OLG Frankfurt am Main, 11.07.2017 – 8 U 150/16

März 20, 2019

OLG Frankfurt am Main, 11.07.2017 – 8 U 150/16
Orientierungssatz:

1.

Im Arzthaftungsrecht ist ergänzend zu beachten, dass zur Sicherung eines fairen Verfahrens und der Waffengleichheit im Prozess an die Substantiierungspflicht des Patienten nur maßvolle Anforderungen gestellt werden dürfen, weil von diesem regelmäßig keine genaue Kenntnis der medizinischen Vorgänge erwartet und gefordert werden kann. Der Patient darf sich daher auf einen Vortrag beschränken, der für ihn aufgrund der Folgen die Vermutung eines fehlerhaften Verhaltens des Arztes gestattet.
2.

Hat der Kläger Ort und Zeit des behaupteten Behandlungsfehlers und dessen angebliche Folgen (hier: Schleimabsonderungen an den Stimmbändern und Schwierigkeiten bei der Stimmmodulation) konkret benannt, und ist er zu weiterem Vortrag, insbesondere zum Kausalzusammenhang zwischen der Beatmung und seinen Beschwerden ohne medizinische Fachkenntnisse nicht in der Lage, ist es Aufgabe des Gerichts, seine Behauptungen durch Einholung eines zusätzlichen anästhesiologischen Sachverständigengutachtens von Amts wegen zu überprüfen. Dass eine erfolgreiche Beweisführung unwahrscheinlich erscheint, berechtigt das Gericht nicht zu einer pauschalen eigenständigen Kausalitätsbeurteilung ohne Einholung medizinischen Sachverstands.

Tenor:

Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil der 4. Zivilkammer des Landgerichts Frankfurt am Main vom 15.6.2016 (2-04 O 248/14) aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landgericht Frankfurt am Main zurückverwiesen.

Die Entscheidung über die Kosten des Berufungsverfahrens bleibt dem Landgericht vorbehalten.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe

I.

Der Kläger beansprucht Schmerzensgeld und die Feststellung eines Schadensersatzanspruches wegen einer aus seiner Sicht fehlerhaften ärztlichen Behandlung.

Der Kläger, Jahrgang 19xx, zog sich im … 2010 eine Densfraktur Typ II der oberen Halswirbelsäule zu. Die Fraktur wurde zunächst während eines mehrtägigen stationären Aufenthalts des Klägers in der Klinik der Beklagten konservativ therapiert. Nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus stellte der Kläger sich bis zum 18.1.2011 bei der Beklagten zu ambulanten Kontrolluntersuchungen vor. Eine CT-Aufnahme vom 20.1.2011 zeigte eine deutliche Dislokation der betroffenen Knochenteile. Aufgrund dessen begab der Kläger sich im Februar 2011 für weitere 12 Tage in die Klinik der Beklagten. Dort erfolgte am …2.2011 unter Vollnarkose eine Operation des Bruches nach Anderson mittels anteriorer Verschraubung. Gleichwohl trat auch im weiteren Verlauf keine Knochenbindung ein. Vielmehr zeigten sich eine Pseudarthrose und eine Kallusbildung. … 2012 unterzog der Kläger sich in einer anderen Klinik einer Spondylodese.

Der Kläger hat behauptet, die Dislokation der Knochenteile sei wegen mangelhafter Befunderhebung zu spät erkannt worden. Auch die Operation vom …2.2011 sei nicht mit der notwendigen Sorgfalt und mit der falschen Operationstechnik durchgeführt worden. Zudem sei seine Beatmung fehlerhaft gewesen, weshalb er bis heute unter Schleimabsonderungen an den Stimmbändern und unter Schwierigkeiten bei der Stimmmodulation leide. Durch eine rechtzeitige und fehlerfreie Behandlung hätten die Entstehung der Pseudarthrose und die Spondylodese verhindert werden können.

Das Landgericht, auf dessen Urteil hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und der in 1. Instanz gestellten Anträge verwiesen wird, hat die Klage nach Einholung eines unfallchirurgischen Sachverständigengutachtens abgewiesen, weil keine Behandlungsfehler festzustellen seien. Den Vortrag des Klägers hinsichtlich seiner Beatmung während der OP hat es als unsubstantiiert bezeichnet.

Mit seiner Berufung verfolgt der Kläger seine erstinstanzlichen Rechtsschutzziele vollumfänglich weiter. Er rügt einerseits unter mehreren Aspekten die landgerichtliche Einschätzung der unfallchirurgischen Sachlage. Zusätzlich beanstandet er eine mangelhafte Beweiserhebung durch das Eingangsgericht hinsichtlich seines Vortrags zu durch die Schlauchbeatmung während der Operation ausgelösten Beschwerden im Bereich seiner Stimmbänder.

Der Kläger beantragt,

1.

die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger ein angemessenes Schmerzensgeld zu zahlen, dessen Festsetzung der Höhe nach in das pflichtgemäße Ermessen des Gerichts gestellt wird, nebst Zinsen i.H.v. 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit gemäß § 288 Abs. 1, 291 S. 1 1. HS BGB;
2.

festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger sämtliche aus der fehlerhaften Behandlung durch die Beklagte resultierenden weiteren materiellen Schäden für Vergangenheit und Zukunft, sowie die nicht vorhersehbaren immateriellen Zukunftsschäden zu ersetzen, soweit diese Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergehen oder bereits übergegangen sind;
3.

die Beklagte zu verurteilen, den Kläger gegenüber den nach dem RVG nicht konsumierten außergerichtlichen Kosten des Klägers bei den Prozessbevollmächtigten i.H.v. 2132,77 € nebst Zinsen i.H.v. 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit nach §§ 288 Abs. 1, 291 S. 1 1. HS BGB im Wege der Nebenforderung freizustellen;
4.

hilfsweise, die Sache dem Landgericht Frankfurt am Main als erstinstanzliches Gericht zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen;

hilfsweise, das Verfahren unter Aufhebung des vom Kläger angefochtenen Urteils ans Landgericht zurückzuverweisen.

