Achtung des Privat- und Familienlebens, Diskriminierungsverbot

Juni 9, 2020

Rechtssache K. gegen DEUTSCHLAND (Individualbeschwerde Nr. 23338/09)

Urteil vom 22. März 2012 in der Rechtssache K. gegen Deutschland (Nr. 23338/09): keine Verletzung von Artikel 8 i. V. m. Art. 14 EMRK (Achtung des Privat- und Familienlebens, Diskriminierungsverbot) durch die Abweisung der Klage des Beschwerdeführers auf Anfechtung der Vaterschaft

URTEIL

STRASSBURG

22. März 2012

Dieses Urteil wird nach Maßgabe von Artikel 44 Abs. 2 der Konvention endgültig. Es wird gegebenenfalls noch redaktionell überarbeitet.

In der Rechtssache K. ./. Deutschland
hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Fünfte Sektion) als Kammer mit den Richterinnen und Richtern
Dean Spielmann, Präsident,
Elisabet Fura,
Boštjan M. Zupančič,
Mark Villiger,
Ganna Yudkivska,
Angelika Nußberger,
André Potocki,
und Claudia Westerdiek, Sektionskanzlerin,
nach nicht öffentlicher Beratung am 21. Februar 2012
das folgende Urteil erlassen, das am selben Tag angenommen wurde.

VERFAHREN

1. Der Rechtssache lag eine Individualbeschwerde (Nr. 23338/09) gegen die Bundesrepublik Deutschland zugrunde, die ein deutscher Staatsangehöriger, Herr K. („der Beschwerdeführer“), am 30. April 2009 nach Artikel 34 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten („die Konvention“) beim Gerichtshof eingereicht hatte.
2. Der Beschwerdeführer wurde von Herrn R., Rechtsanwalt in B., vertreten. Die deutsche Regierung („die Regierung“) wurde durch ihre Verfahrensbevollmächtigte, Frau A. Wittling-Vogel vom Bundesministerium der Justiz, vertreten.
3. Der Beschwerdeführer machte insbesondere geltend, dass die Weigerung der nationalen Gerichte, ihm zu erlauben, die Vaterschaft eines anderen Mannes anzufechten und seine eigene Vaterschaft feststellen zu lassen, sein Recht auf Achtung seines Privat- und Familienlebens verletzt und ihn diskriminiert habe. Er rügte ferner, dass das Verfahren unverhältnismäßig lang gewesen sei und ihm kein wirksamer Rechtsbehelf zur Verfügung gestanden habe.
4. Am 4. Mai 2010 wurde die Beschwerde der Regierung zugeleitet. Es wurde ferner beschlossen, über die Zulässigkeit und die Begründetheit der Beschwerde gleichzeitig zu entscheiden (Artikel 29 Abs. 1) und die Beschwerde vorrangig zu behandeln (Artikel 41 der Verfahrensordnung).

