OLG Frankfurt am Main, 29.08.2017 – 8 U 172/16

März 20, 2019

OLG Frankfurt am Main, 29.08.2017 – 8 U 172/16
Tenor:

Die Berufung der Klägerin gegen das am 22.7.2016 verkündete Urteil der 2. Zivilkammer des Landgerichts Wiesbaden (Az. 2 O 42/15) wird zurückgewiesen.

Die Klägerin hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.

Dieses Urteil und das angefochtene Urteil sind vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin kann die Vollstreckung der Beklagten gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 120 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vor Beginn der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 120% des jeweils zu vollstreckenden Betrags leistet.

Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe

I.

Die Klägerin fordert von der Beklagten wegen behaupteter Behandlungsfehler Ersatz immateriellen Schadens sowie die Feststellung der Pflicht zum Ersatz gegenwärtiger und künftiger materieller und immaterieller Schäden.

Die 194X geborene Klägerin ist aufgrund eines frühkindlichen Schädelhirntraumas körperlich und geistig behindert und lebt in einem Pflegeheim in O1. Sie hat unter anderem epileptische Anfälle, eine Spitzfußstellung, welche zu einem „Watschelgang“ führt, eine ausgeprägte Skoliose, eine verdrehte Wirbelsäule mit Schulter Hochstand und ist stark verlangsamt. Sie wird von Ihrer Schwester gesetzlich betreut.

Die Klägerin wurde von der Beklagten, einer … Physiotherapeutin, regelmäßig seit … 2013 behandelt. Die Behandlungen fanden zweimal in der Woche statt, wobei immer mit leichten Übungen im Sitzen begonnen wurde und sich in der Regel eine sogenannte Gangschule anschloss. Die Klägerin war in der Lage, sich alleine, insbesondere beim Stehen, abzustützen und mit dem Rollator um Gegenstände herum zu gehen, sowie sich um die eigene Achse zu drehen.

Am XX.XX.2014 kam es während der Gangschule zu einem Sturz der Klägerin. Die Beklagte ließ die Klägerin an ihrem Rollator, wie üblich, den Gang in Richtung Speisesaal an der Seite des Handlaufs entlanglaufen. Die Klägerin trug Kompressionsstrümpfe, sowie maßgefertigtes orthopädisches Schuhwerk. Die Beklagte befand sich in unmittelbarer Nähe der Klägerin mit einem Rollstuhl. Bei ihrem Sturz zog die Klägerin sich eine bimalleolare OSG-Fraktur zu. Vorkommnisse in der Vergangenheit, bei denen die Klägerin während der Gangschule mit der Beklagten gestürzt war, gab es nicht.

Die Klägerin hat behauptet, die Beklagte habe ihr nach einer kurzen Wegstrecke unvermittelt die Anweisung gegeben, nach links zu gehen. Dies habe sie so irritiert, dass sie die Kontrolle über ihren Körper verloren habe und gestürzt sei. Sie hat weiter behauptet, die Beklagte sei bei der Gangschule behandlungsfehlerhaft nicht direkt neben ihr gelaufen, sondern den Rollstuhl schiebend hinter ihr her gegangen sei. Wegen des Sturzes sei sie zunächst bis zum XX.XX.2014 stationär behandelt worden. Danach habe sich ihr Pflegebedarf drastisch erhöht und sie sei ein Schwerstpflegefall geworden.

Das Landgericht, auf dessen Urteil hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und der in erster Instanz gestellten Anträge verwiesen wird, hat die Klage nach Einholung eines physiotherapeutischen Sachverständigengutachtens abgewiesen, weil keine Pflichtverletzung der Beklagten habe festgestellt werden können.

Dagegen wendet sich die Klägerin mit ihrer Berufung, mit der sie ihre erstinstanzlichen Rechtsschutzziele vollständig weiterverfolgt. Sie rügt, dass das Landgericht und der Sachverständige den Sachverhalt ausschließlich auf der Grundlage des streitigen Beklagtenvortrags beurteilt hätten und dass das Landgericht zu ihren Gunsten nicht die Grundsätze des vollbeherrschbaren Gefahrenbereichs angewandt habe.