Sie verteidigt das angefochtene Urteil.

II.

Die zulässige Berufung des Klägers hat insoweit Erfolg, als das angefochtene Urteil auf den Hilfsantrag beider Parteien hin aufzuheben und die Sache an das Gericht des ersten Rechtszugs zurückzuverweisen ist (§ 538 Abs. 2 S. 1 Ziff. 1 ZPO).

Die Prozessführung des Landgerichts war verfahrensfehlerhaft. Das erstinstanzliche Urteil beruht auch auf diesem Fehler. Zur Beseitigung des Fehlers ist eine aufwändige weitere Beweisaufnahme erforderlich.

Die Feststellungen des Landgerichts zu den Behandlungsfehlervorwürfen des Klägers im Hinblick auf seine Beatmung während der OP vom …2.2011 beruhen auf einer rechtsfehlerhaften Missachtung von Angriffsmitteln des Klägers und verletzen deshalb dessen Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG).

1. Der Gehörsgrundsatz verpflichtet die Gerichte, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen, sofern sich nicht aus Gründen des formellen oder materiellen Rechts etwas anderes ergibt (st. Rspr. BVerfG, vgl. Beschluss vom 14.3.2013 – 1 BvR 1457/12 m.w.N.; vgl. auch BGH, Beschluss vom 23.8.2016 – VIII ZR 178/15 m.w.N.).

Im Arzthaftungsrecht ist ergänzend zu beachten, dass zur Sicherung eines fairen Verfahrens und der Waffengleichheit im Prozess an die Substantiierungspflicht des Patienten nur maßvolle Anforderungen gestellt werden dürfen, weil von diesem regelmäßig keine genaue Kenntnis der medizinischen Vorgänge erwartet und gefordert werden kann. Der Patient darf sich daher auf einen Vortrag beschränken, der für ihn aufgrund der Folgen die Vermutung eines fehlerhaften Verhaltens des Arztes gestattet (st. Rspr., zuletzt BGH, Urteil vom 8.6.2004 – VI ZR 199/03 = BGHZ 159, 245; OLG Oldenburg, Beschluss vom 25.2.2008 – 5 W 10/08).

2. Nach diesen Maßstäben wurde das Recht des Klägers auf rechtliches Gehör hier im ersten Rechtszug verletzt.

Der Klägervortrag zu etwaigen Behandlungsfehlern anlässlich seiner Beatmung während der Operation vom …2.2011 entspricht den Anforderungen der Rechtsprechung an den Patientenvortrag in Arzthaftungsprozessen. Der Kläger hat Ort und Zeit des behaupteten Behandlungsfehlers und dessen angebliche Folgen (Schleimabsonderungen an den Stimmbändern und Schwierigkeiten bei der Stimmmodulation) konkret benannt. Zu weiterem Vortrag, insbesondere zum Kausalzusammenhang zwischen der Beatmung und den Beschwerden ist der Kläger ohne medizinische Fachkenntnisse nicht in der Lage. Es wäre deshalb Aufgabe des Landgerichts gewesen, die Behauptungen des Klägers durch Einholung eines zusätzlichen anästhesiologischen Sachverständigengutachtens von Amts wegen zu überprüfen. Dass eine erfolgreiche Beweisführung des Klägers wegen der im angefochtenen Urteil aufgelisteten Umstände unwahrscheinlich erscheint, berechtigt das Landgericht nicht zu einer pauschalen eigenständigen Kausalitätsbeurteilung ohne Einholung medizinischen Sachverstands. Das Urteil kann daher mit der vorliegenden Begründung keinen Bestand haben.

3. Inwieweit das Urteil abzuändern ist, kann derzeit nicht entschieden werden. Der Rechtsstreit ist nicht entscheidungsreif. Es ist zunächst das oben angesprochene anästhesiologische Gutachten einzuholen und ggf. der oder die ausgewählte Sachverständige anzuhören.

Insbesondere da ein gänzlich eigenständiger Sachverhaltskomplex aufzuklären ist, der im Rahmen der bisherigen Beweiserhebung in 1. Instanz keine Rolle gespielt hat, ist es im vorliegenden Fall sachdienlich, die Angelegenheit auf den Antrag beider Parteien an das Landgericht zurückzuverweisen. Die vorzunehmende Beweisaufnahme wird dadurch allenfalls geringfügig verzögert und den Parteien bleibt die insbesondere in Arzthaftungsprozessen oftmals wichtige zweite Tatsacheninstanz erhalten. Außerdem erhält das Landgericht auf diese Weise Gelegenheit, sich mit dem zusätzlichen Vortrag der Klägerseite und dem nunmehr zur Akte gelangten Sachverständigengutachten von Frau A auseinanderzusetzen.

4. Die Entscheidung über die Kosten des Berufungsverfahrens bleibt dem Landgericht überlassen.

Die Entscheidung über die sofortige Vollstreckbarkeit beruht auf § 708 Nr. 10 ZPO.

Für eine Zulassung der Revision besteht kein Anlass.

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