sei, den Anforderungen des allgemeinen Arbeitsmarktes zu entsprechen. Die Beklagte wies den Widerspruch der Klägerin durch Widerspruchsbescheid vom 12. Januar 2017 als unbegründet zurück. Es bestehe über den 30. Juni 2000 hinaus kein Anspruch auf Rente wegen Berufsunfähigkeit bzw. Erwerbsunfähigkeit, weil die Voraussetzungen der §§ 43 Abs. 2, 44 Abs. 2 SGB VI in der bis zum 31. Dezember 2000 geltenden Fassung nicht erfüllt seien.
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Dagegen hat die Klägerin am 3. Februar 2017 Klage zum SG Stuttgart erhoben (S 18 R 499/17) und ihr Überprüfungsbegehren hinsichtlich des Bescheids vom 11. August 2000 weiterverfolgt.
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Das SG hat – nach Anhörung der Beteiligten – die Klage durch Gerichtsbescheid vom 18. Dezember 2017 abgewiesen. Es lägen keine Erkenntnisse vor, die eine Einschränkung des beruflichen Leistungsvermögens zum 30. Juni 2000 rechtfertigten. Gegen den am 21. Dezember 2017 versandten Gerichtsbescheid hat die Klägerin am 15. Januar 2018 zum SG Stuttgart Berufung eingelegt und ihr Überprüfungsbegehren weiterverfolgt.
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Die Klägerin beantragt (teilweise sinngemäß),

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den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Stuttgart vom 18. Dezember 2017 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 8. August 2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 12. Januar 2017 zu verurteilen, ihr unter Rücknahme des Bescheids vom 11. August 2000 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 2. Februar 2001 eine Rente wegen Berufsunfähigkeit, hilfsweise wegen Erwerbsunfähigkeit ab 1. Juli 2000 zu gewähren.
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Die Beklagte beantragt,

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die Berufung zurückzuweisen.
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Der Berichterstatter hat mit den Beteiligten am 27. Juni 2018 einen Erörterungstermin durchgeführt; hinsichtlich der Einzelheiten wird auf die Niederschrift über die nichtöffentliche Sitzung vom 27. Juni 2018 (Bl. 50/52 der Senatsakten) Bezug genommen.
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Die Beteiligten haben ihr Einverständnis mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung erteilt.
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Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts sowie des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Verwaltungsakten der Beklagten sowie die Verfahrensakten des SG (S 18 R 499/17, S 17 R 5641/13, S 8 RA 737/01) sowie des LSG Baden-Württemberg (L 7 R 446/18, L 9 R 4001/15, L 5 R 4211/10 und L 13 RA 1780/04) Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Die Berufung der Klägerin hat keinen Erfolg.
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1. Die Berufung ist zulässig, sie ist gemäß § 151 Abs. 1 und 2 SGG form- und fristgerecht eingelegt worden sowie statthaft (§143 SGG), weil die Berufung wiederkehrende Leistungen für mehr als ein Jahr betrifft (§ 144 Abs. 1 Satz 2 SGG).
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2. Gegenstand des Verfahrens ist der Bescheid vom 8. August 2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 12. Januar 2017 (§ 95 SGG), mit dem die Beklagte die Korrektur des Bescheids vom 11. August 2000 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 2. Februar 2001 sowie die Fortzahlung der bis zum 30. Juni 2001 gewährten Rente wegen Erwerbsunfähigkeit über den 30. Juni 2001 hinaus abgelehnt hat. Zwar ist im Zweifel davon auszugehen, dass ein Antragsteller alles zugesprochen haben möchte, was ihm aufgrund des Sachverhalts zusteht (vgl. Bundessozialgericht , Urteil vom 17. Februar 2005 – B 13 RJ 1/04 R – juris Rdnr. 15; Urteil vom 11. November 1987 – 9 a RV 22/85 – juris Rdnr. 11), jedoch ist die gerichtliche Entscheidung vorliegend auf die Prüfung begrenzt, ob der im Zugunstenverfahren angegriffene Bescheid vom 11. August 2000 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 2. Februar 2001 fehlerhaft war. Denn die anwaltlich vertretene Klägerin hat ihr Überprüfungsbegehren ausweislich des am 27. Juli 2016 im Verfahren L 9 R 4001/15 geschlossenen Vergleichs auf die Überprüfung des Bescheids vom 11. August 2000 sowie die Weitergewährung der Rente wegen Erwerbsunfähigkeit über den 30. Juni 2000 beschränkt. Nur darüber hat die Beklagte mit dem hier streitgegenständlichen Bescheid vom 8. August 2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 12. Januar 2017 entschieden (vgl. BSG, Urteil vom 15. Juni 2010 – B 2 U 22/09 R – juris Rdnr. 18). Insbesondere hat sie keine Überprüfung des Bescheids vom 3. Mai 2007 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 17. Juli 2008 begehrt, mit dem die Beklagte u.a. die Gewährung einer Rente wegen voller und teilweiser Erwerbsminderung aufgrund eines angenommenen Leistungsfalls im September 2006 mangels Erfüllung der versicherungsrechtlichen Voraussetzungen abgelehnt hatte. Unabhängig davon, dass der Bescheid vom 3. Mai 2007 in dem Vergleich vom 27. Juli 2016 nicht erwähnt wird und die Klägerin auf diesen Bescheid im vorliegenden Verfahren zu keiner Zeit Bezug genommen hat, war der Bescheid vom 3. Mai 2007 bereits Gegenstand des Rechtsstreits S 22 R 5698/08 und L 5 R 4211/10 und eines Zugunstenverfahrens (Bescheid vom 14. Mai 2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 12. September 2013). Ihr Überprüfungsbegehren verfolgt die Klägerin zulässigerweise im Wege der kombinierten Anfechtungs-, Verpflichtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 1 Satz 1 i. V. m. Abs. 4, 56 SGG; vgl. BSG, Urteil vom 28. Februar 2013 – B 8 SO 4/12 R – juris Rdnr. 9).