SACHVERHALT

I. DIE UMSTÄNDE DES FALLS

5. Der 19… geborene Beschwerdeführer ist in W. wohnhaft.
6. Am 19. Dezember 2003 schloss der Beschwerdeführer die Ehe mit Frau D. Das Paar trennte sich im Juni 2004. Im Juli 2004 teilte Frau D. dem Beschwerdeführer mit, dass sie schwanger sei. Am 12. November 2004 wurde die Ehe des Paares geschieden.
7. Am 5. März 2005 brachte Frau D. Tochter M. zur Welt.
8. Am 5. Mai 2006 schrieb der Beschwerdeführer Frau D. einen Brief, in dem er darauf hinwies, dass er Umgang mit dem Kind haben und die Vaterschaft anerkennen wolle.
9. Am 16. Mai 2006 erkannte Herr E. mit Zustimmung von Frau D. die Vaterschaft für das Kind vor dem Jugendamt an. Am 20. Juni 2006 gab der Beschwerdeführer ein notarielles Vaterschaftsanerkenntnis bezüglich des Kindes ab.
10. Am 5. Juli 2006 reichte der Beschwerdeführer beim Amtsgericht Bielefeld Klage auf Feststellung seiner Vaterschaft ein und brachte vor, er habe der Mutter des Kindes während der Empfängniszeit beigewohnt. Frau D. erwiderte, dass Herr E. der biologische Vater sei und mit dem Kind und ihr in einer sozial-familiären Beziehung lebe.
11. Am 18. August 2006 schlossen Herr E. und Frau D. die Ehe. Das Paar lebte mit dem Kind M. und zwei weiteren im Juni 2006 bzw. Mai 2008 geborenen Kindern zusammen.
12. Am 22. August 2006 beantragte der Beschwerdeführer ferner beim Amtsgericht festzustellen, dass Herr E. nicht der Vater des Kindes sei, und reichte eine eidesstattliche Erklärung ein, dass er der Kindesmutter während der Empfängniszeit beigewohnt habe.
13. In einer ersten Verhandlung am 24. August 2006 wies das Amtsgericht die Parteien darauf hin, dass zur Vertretung der Interessen des Kindes ein Verfahrenspfleger zu bestellen sei, da auf Grund des Eheschlusses zwischen Herrn E. und Frau D. ein Interessenskonflikt entstanden sei. Frau D. erklärte, dass der Beschwerdeführer nicht der Vater des Kindes sei.
14. Am 30. August 2006 leitete das Amtsgericht die Verfahrensakte dem Rechtspfleger zu. Am 10. Oktober 2006 lehnte der Rechtspfleger die Einrichtung einer Verfahrenspflegschaft ab.
15. Am 31. Oktober 2006 leitete das Amtsgericht ein gesondertes Verfahren ein, um einen Verfahrenspfleger zu bestellen. Am 27. November 2006 legte das Jugendamt seine Stellungnahme vor. Am 30. Januar 2007 ernannte das Amtsgericht einen Verfahrenspfleger zur Vertretung des Kindes im anhängigen Verfahren sowie für den Fall einer eigenen Vaterschaftsanfechtungsklage des Kindes.
16. Am 27. Februar 2007 erhoben Frau D. und Herr E. gegen die Bestellung des Verfahrenspflegers Beschwerde. Am 28. März 2007 reichten sie die Beschwerdebegründung ein. Am 31. Mai 2007 beantragte der Beschwerdeführer, die Beschwerde zurückzuweisen. Am 26. Juni 2007 beraumte das Oberlandesgericht Hamm eine mündliche Verhandlung auf den 11. September 2007 an; dieser Termin wurde auf Antrag des Beschwerdeführers auf den 20. September 2007 verlegt.
17. Am 20. September 2007 bestätigte das Oberlandesgericht die Bestellung eines Verfahrenspflegers, hob aber den Beschluss des Amtsgerichts insoweit auf, als die Vertretung des Kindes hinsichtlich einer eventuellen eigenen Anfechtungsklage betroffen war.
18. Am 4. Januar 2008 beraumte das Amtsgericht eine mündliche Verhandlung für den 29. Januar 2008 an.