Die Klägerin beantragt,

1.

die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin ein angemessenes Schmerzensgeld nebst Zinsen i.H.v. 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz nach § 247BGB ab Rechtshängigkeit zu zahlen;
2.

festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin sämtliche materiellen und weiteren immateriellen Schäden aus Anlass des Unfalls vom XX.XX.2014 zu ersetzen, soweit kein Leistungsübergang auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte erfolgt ist;
3.

die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin vorprozessualer Rechtsanwaltskosten i.H.v. 3465,28 € nebst Zinsen i.H.v. 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz gemäß § 247 BGB ab Rechtshängigkeit zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie verteidigt das angefochtene Urteil.

Der Senat hat weiter Beweis erhoben durch eine erneute Anhörung des gerichtlich bestellten Sachverständigen. Hinsichtlich des Ergebnisses dieser Beweisaufnahme wird auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung verwiesen.

II.

Die zulässige Berufung ist nicht begründet. Das Landgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen.

1. Die Beweislast für die Feststellung eines Behandlungsfehlers liegt im vorliegenden Fall bei der Klägerin. Die von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze zu einer Beweislastumkehr wegen eines durch die Behandlerseite voll beherrschbaren Risikos sind im vorliegenden Fall, wie das Landgericht zutreffend erkannt hat, nicht anwendbar.

a) Voll beherrschbare Risiken sind dadurch gekennzeichnet, dass sie durch den Klinik- oder Praxisbetrieb gesetzt werden und durch dessen ordnungsgemäße Gestaltung ausgeschlossen werden können und müssen. Sie sind abzugrenzen von den Gefahren, die aus den Unwägbarkeiten des menschlichen Organismus bzw. den Besonderheiten des Eingriffs in diesen Organismus erwachsen und deshalb der Patientensphäre zuzurechnen sind. Denn die Vorgänge im lebenden Organismus können auch vom besten Arzt oder Therapeuten nicht immer so beherrscht werden, dass schon der ausbleibende Erfolg oder auch ein Fehlschlag auf eine fehlerhafte Behandlung hindeuten würden (BGH, Beschluss vom 16.8.2016 – VI ZR 634/15.

b) Bei krankengymnastischer Übungen besteht die Behandlung im Gegensatz zu pflegerischen Maßnahmen oder beim Transport des Patienten typischerweise gerade in der Anweisung und Anleitung zu aktiver Bewegung, bei welcher Geschicklichkeit, Mitarbeit und Konzentration des Patienten gefordert sind, so dass der Ablauf von den Unwägbarkeiten des menschlichen Organismus geprägt ist und von der Therapeutin nicht voll beherrscht werden kann (OLG München, Urteil vom 17.9.1998 – 1 U 3254/98; OLG Düsseldorf, Urteil vom 23.5.2005 – 8 U 82/04; OLG Koblenz, Beschluss vom 2.1.2013 – 5 U 693/12; OLG Köln, Urteil vom 8.2.2017 – 5 U 17/16).

Auch der Sachverständige hat mehrfach betont, dass der Sinn einer Gangschule, wie sie hier durchgeführt wurde, darin besteht, dass die Patientin das eigenständige Laufen übt. Das hat zwingend zur Folge, dass die Sturzgefahr von Seiten der Therapeutin nicht vollständig ausgeschlossen werden kann.

2. Die erneute Anhörung des Sachverständigen hat ergeben, dass auch auf der Grundlage des streitigen Klägervortrags keine Haftung der Beklagten in Betracht kommt.

a) Der Sachverständige hat nachvollziehbar dargelegt, dass eine etwaige, auch plötzliche Aufforderung der Beklagten an die Klägerin, nach links zu gehen, keinen Behandlungsfehler darstellt. Vielmehr sei eine solche Maßnahme ein zulässiger und sogar üblicher Teil einer Gangschule, um den Patienten für solche im Alltag möglichen Situationen zu schulen. Das ist überzeugend und wird von der Klägerin auch nicht mehr infrage gestellt.

b) Die Beklagte kann darüber hinaus auch dann nicht für den Sturz und seine Folgen in Anspruch genommen werden, wenn man davon ausgeht, dass sie, wie die Klägerin vorträgt, den Rollstuhl hinter der vor ihr gehenden Klägerin hergeschoben hat. Zwar hat der Sachverständige ein solches Vorgehen der Beklagten für behandlungsfehlerhaft gehalten, weil die Therapeutin in diesem Fall keine Möglichkeit gehabt hätte kurzfristig einzugreifen, weil sich der Stuhl zwischen ihr und der Patientin befunden hätte. Ein solcher – unterstellter – Behandlungsfehler würde im konkreten Fall aber keine Haftung der Beklagten zu begründen vermögen.

aa) Der Behandlungsfehler wäre nicht als grob im Sinne der Rechtsprechung einzustufen und würde deshalb keine Beweislastverschiebung zu Gunsten der Klägerin bewirken.