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3. Die Berufung der Klägerin hat keinen Erfolg. Der Bescheid vom 8. August 2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 12. Januar 2017 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten. Die Klägerin hat gegen die Beklagte keinen Anspruch auf Rücknahme des Bescheids vom 11. August 2000 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 2. Februar 2001.
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a. Verfahrensrechtliche Grundlage für das Überprüfungsbegehren der Klägerin ist die Bestimmung des § 44 SGB X. Hiernach ist, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass eines Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind, der Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen (§ 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X). Ist ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen worden, werden Sozialleistungen nach den Vorschriften der besonderen Teile dieses Gesetzbuches längstens für einen Zeitraum bis zu vier Jahren vor der Rücknahme erbracht (§ 44 Abs. 4 Satz 1 SGB X). Dabei wird der Zeitpunkt der Rücknahme von Beginn des Jahres an gerechnet, in dem der Verwaltungsakt zurückgenommen wird; erfolgt die Rücknahme auf Antrag, tritt bei der Berechnung des Zeitraumes, für den rückwirkend Leistungen zu erbringen sind, anstelle der Rücknahme der Antrag (§ 44 Abs. 4 Sätze 2 und 3SGB X).
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b. Die Voraussetzungen für die Rücknahme des Bescheids vom 11. August 2000 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 2. Februar 2001 liegen nicht vor. Denn dem Überprüfungsbegehren der Klägerin steht § 44 Abs. 4 SGB X entgegen (aa.). Im Übrigen war die Rentenablehnung im Bescheid vom 11. August 2000 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 2. Februar 2001 im Zeitpunkt ihres Erlasses nicht rechtswidrig (bb.).
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aa. Dem Überprüfungsbegehren der Klägerin steht bereits § 44 Abs. 4 SGB X entgegen.
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§ 44 Abs. 4 SGB X begrenzt den Zeitraum, für den im Falle einer Rücknahme Sozialleistungen nachträglich erbracht werden. Dabei hat die Verwaltung schon eine Rücknahmeentscheidung nach § 44 Abs. 1 SGB X nicht mehr zu treffen, wenn die rechtsverbindliche, grundsätzlich zurückzunehmende Entscheidung keine Wirkungen mehr entfalten kann, also ausschließlich Leistungen für Zeiten betrifft, die außerhalb der durch den Rücknahmeantrag bestimmten Verfallsfrist liegen (z.B. BSG, Urteil vom 23. Februar 2017 – B 4 AS 57/15 R – juris Rdnr. 23). Die Unanwendbarkeit der Vollzugsregelung des § 44 Abs. 4 SGB X, also die nicht mehr vorhandene Möglichkeit einer rückwirkenden Erbringung von Sozialleistungen, steht dann auch einer isolierten Rücknahme eines rechtswidrigen Bescheides nach § 44 Abs. 1 SGB X entgegen (BSG, Urteil vom 23. Februar 2017 – B 4 AS 57/15 R – juris Rdnr. 23 m.w.N.; Urteil des Senats vom 29. Juni 2017 – L 7 SO 4603/16 – n.v.).
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Nach diesen Maßstäben hat die Beklagte es im streitgegenständlichen Bescheid im Ergebnis zu Recht abgelehnt, den Bescheid vom 11. August 2000 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 2. Februar 2001 zurückzunehmen, da die Klägerin sinngemäß am 27. Juli 2016 das Überprüfungsverfahren betreffend den Bescheid vom 8. August 2000 beantragt hat, sodass eine rückwirkende Leistungsgewährung gem. § 44 Abs. 4 Satz 1 SGB X erst ab dem 1. Januar 2012 möglich gewesen wäre. Die Frage der Rentengewährung für diesen Zeitraum regelt der Ablehnungsbescheid, der keinen Dauerverwaltungsakt beinhaltet, nicht. Dies folgt schon daraus, dass die Beklagte durch Bescheid vom 3. Mai 2007 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 17. Juli 2008 das Rentenbegehren der Klägerin erneut und umfassend geprüft hat und dem Ablehnungsbescheid vom 8. August 2001 jedenfalls für die Zeit ab 1. Januar 2012 keinerlei Regelungswirkung mehr zukommt.