19. Am 24. Januar 2008 legte der Verfahrenspfleger dem Landgericht seine Stellungnahme vor. Nach einem Besuch im Haushalt der Familie kam er zu dem Schluss, dass eine enge sozial-familiäre Beziehung zwischen dem Kind und Herrn E. bestehe, und äußerte die Auffassung, dass es von besonderer Bedeutung sei sicherzustellen, dass das Kind ungestört in seiner Familie aufwachsen könne. Am selben Tag hob das Amtsgericht den Termin auf und forderte die Parteien auf, zu dem Bericht des Verfahrenspflegers Stellung zu nehmen.
20. Am 22. Februar 2008 ordnete das Amtsgericht ein Sachverständigengutachten zu der Frage an, ob eine sozial-familiäre Beziehung zwischen dem Kind und Herrn E. bestehe, und forderte den Beschwerdeführer zur Zahlung eines Vorschusses in Höhe von 1.000 Euro auf. Am 28. März 2008 erinnerte das Amtsgericht den Beschwerdeführer an die Einzahlung des Vorschusses.
21. Am 14. April 2008 räumte der Beschwerdeführer unter Bezugnahme auf die Stellungnahme des Verfahrenspflegers ein, dass zwischen dem Kind und Herrn E. eine sozial-familiäre Beziehung bestehe und er es daher nicht für notwendig erachte, diesbezüglich ein Sachverständigengutachten einholen zu lassen. Er machte jedoch geltend, dass seine Klage zugelassen werden solle, da die anwendbaren Rechtsvorschriften seine Rechte als Elternteil nicht ausreichend berücksichtigten.
22. Am 24. April 2008 beraumte das Amtsgericht eine mündliche Verhandlung für den 29. Mai 2008 an.
23. Am 6. Mai 2008 verlegte das Amtsgericht den Termin auf Antrag des Beschwerdeführers auf den 10. Juni 2008.
24. Am 27. Mai 2008 beantragte der Beschwerdeführer unter Bezugnahme auf den seit dem 1. April 2008 geltenden § 1598a BGB (siehe „Das einschlägige innerstaatliche Recht“, unten) hilfsweise, das Kind zu verpflichten, eine genetische Abstammungsuntersuchung durchführen zu lassen.
25. Während der Verhandlung am 10. Juni 2008 erklärten die Parteien übereinstimmend, dass eine sozial-familiäre Beziehung zwischen Herrn E. und dem Kind bestehe. Im Anschluss an die Verhandlung wies das Amtsgericht den Antrag des Beschwerdeführers ab. Nach Ansicht des Gerichts war der Beschwerdeführer gemäß § 1600 Abs. 2 BGB (siehe „Das einschlägige innerstaatliche Recht“, unten) davon ausgeschlossen, die Vaterschaft anzufechten, weil eine sozial-familiäre Beziehung zwischen dem Kind und seinem rechtlichen Vater bestehe. Er habe nicht das Recht, seine Vaterschaft feststellen zu lassen oder eine Abstammungsuntersuchung zu verlangen, weil das Kind bereits einen rechtlichen Vater habe.
26. Am 2. Dezember 2008 wies das Oberlandesgericht Hamm die Berufung des Beschwerdeführers vom 10. Juli 2008 zurück. Es merkte an, dass zwischen den Parteien nicht mehr strittig sei, dass eine sozial-familiäre Beziehung zwischen dem Kind M. und seinem rechtlichen Vater besteht, der die Kindesmutter inzwischen geheiratet und zwei weitere Kinder gezeugt habe. Das Oberlandesgericht bestätigte das Urteil des Amtsgerichts auch insoweit, dass die einschlägigen Rechtsvorschriften die Rechte des Beschwerdeführers nach dem Grundgesetz und nach Artikel 8 und 14 der Konvention nicht verletzten. Unter Verweis auf seine eigene ständige Rechtsprechung und die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts vertrat das Oberlandesgericht die Auffassung, dass der Gesetzgeber den Interessen des Kindes und seiner rechtlichen Eltern gegenüber dem Interesse des leiblichen Vaters an einer Anerkennung der rechtlichen Vaterschaft den Vorrang einräumen und diesen von der Möglichkeit der Vaterschaftsanfechtung ausschließen könne. Dem Gericht sei kein Raum gelassen, in Einzelfällen zu prüfen, ob es zum Wohle des Kindes erforderlich sei, dem vermeintlichen leiblichen Vater zu gestatten, die Vaterschaft anzufechten. Dieser generalisierende Ansatz schütze die betroffenen Familien auch davor, intime Details ihres Familienlebens aufdecken zu müssen.