Ein Behandlungsfehler ist nur dann als grob zu bewerten, wenn der Arzt oder Therapeut eindeutig gegen bewährte Behandlungsregeln oder gesicherte medizinische Erkenntnisse verstoßen und einen Fehler begangen hat, der aus objektiver Sicht nicht mehr verständlich erscheint, weil er einem Arzt oder Therapeuten schlechterdings nicht unterlaufen darf (BGH, Urteile vom 27.4.2004 – VI ZR 34/03; vom 27.3.2007 – VI ZR 55/05 = BGHZ 172, 1 und vom 25.10.2011 – VI ZR 139/10).

Diese Voraussetzungen sind vorliegend nicht erfüllt. Das ergibt sich aus den Ausführungen des Sachverständigen bei seiner Anhörung vor dem Senat. Der Sachverständige hat dargelegt, dass die wesentlichen Sicherungsmaßnahmen für eine Patientin in der Situation der Klägerin im vorliegenden Fall erfüllt waren. Dieses war neben dem Tragen von Kompressionsstrümpfen und orthopädischem Schuhwerk zur Vermeidung der Spitzfußstellung vor allem die Nutzung eines Rollators als Stütze. Ein Rollator ist nach überzeugender Ansicht des Sachverständigen im vorliegenden Fall immer eine ausreichende Sturzprophylaxe, weil die Hände an den Griffen des Rollators eine Bewegungsachse bilden, die aus den Schultergelenken über das Hüftgelenk bis in die Sprunggelenke wirkt.

Es ist unmittelbar nachvollziehbar, dass die betroffene Patientin dadurch erheblich stabilisiert und sowohl seitlich als auch nach vorne spürbar vor Stürzen geschützt wird. Wenn sich eine Therapeutin unter solchen Umständen dafür entscheidet, nicht neben ihrer Patientin herzugehen, sondern den Rollstuhl in unmittelbarer Nähe hinter dieser herzuschieben, handelt es sich ersichtlich nur um eine eher geringfügige Nachlässigkeit, die im Therapiealltag geschehen kann. Diese Einschätzung wird insbesondere dadurch unterstützt, dass die Gangschule in dieser Form von beiden Beteiligten bereits über viele Monate gemeinsam ohne Probleme bewältigt werden konnte, so dass von Seiten der Beklagten nicht mehr in besonderem Maße mit einem Sturzereignis gerechnet werden musste. Nicht außer Betracht gelassen werden kann ferner, dass das direkte Mitführen eines Rollstuhls, das – nach Behauptung der Klägerin – bei fachgerechtem Verhalten der Beklagten hätte unterbleiben müssen, auch Vorteile bot. Denn dadurch konnte die Gangschule jederzeit problemlos unterbrochen werden, in dem die Klägerin sich bei Bedarf einfach sofort in den Rollstuhl setzte.

Die Ausführungen des Sachverständigen zur Eignung des Rollators als Sicherungsmittel werden nicht durch das von der Klägerin vorgelegte Schreiben des A-Krankenhauses vom 7.8.2015 infrage gestellt. Zwar ist zutreffend, dass der Verfasser dieses Schreibens darin die Ansicht vertritt, dass auch bereits im Jahr 2012 der Klägerin die Benutzung eines Rollators wegen einer schweren, spastischen Fußfehlstellung aus neurologischer Sicht nicht möglich gewesen sei.

Die in dem Schreiben aufgestellte Behauptung ist jedoch zu pauschal, um die Feststellungen des Sachverständigen zu erschüttern und steht außerdem in deutlichem Widerspruch zum eigenen Vortrag und Verhalten der Klägerpartei.