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Ein anderes Ergebnis folgt nicht aus dem zwischen den Beteiligten geschlossenen Vergleich vom 27. Juli 2016, mit dem sich die Beklagte bereit erklärt hat, die Ablehnung der Weitergewährung von Erwerbsunfähigkeitsrente über den 30. Juni 2000 hinaus (Bescheid vom 11. August 2000) erneut zu überprüfen und zwar unter Außerachtlassung der Vier-Jahres-Frist des § 44 SGB X. Zur „Außerachtlassung der Vier-Jahres-Frist des § 44 SGB X“ konnte sich die Beklagte nicht mittels des in der nichtöffentlichen Sitzung vor dem 9. Senat beim LSG Baden-Württemberg am 27. Juli 2016 zu Protokoll geschlossenen gerichtlichen Vergleiches (§ 101 Abs. 1 Satz 1 SGG) wirksam verpflichten. Der Prozessvergleich ist unwirksam. Zwar kann die Behörde, anstatt einen Verwaltungsakt zu erlassen, einen öffentlich-rechtlichen Vertrag schließen (vgl. § 53 Abs. 1 Satz 2 SGB X) und ein Rechtsverhältnis auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts durch Vertrag begründen, ändern oder aufheben, jedoch nur, soweit Rechtsvorschriften nicht entgegenstehen (§ 53 Abs. 1 Satz 1 SGB X). Die Verwaltung hat dabei stets den rechtsstaatlichen Vorrang des Gesetzes zu beachten (Art. 20 Abs. 3 Grundgesetz ) (BSG, Urteil vom 2. April 2014 – B 4 AS 26/13 R – BSGE 115, 210 – juris Rdnr. 34; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 19. Juli 2018 – L 6 U 2309/17 – juris Rdnr. 33). Die Behörde muss sich innerhalb des Rahmens halten, welcher ihr durch materielles Recht oder Verwaltungsverfahrensrecht gesteckt wird (Engelmann in von Wulffen/Schütze, SGB X, 8. Aufl. 2014, § 53 Rdnr. 23; Nielsson in jurisPK-SGB X, 2. Aufl. 2017 , § 53 Rdnr. 68; Wehrhahn in Kasseler Kommentar, Stand Juni 2018, § 53 SGB X Rdnr. 12). Zwar führt nicht jeder Verstoß gegen zwingende Normen des Sozialverwaltungsverfahrensrechts und des materiellen Sozialrechts zur Unwirksamkeit eines gerichtlichen Vergleichs (vgl. z.B. BSG, Urteil vom 1. April 1981 – 9 RV 43/80 – juris Rdnrn. 20 ff.; Urteil vom 17. Mai 1989 – 10 RKg 16/88 – juris Rdnrn. 19 ff.; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 19. Juli 2018 – L 6 U 2309/17 – juris Rdnr. 33; ferner BSG, Urteil vom 2. April 2014 – B 4 AS 26/13 R – BSGE 115, 210 – juris Rdnr. 34), jedoch war die Beklagte vorliegend nicht befugt, sich durch einen Vergleich zur Überprüfung des Bescheids vom 11. August 2000 bezüglich der Ablehnung der Weitergewährung von Erwerbsunfähigkeitsrente über den 30. Juni 2000 hinaus unter Außerachtlassung des § 44 Abs. 4 SGB X bereit zu erklären.