27. Das Oberlandesgericht bestätigte ferner, dass die auf Feststellung seiner Vaterschaft gerichtete Klage des Beschwerdeführers unzulässig sei, da das Kind bereits einen rechtlichen Vater habe. Unter Berufung auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts war das Gericht der Auffassung, dass das Vaterschaftsanerkenntnis von Herrn E. wirksam gewesen sei und dass die maßgeblichen Rechtsvorschriften die verfassungsmäßigen Rechte des Beschwerdeführers nicht verletzten. Insbesondere sei es gerechtfertigt, die Anerkennung der Vaterschaft von der Zustimmung der Mutter abhängig zu machen. Der Gesetzgeber sei nicht verpflichtet, die Anerkennung der Vaterschaft von einer genetischen Prüfung der Abstammung abhängig zu machen. Es sei vertretbar, aufgrund bestimmter tatsächlicher Umstände und sozialer Situationen die Zuweisung der rechtlichen Stellung vorzunehmen. Eine derartige Vermutung bestehe, wenn ein Mann in erklärter Übereinstimmung mit der Mutter eines nichtehelichen Kindes rechtsverbindlich zum Ausdruck bringe, Elternverantwortung tragen zu wollen. Das Oberlandesgericht war ferner der Ansicht, dass die Rechte des Kindes in ausreichender Weise gewahrt seien, indem dieses nach Erreichen der Volljährigkeit selbst die Möglichkeit habe, die Vaterschaft anzufechten.
28. Das Oberlandesgericht war weiterhin der Auffassung, dass das Grundgesetz das Interesse eines Mannes schütze, Kenntnis davon zu erlangen, ob ein Kind von ihm abstammt und dies rechtlich klären zu lassen. Hieraus erwachse jedoch kein Anspruch, die Abstammung in jedem denkbaren Fall zu prüfen. Der Gesetzgeber habe bei der Ausgestaltung des Verfahrens, in dem die tatsächliche Abstammung eines Kindes geklärt wird, sowohl das Interesse des Kindes an der Stabilität seiner rechtlichen und sozial-familiären Zuordnung als auch das Interesse von Mutter und Kind daran, dass persönliche Daten nicht preisgegeben und intime Begebenheiten nicht offengelegt werden, zu schützen, und habe damit eine sachgerechte Regelung getroffen. Ein verfassungsmäßig begründetes Recht auf rechtliche Feststellung der biologischen Abstammung sei insbesondere nicht gegeben, solange die rechtliche Vaterschaft eines anderen Mannes besteht.
29. Das Oberlandesgericht war schließlich auch der Ansicht, dass der hilfsweise geltend gemachte Antrag des Beschwerdeführers auf Verpflichtung des Kindes zur Duldung einer Abstammungsuntersuchung unzulässig sei, da ein solcher Antrag in einem getrennten Verfahren geltend gemacht werden müsse.
30. Auf eine Rüge des Beschwerdeführers hin bestätigte das Oberlandesgericht am 20. März 2009 sein Urteil vom 2. Dezember 2008 und stellte fest, dass der Hilfsantrag zur Klärung der genetischen Abstammung des Kindes nicht unzulässig, sondern unbegründet sei, da § 1598a BGB den vermeintlichen biologischen Vater nicht berechtige, eine Abstammungsuntersuchung einzufordern. Unter Berufung auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts vertrat das Oberlandesgericht die Auffassung, dass der Beschwerdeführer kein Recht habe, die biologische Vaterschaft unabhängig von der rechtlichen Vaterschaft festgestellt zu erhalten.
31. Am 30. Juni 2009 lehnte es eine aus drei Richtern bestehende Kammer des Bundesverfassungsgerichts ab, die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers zur Entscheidung anzunehmen. Diese Entscheidung wurde dem Anwalt des Beschwerdeführers am 8. Juli 2009 zugestellt.