In dem Schreiben wird lediglich apodiktisch eine Position formuliert. Es lässt jegliche nachvollziehbare Begründung vermissen. Auch bleibt vollständig offen, auf Grund welcher Erkenntnisse der Verfasser den Gesundheitszustand der Klägerin im Jahr 2015 beurteilen zu können meint. Der konkrete damalige Gesundheitszustand der Klägerin und die Vorgeschichte werden nicht beachtet. Das Schreiben bleibt daher insgesamt ohne ausreichenden Bezug zum konkreten Fall und vermag infolgedessen keine Unklarheiten oder Widersprüche in dem gerichtlich eingeholten Gutachten aufzuzeigen, denen der Senat nachgehen müsste. Der Sachverständige hat zudem bereits bei seiner Anhörung sein Unverständnis über die angekündigte Einführung des Schreibens in den Prozess geäußert.

Die Klägerin erläutert darüber hinaus nicht, wieso die Gangschule seinerzeit gleichwohl ärztlich verschrieben und auch auf Betreiben der Betreuerin der Klägerin über viele Monate erfolgreich durchgeführt worden ist.

bb) Der Klägerin ist es nicht gelungen, die Ursächlichkeit des – unterstellten – Behandlungsfehlers der Beklagten für den Sturz und seine Folgen darzulegen. Der anspruchstellenden Partei obliegt es, sämtliche Voraussetzungen für eine Haftung der Gegenseite vorzutragen und zu beweisen. Hierzu zählt bei sämtlichen hier in Betracht kommenden Anspruchsgrundlagen (§ 280 Abs. 1 BGB und § 823 Abs. 1 BGB) neben der Pflichtverletzung selbst auch der Kausalzusammenhang zwischen dieser und dem Primärschaden (BGH, Urteile vom 24.6.1986 – VI ZR 21/85; vom 21.7.1998 – VI ZR 15/98 und vom 22.5.2012 – VI ZR 157/11).

Diesen Anforderungen genügt der Klägervortrag im vorliegenden Fall nicht. Die Klägerin trägt keinen Sachverhalt vor, aus dem sich ergibt, dass der Sturz durch eine fehlerfreie Positionierung der Beklagten direkt neben der Klägerin verhindert worden wäre. Die Klägerin hält, wie in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat ausführlich erörtert worden ist, zu dem genauen Ablauf des Sturzes überhaupt keinen eigenen Sachvortrag, sondern begnügt sich weitegehend damit, die Darstellung der Gegenseite zu bestreiten. Das ist nicht genügend. Die Klägerin hätte dem konkreten Sachvortrag ihrer Gegnerin, dass der Unfall durch ein plötzliches Einknicken ohne erkennbaren Anlass ausgelöst worden sei eine konkrete eigene Unfallhergangsdarstellung entgegensetzen und diese unter Beweis stellen müssen. Der Sachverständige hat die Darstellung der Beklagtenseite nämlich für plausibel gehalten und der Beklagten attestiert, dass sie unter diesen Voraussetzungen, den Sturz nicht hätte vermeiden können. Es kommt damit ein Sachverhalt in Betracht, bei dem eine Haftung ausscheidet. In dieser Situation ist die darlegungsbelastete Partei gehalten, selbst konkrete Tatsachen zu vorzutragen, aus denen sich die behauptete Verantwortlichkeit der Gegenseite für den Sturz ergibt. Dass ihr dies, wie in der mündlichen Verhandlung erörtert, aufgrund der konkreten Umstände des Falles unter Umständen nicht möglich ist, kann nicht zulasten der Beklagten gehen.

Die Ansätze einer Sachverhaltsschilderung im Schriftsatz vom 20.1.2016 sind nicht genügend. Sie enthalten keine nachvollziehbare Darstellung eines Sturzvorgangs, der durch eine korrekte Positionierung der Beklagten hätte verhindert werden können, sondern laufen i.E. auch auf ein wegen der von der Klägerin erlittenen Sprunggelenksverletzung ja auch naheliegendes Umknicken hinaus. Gleiches gilt für die Aufzählung weiterer angeblich bei dem Sturz verursachten Verletzungen der Klägerin im Schriftsatz vom 18.5.2016. Auch dies ersetzt keinen zusammenhängenden Sachvortrag zum Unfallhergang.

I.E. ist deshalb davon auszugehen, dass es sich bei dem Sturz um ein unglückliches für die Klägerin womöglich sogar tragisches Ereignis gehandelt hat, welches aber unabhängig vom Zutun der Beklagten eingetreten ist. Klage und Berufung müssen daher ohne Erfolg bleiben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO und die Regelung der vorläufigen Vollstreckbarkeit auf §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.

Für eine Zulassung der Revision bestand kein Anlass.

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