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Die entscheidungserhebliche Norm des § 44 Abs. 4 SGB X beinhaltet eine materiell-rechtliche Ausschlussfrist, die als zwingendes Recht von Amts wegen zu beachten ist. Die Ausschlussfrist des § 44 Abs. 4 SGB X steht nicht zur Disposition der Beteiligten (BSG, Urteil vom 26. Mai 1987 – 4a RJ 49/86 – BSGE 62, 10 – juris Rdnr. 18; Urteil vom 23. Juli 1986 – 1 RA 31/85 – BSGE 60, 158 – juris Rdnr. 16; Bayerisches LSG, Urteil vom 31. Januar 2018 – L 6 R 490/17 – juris Rdnr. 14, Urteil vom 30. März 2016 – L 6 R 1/15 – juris Rdnr. 17; Urteil vom 13. November 2013 – L 16 AS 270/13 – juris Rdnr. 32; Hessisches LSG, Urteil vom 23. August 2013 – L 5 R 359/12 – juris Rdnr. 53; Schleswig-Holsteinisches LSG, Urteil vom 20. Juni 2002 – L 5 U 102/01 – juris Rdnr. 31; Baumeister in jurisPK-SGB X, 2. Aufl. 2017 , § 44 Rdnr. 121; Merten in Hauck/Noftz, Stand April 2018, § 44 SGB X Rdnrn. 91 und 98; Schütze in von Wulffen/Schütze, a.a.O., § 44 Rdnr. 28; Siewert/Waschull in LPK-SGB X, 4. Aufl. 2016, § 44 Rdnr. 65; Steinwedel in Kasseler Kommentar, a.a.O., § 44 Rdnr. 54). Es unterliegt somit nicht dem Ermessen oder gar dem Belieben des Versicherungsträgers, ob er § 44 Abs. 4 SGB X anwenden will oder nicht. Vielmehr ist ihm – wie dem Senat – diese Anwendung zwingend durch die Gesetzesbindung von Verfassungs wegen vorgeschrieben (Art. 20 Abs. 3 GG). Die Ausschlussfrist trägt dem Charakter von Sozialleistungen Rechnung, die im Wesentlichen dem Unterhalt des Berechtigten dienen und einen aktuellen Bedarf ausgleichen sollen (z.B. BSG, Urteil vom 13. Februar 2014 – B 4 AS 19/13 R – BSGE 115, 121 – juris Rdnr. 21). Außerdem berücksichtigt die Frist des § 44 Abs. 4 SGB X das Interesse der Leistungsträger an einer Überschaubarkeit ihrer Leistungsverpflichtungen. Nach Ablauf der Ausschlussfrist räumt der Gesetzgeber dem Grundsatz der Rechtssicherheit Vorrang gegenüber dem Streben nach materieller Gerechtigkeit ein (vgl. BSG, Urteil vom 24. April 2014 – B 13 R 23/13 R – juris Rdnr. 21; Urteil vom 8. Februar 2012 – B 5 R 38/11 R – juris Rdnr. 17; Baumeister, a.a.O. Rdnr. 113).
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Im vorliegenden Verfahren war im Zeitpunkt der (erneuten) Anbringung des Antrags nach § 44 SGB X betreffend den Bescheid vom 8. August 2000 im Juli 2016 der entsprechende Korrekturanspruch der Klägerin i.S. des § 44 SGB X materiell-rechtlich offensichtlich ausgeschlossen; dieser war erloschen und nicht mehr existent. Denn der rentenablehnende Bescheid vom 11. August 2000 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 2. Februar 2001 war im Zeitpunkt des Abschlusses des Vergleichs bestandskräftig und für die Beteiligten bindend (§ 77 SGG). Dieser beinhaltet – wie dargelegt – keinen Dauerverwaltungsakt und hat für die Zeit vor dem 1. Januar 2012 im Hinblick auf den Bescheid vom 3. Mai 2007 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 17. Juli 2008 ohnehin keinerlei Regelungswirkung mehr entfaltet. Somit war nach Maßgabe des § 44 Abs. 4 SGB X im Zeitpunkt der Anbringung des Antrages nach § 44 SGB X von vornherein ein Anspruch der Klägerin auf Rücknahme des Bescheids vom 8. August 2000 nicht mehr existent und bereits erloschen. Es bestand im Rahmen eines Zugunstenverfahrens – entsprechend dem Zweck der Ausschlussfrist – keine Möglichkeit zur rückwirkenden Erbringung der von der Klägerin begehrten Rente ab 1. Juli 2000 mehr (vgl. BSG, Urteil vom 23. Februar 2017 – B 4 AS 57/15 R – juris Rdnr. 23). Diese Möglichkeit konnte durch den Vergleich der Beteiligten vom 27. Juli 2016 auch nicht neu begründet werden (vgl. zu einem Ausnahmefall LSG Berlin, Urteil vom 23. August 2004 – L 1 KN 1/03 – juris Rdnr. 27 f.).
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bb. Zudem war der Bescheid vom 11. August 2000 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 2. Februar 2001 im Zeitpunkt seines Erlasses nicht rechtswidrig, sodass eine Rücknahme des Ursprungsbescheids auch nicht in Betracht käme.