II. DAS EINSCHLÄGIGE INNERSTAATLICHE RECHT

1. Vorschriften des Grundgesetzes
32. Nach Artikel 3 GG sind alle Menschen vor dem Gesetz gleich (Abs. 1); Männer und Frauen sind gleichberechtigt (Abs. 2).
33. Artikel 6 GG, soweit maßgeblich, lautet:
„(1) Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung.
(2) Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft.“

2. Vaterschaftsfeststellung
34. Nach § 1592 BGB ist Vater eines Kindes entweder der Mann, der zum Zeitpunkt der Geburt mit der Mutter des Kindes verheiratet ist (Nr. 1), oder der Mann, der die Vaterschaft anerkannt hat (Nr. 2), oder dessen Vaterschaft nach § 1600d BGB gerichtlich festgestellt ist (Nr. 3). Eine Anerkennung der Vaterschaft ist nicht wirksam, solange die Vaterschaft eines anderen Mannes besteht (§ 1594 Abs. 2 BGB). Die Vaterschaft kann nur mit Zustimmung der Mutter wirksam anerkannt werden (§ 1595 Abs. 1)

3. Anfechtung der Vaterschaft
35. Die Vaterschaft kann binnen zwei Jahren angefochten werden. Die Frist beginnt mit dem Zeitpunkt, in dem der Berechtigte von den Umständen erfährt, die gegen die Vaterschaft sprechen; das Vorliegen einer sozial-familiären Beziehung hindert den Lauf der Frist nicht (§ 1600b Abs. 1). Nach § 1600 Abs. 1 BGB sind zur Anfechtung der Vaterschaft berechtigt: der Mann, dessen Vaterschaft nach § 1592 Nrn. 1 und 2 besteht, die Mutter, das Kind und der Mann, der an Eides Statt versichert, der Mutter des Kindes während der Empfängniszeit beigewohnt zu haben. Nach § 1600 Abs. 2 BGB kann der leibliche Vater die Vaterschaft desjenigen Mannes, der nach § 1592 Nr. 1 oder 2 BGB der rechtliche Vater des Kindes ist, nur anfechten, wenn zwischen dem rechtlichen Vater und dem Kind keine sozial-familiäre Beziehung besteht. Von einer sozial-familiären Beziehung wird ausgegangen, wenn der rechtliche Vater zum maßgeblichen Zeitpunkt tatsächliche Verantwortung trägt oder getragen hat. Eine Übernahme tatsächlicher Verantwortung ist in der Regel anzunehmen, wenn der rechtliche Vater mit der Mutter des Kindes verheiratet ist oder mit dem Kind längere Zeit in häuslicher Gemeinschaft zusammengelebt hat (§ 1600 Abs. 4).