33

Die Bestimmung des § 44 SGB X setzt voraus, dass der zu überprüfende Verwaltungsakt zum Zeitpunkt seines „Erlasses“, d.h. seiner Bekanntgabe (§ 39 Abs. 1 Satz 1 SGB X; vgl. BSG, Urteil vom 7. September 2006 – B 4 RA 43/05 R – BSGE 97, 94 – Rdnr. 54; BSG, Urteil vom 25. Januar 2011 – B 5 R 46/10 R – juris Rdnr. 9) rechtswidrig gewesen sein muss. Vorliegend abzustellen ist mithin auf den Widerspruchsbescheid vom 2. Februar 2001 (vgl. dazu BSG, Urteil vom 4. November 1998 – B 13 RJ 27/98 R – juris Rdnr. 15), welcher der Klägerin unter Berücksichtigung der Fiktion des § 37 Abs. 2 Satz 1 SGB X am 5. Februar 2001 als bekanntgegeben gilt. Hinsichtlich der Beurteilung der Fehlerhaftigkeit eines Verwaltungsakts im Rahmen des § 44 SGB X ist maßgeblich der Erkenntnisstand zum Zeitpunkt der Überprüfung, wobei eine rückschauende Betrachtungsweise vorzunehmen ist; Grundlage der Beurteilung ist sonach die damalige Sach- und Rechtslage, jedoch aus heutiger „geläuterter“ Sicht (vgl. BSG, Urteil vom 25. Oktober 1984 – 11 RAr 3/83 – BSGE 57, 209 – juris Rdnrn. 10 f.; BSG, Urteil vom 14. November 2002 – B 13 RJ 47/01 R – BSGE 90, 136 – juris Rdnr. 19).
34

Als Anspruchsgrundlage für die Weitergewährung der bis zum 30. Juni 2000 bewilligte Rente kommen §§ 43 und 44 SGB VI in der bis zum 31. Dezember 2000 geltenden Fassung (a.F.) in Betracht. Nach § 43 Abs. 1 Satz 1 SGB VI a.F. haben Versicherte bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres Anspruch auf Rente wegen Berufsunfähigkeit, wenn sie 1. berufsunfähig sind, 2. in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Berufsunfähigkeit drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben und 3. vor Eintritt der Berufsunfähigkeit die allgemeine Wartezeit erfüllt haben. Gem. § 43 Abs. 2 SGB VI a.F. sind berufsunfähig Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit wegen Krankheit oder Behinderung auf weniger als die Hälfte derjenigen von körperlich, geistig und seelisch gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten gesunken ist. Der Kreis der Tätigkeiten, nach denen die Erwerbsfähigkeit von Versicherten zu beurteilen ist, umfasst alle Tätigkeiten, die ihren Kräften und Fähigkeiten entsprechen und ihnen unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs ihrer Ausbildung sowie ihres bisherigen Berufs und der besonderen Anforderungen ihrer bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können. Zumutbar ist stets eine Tätigkeit, für die die Versicherten durch Leistungen zur beruflichen Rehabilitation mit Erfolg ausgebildet oder umgeschult worden sind. Berufsunfähig ist nicht, wer eine zumutbare Tätigkeit vollschichtig ausüben kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen. Nach § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB VI a.F. haben Versicherte bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres Anspruch auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit, wenn sie 1. erwerbsunfähig sind, 2. in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsunfähigkeit drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben und 3. vor Eintritt der Erwerbsunfähigkeit die allgemeine Wartezeit erfüllt haben. Gem. § 44 Abs. 2 SGB VI a.F. sind Versicherte erwerbsunfähig, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, eine Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit auszuüben oder Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen zu erzielen, das monatlich 630 Deutsche Mark übersteigt; erwerbsunfähig sind auch Versicherte nach § 1 Nr. 2 SGB VI, die wegen Art oder Schwere der Behinderung nicht auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt tätig sein können. Erwerbsunfähig ist nicht, wer 1. eine selbständige Tätigkeit ausübt oder 2. eine Tätigkeit vollschichtig ausüben kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen.
35

Die Klägerin war im Zeitpunkt des Erlasses des zur Überprüfung gestellten Bescheids weder berufs- noch erwerbsunfähig. Der Senat ist ebenso wie der 13. Senat (Urteil vom 13. Dezember 2005 – L 13 RR 1780/04 -) und der 5. Senat des LSG Baden-Württemberg (Urteil vom 14. März 2012 – L 5 R 4211/10 -) davon überzeugt, dass die Klägerin im Februar 2001 nicht berufsunfähig oder erwerbsunfähig war.