4. Klärung der Vaterschaft in einem gesonderten Verfahren
36. Nach § 1598a BGB in der seit dem 1. April 2008 geltenden Fassung können der rechtliche Vater, die Mutter und das Kind die Klärung der Vaterschaft durch eine genetische Abstammungsuntersuchung verlangen. Die rechtliche Stellung der Beteiligten bleibt von dem Ausgang des Verfahrens unberührt. Dieses Recht wird jedoch einem Dritten, der mutmaßt, der leibliche Vater zu sein, nicht eingeräumt.

III. RECHTSVERGLEICHUNG

37. Eine 26 Mitgliedstaaten des Europarats erfassende Studie des Gerichtshofs ergibt, dass in 21 dieser Staaten die Anerkennung der Vaterschaft für ein nichtehelich geborenes Kind die Zustimmung der Mutter erfordert. In 17 Staaten (nämlich Aserbaidschan, Kroatien, Zypern, Estland, Frankreich, Georgien, Irland, Italien, Litauen, Moldau, Rumänien, Russland, San Marino, Spanien, Türkei, Ukraine und Vereinigtes Königreich) hat der vermeintliche leibliche Vater das Recht, die durch Ankerkennung festgestellte rechtliche Vaterschaft eines Dritten anzufechten. Dieses Recht kann zeitlich beschränkt sein. In 15 Staaten wird diese Stellung gewahrt, wenn der rechtliche Vater mit dem Kind in einer sozial-familiären Beziehung gelebt hat. In Frankreich und Italien kann der leibliche Vater die Vaterschaft nicht anfechten, wenn das Kind mit dem rechtlich anerkannten Vater mindestens vier oder fünf Jahre in einer sozial-familiären Beziehung gelebt hat (la possession d’état conforme au titre).
38. Dagegen kann der biologische Vater in neun Mitliedstaaten (Armenien, Bulgarien, Ungarn, Island, Lettland, Niederlande, Polen, Slowakei und Schweiz) die Vaterschaft des rechtlichen Vaters, dessen Stellung durch Anerkennung begründet ist, nicht anfechten. In diesen neun Hoheitsgebieten sind die Gerichte (aus Kindeswohlerwägungen oder anderen Gründen) nicht berechtigt, gerichtlich zu prüfen, ob der leibliche Vater die Möglichkeit erhalten sollte, die Vaterschaft anzufechten.
39. Keiner der erfassten Mitgliedstaaten bietet ein Verfahren zur Feststellung der biologischen Vaterschaft ohne förmliche Anfechtung der Vaterschaft des anerkannten Vaters und ohne Änderung der rechtlichen Stellung des Kindes an.

RECHTLICHE WÜRDIGUNG

I. BEHAUPTETE VERLETZUNG VON ARTIKEL 8 DER KONVENTION

40. Der Beschwerdeführer rügte nach Artikel 6 und 8 der Konvention die Weigerung der nationalen Gerichte, ihm die Möglichkeit zu geben, die Vaterschaft von Herrn E. anzufechten und eine rechtliche Feststellung seiner Vaterschaft zu erhalten. Er beanstandete insbesondere, dass die Mutter durch Erteilung oder Verweigerung ihrer Zustimmung ausschließlich berechtigt sei, den rechtlichen Vater des Kindes zu bestimmen, und er in dem Verfahren, das zur Feststellung der Vaterschaft geführt hat, keinen Anspruch auf rechtliches Gehör gehabt habe. Er rügte ferner, dass die einschlägigen Rechtsvorschriften, wie sie von den Familiengerichten ausgelegt würden, den Interessen der sozialen Familie generell Vorrang gegenüber denen des leiblichen Vaters einräumten, ohne eine Prüfung der besonderen Umstände des Falls zuzulassen. Er beanstandete zudem, dass das Amtsgericht das Verfahren nicht mit besonderer Sorgfalt geführt und damit den Ausgang des Verfahrens präjudiziert habe.
41. Die Regierung trat diesem Vorbringen entgegen.
42. Der Gerichtshof ist der Ansicht, dass diese Rüge in erster Linie allein nach Artikel 8 zu prüfen ist, der wie folgt lautet:
„1. Jede Person hat das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens, ihrer Wohnung und ihrer Korrespondenz.
2. Eine Behörde darf in die Ausübung dieses Rechts nur eingreifen, soweit der Eingriff gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist für die nationale oder öffentliche Sicherheit, für das wirtschaftliche Wohl des Landes, zur Aufrechterhaltung der Ordnung, zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer.“

A. Zulässigkeit
43. Der Gerichtshof stellt fest, dass diese Rüge nicht offensichtlich unbegründet ist im Sinne von Artikel 35 Abs. 3 Buchstabe a der Konvention. Sie ist auch nicht aus anderen Gründen unzulässig. Folglich ist sie für zulässig zu erklären.

B. Begründetheit
1. Die Vorbringen des Beschwerdeführers
44. Unter Berufung auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs machte der Beschwerdeführer geltend, dass die Beziehung zwischen M. und ihm als ihrem mutmaßlichen leiblichen Vater Familienleben darstelle. Er und Frau D. hätten sich bei der Eheschließung Kinder gewünscht und das Kind sei in der Ehe gezeugt worden. Er habe die Vaterschaft anerkannt und Vaterschaftsfeststellungsklage erhoben, um seine rechtliche Vaterschaft zu begründen und die elterliche Sorge wahrzunehmen, und damit ein nachweisbares Interesse an dem Kind gezeigt und sich zu seiner Tochter bekannt. Frau P. habe ihn daran gehindert, eine rechtliche Verbindung zu seinem Kind einzugehen und eine tatsächliche Beziehung aufzubauen. Hilfsweise rügte der Beschwerdeführer, dass die nationalen Gerichte es versäumt hätten, die tatsächliche Abstammung des Kindes als Bestandteil des Familienlebens zu klären.
45. Jedenfalls sei sein Interesse, die Vaterschaft rechtlich feststellen zu lassen, Bestandteil seines Privatlebens und gemäß Artikel 8 geschützt. Unter Hinweis auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs insbesondere in der Rechtssache Mikulić ./. Kroatien (Individualbeschwerde Nr. 53176/99, Rdnrn. 53-55, EGMR 2002 I) brachte der Beschwerdeführer vor, dass das Privatleben die Feststellung der rechtlichen Beziehung zwischen einem Kind und seinem biologischen Vater einschließe.
46. Die nationalen Behörden hätten in dieses Recht eingegriffen, weil sie ihn an der Feststellung der Vaterschaft gehindert hätten. Er wies darauf hin, dass ihm kein Rechtsmittel zur Anfechtung des Vaterschaftsanerkenntnisses, das Herr E. mit Zustimmung der Kindesmutter ohne seine Beteiligung abgegeben habe, zur Verfügung stehe. Wenn zwei Männer als Väter eines nichtehelichen Kindes in Betracht kämen, gebe es keine ausreichende Grundlage für die Annahme, dass der Mann, der die Vaterschaft mit Zustimmung der Mutter anerkannt hat, tatsächlich der Vater des Kindes sei. Der Fall Z. (Z. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 22028/04, 3. Dezember 2009) habe gezeigt, dass Mütter, denen ein gesetzliches Vetorecht zusteht, oftmals nicht das Kindeswohl und erst recht nicht die Interessen des leiblichen Vaters berücksichtigten, sondern nur ihre eigenen Interessen im Blick hätten. Nach den gegenwärtigen Rechtsvorschriften in der Auslegung der nationalen Gerichte sei der biologische Vater gänzlich rechtsschutzlos, selbst wenn die Mutter willkürlich handle.
47. Ferner brachte der Beschwerdeführer vor, dass der Eingriff in seine Rechte aus Artikel 8 nicht nach Artikel 8 Abs. 2 gerechtfertigt gewesen sei. Insbesondere sei er nicht „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ gewesen. Auf Grundlage der Gesetze in Auslegung durch die nationalen Gerichte habe er praktisch keine Möglichkeit gehabt, die rechtliche Vaterstellung zu erlangen, weil die Gerichte der von der Mutter einseitig geschaffenen tatsächlichen und rechtlichen Situation Vorrang gegenüber seinem Interesse als leiblicher Vater eingeräumt hätten.
48. Überdies hätten die Gerichte die widerstreitenden Interessen nicht gegeneinander abgewogen und nicht geprüft, ob die Anfechtung der Vaterschaft dem Kindeswohl schaden würde oder ihm dienlich wäre. Es gebe keine Anhaltspunkte dafür, ob es dem Kindeswohl schade, wenn der Beschwerdeführer die Möglichkeit erhält, die Vaterschaft anzufechten. Es gebe insbesondere keine wissenschaftlichen Belege für die Annahme, dass es im Interesse eines Kindes liege, ungestört in seiner rechtlich-sozialen Familie aufzuwachsen. Nach den derzeitigen psychologischen Standards sollten Kinder so früh wie möglich über ihre tatsächliche Abstammung aufgeklärt werden. Darüber hinaus bestehe keine Gefahr, dass die Beziehung zwischen Frau D., Herrn E. und den bei ihnen lebenden drei Kindern an der Feststellung der Vaterschaft des Beschwerdeführers zerbrechen würde. Frau D. und Herr E. lebten in einer gefestigten ehelichen Beziehung, und Herr E. habe die Vaterschaft in dem Wissen anerkannt, dass das Kind zu einem Zeitpunkt gezeugt worden war, zu dem der Beschwerdeführer mit Frau E. verheiratet war und mit ihr Geschlechtsverkehr gehabt hat.
49. Der Ansatz des deutschen Gesetzgebers sei nicht gerechtfertigt und stehe im Widerspruch zur Rechtsprechung des Gerichtshofs (der Beschwerdeführer verwies auf Różański ./. Polen, Individualbeschwerde Nr. 55339/00, 18. Mai 2006, und Z., a. a. O.), wonach die widerstreitenden Interessen in jedem Einzelfall abzuwägen seien. Dies deute darauf hin, dass Kinder durch Gerichtsverfahren zwangsläufig gewissen Belastungen ausgesetzt seien. In vielen Fällen sei die Einholung eines Sachverständigengutachtens bereits erforderlich, um die tatsächliche Beziehung zwischen dem Kind und seinem rechtlichen Vater festzustellen. In diesen Fällen würden sich keine weiteren Belastungen ergeben, wenn das Gericht das Kindeswohl mit Blick auf die Vaterschaftsanfechtung prüfe. Darüber hinaus habe keine Gefahr bestanden, dass die bestehende Familie intime Details hätte aufdecken müssen, weil allen die wesentlichen Aspekte des vorliegenden Falls bekannt gewesen seien.
50. Überdies liege kein zutreffender Grund dafür vor, dem Beschwerdeführer das Recht auf Klärung der Vaterschaft ohne Änderung der rechtlichen Stellung des Kindes zu versagen.
51. In der vorliegenden Rechtssache sei überdies zu berücksichtigen, dass die nationalen Gerichte das Verfahren nicht mit der in Verfahren zum Personenstand gebotenen „besonderen Sorgfalt“ geführt hätten. Insbesondere habe es das Amtsgericht versäumt, das Verfahren zur Bestellung eines Verfahrenspflegers zu beschleunigen. Weitere Verzögerungen seien durch das Versäumnis des Amtsgerichts und des Oberlandesgerichts verursacht worden, Verhandlungen unverzüglich anzuberaumen. Mithin habe die überlange Verfahrensdauer den Ausgang des vorliegenden Verfahrens präjudiziert.
52. Der Beschwerdeführer behauptete, dass das deutsche Recht dem leiblichen Vater im Vergleich zu den in den meisten europäischen Staaten geltenden Bestimmungen eine bedeutend schwächere Stellung einräume. Die Ergebnisse eines im März 2010 im Auftrag der Regierung erstellten Gutachtens des Deutschen Instituts für Jugendhilfe und Familienrecht seien nicht überzeugend und nicht repräsentativ für die Rechtslage in Europa. In den überaus meisten Staaten sei eine deutliche Tendenz erkennbar, die Anfechtung der Vaterschaft durch den biologischen Vater uneingeschränkt zuzulassen.