36

Der 13. Senat hat in seinem Urteil vom 13. Dezember 2005 u.a. Folgendes ausgeführt:
37

„Die Klägerin kann seit 1. Juli 2000 wieder vollschichtig ihrer letzten versicherungspflichtigen Beschäftigung im Schreibdienst beim Landratsamt E. in der Gehaltsstufe BAT VII nachgehen; diese ist der maßgebliche Bezugsberuf. Zwar war die zuvor ausgeübte Tätigkeit als Rechtsanwaltsgehilfin qualitativ höherwertig. Von dieser Tätigkeit hat sie sich jedoch freiwillig gelöst, da sie sie nicht aus gesundheitlichen Gründen aufgegeben hat. Die für die Beurteilung des beruflichen Leistungsvermögens der Klägerin relevanten Gesundheitsstörungen liegen auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet. Es liegen dabei keine Gesundheitsstörungen vor, die eine Reduzierung des beruflichen Leistungsvermögens ab 1. Juli 2000 auf ein untervollschichtiges Maß nach sich ziehen könnten. Dies steht fest aufgrund der drei auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet vorliegenden Gutachten von Dr. W., Dr. F. und Dr. H., die zwar in der Diagnose etwas voneinander abweichen; sie stimmen jedoch in der Leistungsbeurteilung überein, die sich der Senat zu eigen macht. Dr. W. hat in seinem Gutachten vom 6. Juli 2000 eine Angststörung und Panikattacken von Dyspnoe genannt. Dr. F. gibt in seinem nervenfachärztlichen Gutachten vom 15. Oktober 2001 eine leichte, nicht mehr mit einer Panikstörung verbundene Agoraphobie an. Dr. H. schließlich diagnostiziert in seinem nervenfachärztlichen Gutachten vom 2. Juni 2003 eine chronische depressive Verstimmung, die nach Auswirkung und Dauer nicht einer depressiven Episode entspricht, sowie eine Agoraphobie mit leichten Panikattacken. Aufgrund der Ergebnisse insbesondere dieser drei Gutachten steht zur Überzeugung des Senats jedoch fest, dass jedenfalls eine das Leistungsvermögen in relevantem Umfang limitierende Erkrankung auf psychiatrischem Gebiet nicht vorliegt. Die Klägerin ist im freiem Gebrauch ihrer seelischen Kräfte leicht bis allenfalls streckenweise mäßiggradig gehindert. Hierin stimmen die drei Gutachter überein. Nach den übereinstimmend erhobenen klinisch-psychiatrischen Befunden liegt aber keine Einschränkung in der Konzentration, in der Auffassung, im Gedächtnis oder im Durchhaltevermögen vor. Den entgegenstehenden Beurteilungen von Dr. G. in ihrem Sachverständigengutachten vom 10. Mai 2005 und der Neurologin/Psychiaterin K. in ihrer schriftlichen Zeugenauskunft vom 27. Juni 2002 vermag der Senat demgegenüber nicht zu folgen. Bestätigt wird die Überzeugung des Senats durch die schriftliche Zeugenauskunft des die Klägerin seit Dezember 1998 behandelnden Hausarztes Dr. W.. Er hat in seiner Zeugenauskunft vom 22. April 2001 ausgeführt, dass ihm keine Erkrankung der Klägerin bekannt sei, die den Bezug einer Erwerbsunfähigkeitsrente erklären könne. Krankheiten, die eine maßgebliche Einschränkung der Arbeitsfähigkeit begründeten, seien ihm nicht bekannt. Die Neurologin und Psychiaterin K. führt in ihrer schriftlichen Zeugenauskunft vom 27. Juni 2002 zwar aus, bei der Klägerin liege eine chronifizierte Angststörung mit Angst vor der Angst und Vermeideverhalten vor, weswegen ihr nur eine leichte Bürotätigkeit von maximal vier Stunden täglich möglich sei. Bei ihrer Aussage kann sie sich jedoch auf lediglich zwei Kontakte mit der Klägerin, nämlich am 17. und 31. Mai 2002 beziehen, die im Rahmen der Ergänzung arbeitsamtsärztlicher Gutachten erfolgte. Erst zu einem späteren Zeitpunkt hat die Klägerin eine kontinuierliche Behandlung bei ihr aufgenommen. Zudem hat Dr. F. in seiner ergänzenden nervenfachärztlichen Stellungnahme vom 8. August 2002 hierzu ausgeführt, dass die quantitative Begrenzung auf vier Stunden täglich ein Beschwerdebild milderer Art nahelegt, da bei häufigen, schweren Panikattacken Erwerbsunfähigkeit vorläge. Dann aber ist nicht nachvollziehbar, warum die Klägerin hiervon ausgehend nicht auch vollschichtig arbeiten kann, da es eine Angststörung bzw. phobische Störung milderer Art nicht mit sich bringt, dass der an ihr Leidende nach Absolvierung eines halben Arbeitstages so erschöpft wäre, dass eine weitere Arbeit seine Gesundheit gefährdet. Dies gilt auch für das Attest der Ärztin K. vom 28. Januar 2004. Zwar gründet es auf einer inzwischen 18monatigen Behandlung der Klägerin. Es bringt jedoch verglichen mit der sachverständigen Zeugenauskunft vom 27. Juni 2002 und im Hinblick auf die im Attest angeführten Befunde keine Verschlechterung des Gesundheitszustandes der Klägerin zum Ausdruck, die Grund sein könnte, an den vorherigen Beurteilungen des Leistungsvermögens der Klägerin durch die Sachverständigen Dr. W., Dr. F. und Dr. H. zu zweifeln. Nicht folgen kann der Senat auch der Leistungsbeurteilung der Sachverständigen Dr. G.. Ausgehend von den Diagnosen einer Angststörung mit Panikstörung und einer Agoraphobie auf dem Boden einer früheren Persönlichkeitsstörung führt sie aus, die Klägerin könne Tätigkeiten außerhalb der eigenen Wohnung im Prinzip nicht ausüben, da sie nicht zuverlässig in der Lage sei, Menschenansammlungen, wie diese in einem Arbeitsteam anzunehmen seien, zu ertragen. Eine Tätigkeitsausübung sei jedoch unter drei Stunden täglich möglich. Abgesehen davon, dass diese beiden Aussagen einander widersprechen, ist aus dem Gutachten nicht schlüssig ableitbar, warum bei der Klägerin eine schwerwiegende Angststörung mit Panikstörung vorliegen soll. Das Gutachten von Dr. G. lässt eine spezifische Erörterung und gutachterliche Würdigung der Tagesstrukturierung, des allgemeinen Interessenspektrums und der sozialen Interaktionsfähigkeit der Klägerin vermissen. Der Schweregrad psychiatrischer Erkrankungen kann aber gerade aus Defiziten in diesen Bereichen abgeleitet werden. Deshalb kommt einer sorgfältigen Anamneseerhebung im Rahmen psychiatrischer Begutachtungen eine besondere Bedeutung zu (vgl. hierzu allgemein: Empfehlung für die sozialmedizinische Beurteilung psychischer Störungen, Herausgeber: Verband Deutscher Rentenversicherungsträger, Frankfurt am Main 2001 [DRV- Schriften Band 30], S. 12 ff. und 16 ff.). Das Gutachten gibt nur in aller Kürze den Tagesablauf der Klägerin wieder und führt in der epikritischen Beurteilung nur aus, dass sich in der Krankheitsgeschichte in der Folgezeit zunehmend auch Ängste entwickelt hätten, die sie in der gesamten Bandbreite der üblichen Aktivitäten einengten. Als Ausdruck dessen wird aber dann lediglich die Angst, Aufzüge zu benutzen, Auto zu fahren, durch ein Tunnel zu fahren, einkaufen zu gehen sowie das Nichtertragen größerer Menschenansammlungen angegeben. Demgegenüber erörtern und würdigen gutachterlich Dr. W. und insbesondere Dr. H. erschöpfend die Tagesstrukturierung, das allgemeine Interessenspektrum und die soziale Interaktionsfähigkeit der Klägerin. Wenn diese den Gutachtern Dr. F. und Dr. H. berichtet hat, dass sie häufig mit dem Hund spazieren gehe, auch ihre Schwester besuche, dass sie viele Freunde habe und sich mit diesen auch treffe und man dann etwas miteinander unternehme, auch gemeinsam in Urlaub fahre, dass sie mit den Kindern die Einkäufe erledige, und insbesondere auch das von Dr. F. festgehaltene beachtliche allgemeine Interessenspektrum der Klägerin würdigt, ist es nicht nachvollziehbar, das sie nicht dazu in der Lage sein soll, Tätigkeiten außerhalb der eigenen Wohnung nachzugehen. Bei einem derart beträchtlichen Spektrum von persönlichen Aktivitäten und Interessen ist nicht erkennbar, dass eine schwerwiegende Angstsymptomatik vorliegt, die erhebliche Einschränkungen des Aktionsradius mit sich brächte. Den bei der Klägerin vorliegenden qualitativen Funktionseinschränkungen kann bei einer Tätigkeit als Angestellte im Schreibdienst beim Landratsamt in ausreichender Weise Rechnung getragen werden. Es handelt sich hierbei um leichte Arbeit. Eine Überforderung durch Akkordarbeit, Wechselschicht, Nachtarbeit oder durch Arbeit mit besonderem Zeitdruck ist bei einer derartigen Tätigkeit nicht zu befürchten. Ebenso stellt eine Tätigkeit als Verwaltungsangestellte im Schreibdienst keine besonderen Ansprüche an Konzentration und Auffassung und bringt keine erhöhte Verantwortung oder eine besondere (hohe) geistige Beanspruchung mit sich. Da nach den überzeugenden Darlegungen von Dr. W., Dr. F. und Dr. H. letztlich auch eine relevante Einschränkung der Wegefähigkeit – die Klägerin ist in der Lage, viermal täglich eine Wegstrecke von über 500 Metern in zumutbarem Zeitaufwand zurückzulegen und zweimal täglich öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen (vgl. BSG, Urteil vom 30. Januar 2002 – B 5 RJ 36/01 R – veröffentlicht in Juris) – nicht gegeben ist, steht zur Überzeugung des Senats fest, dass die Klägerin ihren zuletzt ausgeübten Beruf als Angestellte beim Landratsamt wieder seit 1. Juli 2000 vollschichtig verrichten kann. Der Ausnahmefall einer Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder einer schweren spezifischen Leistungsbehinderung (vgl. hierzu etwa BSG SozR 2200 § 1246 Nr. 117; auch Großer Senat BSGE 80, 24, 33 ff.) ist nicht gegeben. Da die Klägerin somit nicht berufsunfähig ist, erfüllt sie erst recht nicht die noch strengeren Anforderungen für das Vorliegen von Erwerbsunfähigkeit.“
38

Diesen Ausführungen schließt sich der Senat nach eigener Sachprüfung an. Ergänzend weist der Senat darauf hin, dass die seinerzeit behandelnde Ärztin für Psychotherapie Dr. Sc einen deutlich stabilisierten psychischen Gesundheitszustand der Klägerin beschrieben hatte (Befundbericht vom 13. Juni 2000). Der Rentengutachter Dr. W. hatte auf Grundlage seiner ambulanten Untersuchung im Juni 2000 keinen Anhalt für eine belangvolle psychische Erkrankung gesehen und auch eine deutliche Besserung des Beschwerdebildes beschrieben. Der Facharzt für Allgemeinmedizin Dr. W., der die Klägerin letztmalig im Dezember 2000 behandelt hatte, schloss in seiner Stellungnahme vom 22. April 2001 eine schwerwiegende Erkrankung aus. In ihrer Stellungnahme vom 7. Mai 2001 vertrat Dr. Sc zwar die Auffassung, dass die Klägerin lediglich halbschichtig belastbar sei, berichtete jedoch im Widerspruch zu dieser Einschätzung darüber, dass die phobische Störung mit funktionellen Atembeschwerden weitgehend in den Hintergrund gerückt sei und eine depressive Symptomatik nicht durchgehend bestanden habe. Dr. F. beschrieb aufgrund seiner ambulanten Untersuchung am 9. Oktober 2001 – wie Dr. W. – eine deutliche Besserung und Stabilisierung des psychischen Gesundheitszustandes. Die Stellungnahmen der Neurologin und Psychiaterin K. (Schreiben vom 27. Juni 2002, 28. Januar 2004 und 30. März 2007) sowie der Dipl.-Psychologin von H. (Schreiben vom 20. April 2003, 4. Juni 2007 und 28. Januar 2014) sind nicht geeignet, eine andere Beurteilung des beruflichen Leistungsvermögens zu begründen, weil diese die Klägerin erstmals nach dem hier maßgeblichen Zeitpunkt Februar 2001 untersucht bzw. behandelt haben. Bei der Nervenärztin K. stellte sich die Klägerin erstmals im Mai 2002 vor, bei der Dipl.-Psychologin von H. im September 2002.
39

Schließlich lässt sich die Frage nach einer gesundheitlich bedingten Minderung der Erwerbsfähigkeit der Klägerin im hier maßgeblichen Zeitraum Februar 2001 nicht weiter aufklären. Die Klägerin hat im Verfahren S 17 R 5641713 in der mündlichen Verhandlung vor dem SG Stuttgart erklärt, dass sie Dr. Sc in den Jahren 2000 bis 2002 nicht mehr aufgesucht habe, die Nervenärztin K. und die Dipl.-Psychologin von H. erst im Jahr 2002 kennengelernt habe sowie dass keine weiteren Arztbriefe bzw. Befundberichte aus den Jahren 2000 bis 2002 vorhanden seien. In dem Berufungsverfahren L 9 R 4001/15 hat sie im Erörterungstermin vom 27. Juli 2016 klarstellend ausgeführt, dass sie letztmalig im Februar 2001 bei Dr. Sc und erstmalig im Mai 2002 bei der Nervenärztin K. in Behandlung gewesen sei und dazwischen keine Behandlung bzw. Therapie stattgefunden habe. Diese Ärzte sind in den vorangegangen Verwaltungs- und Gerichtsverfahren zu den von ihnen erhobenen Befunden als Zeugen befragt, ihre Stellungnamen sind berücksichtigt und gewürdigt worden. Die vorgelegten „Eidesstattlichen Versicherungen“ der Kinder, der Schwester, des Neffen und der Nichte der Klägerin sowie der Bekannten, allesamt aus dem Juli 2018, schildern deren subjektive Erinnerungen an ihr Zusammenleben bzw. ihre Begegnungen mit der Klägerin aus einem zeitlichen Abstand von mehr als 17 Jahren. Diese Schilderungen ermöglichen es nicht, Ausprägung und Dauer der psychischen Erkrankung der Klägerin sowie Art, Umfang und Dauer der daraus resultierenden quantitativen und qualitativen Leistungseinschränkungen bezogen auf Februar 2001 festzustellen. Dies geht zu Lasten der Klägerin, da sie die objektive Beweislast für das Vorliegen einer Erwerbsunfähigkeit trägt.
40

4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
41

5. Gründe für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG) liegen nicht vor.

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