2. Die Stellungnahmen der Regierung
53. Die Regierung vertrat die Auffassung, dass die Entscheidungen der nationalen Gerichte keinen Eingriff in das Recht des Beschwerdeführers auf Achtung seines Familienlebens darstellten. Sie merkte eingangs an, dass nicht erwiesen sei, dass der Beschwerdeführer tatsächlich der leibliche Vater des Kindes M. sei. Selbst bei Annahme der biologischen Vaterschaft würde diese nicht ausreichen, um unter den Schutz von Artikel 8 der Konvention zu fallen. Im vorliegenden Fall lebte M. mit ihrer Mutter und ihrem rechtlichen Vater in einem stabilen Familienverband zusammen. Zwischen dem Beschwerdeführer und dem Kind M. bestehe keine tatsächliche familiäre Beziehung. Die Regierung betonte, dass die Ehe des Beschwerdeführers mit Frau D. bereits sechs Monate vor der Geburt des Kindes geschieden worden war. Der Beschwerdeführer sei weder bei der Geburt des Kindes anwesend gewesen noch habe er eine Umgangsregelung beantragt.
54. Überdies machte die Regierung geltend, dass der Gerichtshof zwar die Auffassung vertreten habe, dass ein beabsichtigtes Familienleben ausnahmsweise unter Artikel 8 fallen könne, dies aber unter den Umständen der vorliegenden Individualbeschwerde nicht zutreffe, weil der Beschwerdeführer nicht nachgewiesen habe, dass er ausreichende Anstrengungen unternommen hatte, das behauptete Interesse daran, eine familiäre Beziehung zu dem Kind aufzubauen, zu untermauern.
55. Selbst wenn ein Eingriff in die Rechte des Beschwerdeführers nach Artikel 8 Abs. 1 der Konvention unterstellt werde, beruhe dieser auf §§ 1592 Nr. 2, 1600 und 1600d BGB und diene dem legitimen Ziel, die Rechte und Freiheiten des Kindes und seiner rechtmäßigen Eltern zu schützen.
56. Auch sei dieser Eingriff in einer demokratischen Gesellschaft notwendig gewesen. Der Ausschluss des Beschwerdeführers von der Vaterschaftsanfechtung und der Möglichkeit, seine Vaterschaft feststellen zu lassen, habe dem Wohl des Kindes gedient. Der leibliche Vater mag ein Interesse daran haben, sein Kind kennenzulernen und eine Beziehung zu ihm aufzubauen. In vorliegendem Fall sei jedoch zu berücksichtigen, dass das Kind in einer funktionierenden rechtlich-sozialen Familie lebe. Im Gegensatz dazu bestehe zwischen dem Kind und dem Beschwerdeführer keine soziale Beziehung. Daher überwiege das Interesse des Kindes, ungestört in seiner rechtlich-sozialen Familie aufzuwachsen.
57. Der deutsche Gesetzgeber habe einen Ausgleich der betroffenen widerstreitenden Interessen vorgenommen, der den sich aus Artikel 8 ergebenden Anforderungen entspreche. Der deutsche Gesetzgeber habe sich intensiv mit der Frage auseinandergesetzt, ob dem biologischen Vater eines Kindes ein Recht auf Anfechtung der Vaterschaft gewährt werden solle, und diese Frage zunächst verneint. Im Anschluss an den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 9. April 2003 (1 BvR 1493/96 u. 1724/01) habe er aber entschieden, dass der leibliche Vater die Vaterschaft anfechten kann, sofern zwischen dem rechtlichen Vater und dem Kind keine sozial-familiäre Beziehung besteht. Tragende Erwägung sei dabei gewesen, dass um des Wohles der sozialen Familie und um der gebotenen Rechtssicherheit im Abstammungsrecht willen der leibliche Vater kein grundrechtlich geschütztes Recht habe, die Vaterschaft vorrangig eingeräumt zu erhalten, wenn der rechtliche Vater seine elterliche Verantwortung im Sinne einer sozialen Elternschaft wahrnehme. Die Entscheidung für einen Vorrang der rechtlichen Familie entspreche der Rechtsprechung des Gerichtshofs, der bestätigt hatte, dass die nationalen Gerichte den Interessen des Kindes und der Familie, in der es lebt, größeres Gewicht beimessen dürften als dem Interesse des Beschwerdeführers an Feststellung einer biologischen Tatsache (siehe Nylund ./. Finnland (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 27110/95, EGMR 1999 VI).
58. Ähnliche Erwägungen würden auch für den Hilfsantrag des Beschwerdeführers, eine genetische Abstammungsuntersuchung zuzulassen, gelten. Die bloße gerichtliche Feststellung, dass das Kind nicht von seinem rechtlichen Vater, sondern von einem anderen Mann abstammt, gefährde die Stabilität der Familie und erschwere dem Kind die Orientierung, zu wem es letztlich gehört. Unter Kindeswohlgesichtspunkten müsse das Interesse des Kindes, ungestört in der rechtlich-sozialen Familie aufzuwachsen, überwiegen. Ebenso liege ein sachlicher Grund darin, dass die Mutter und das Kind vor der Preisgabe persönlicher Daten und intimer Begebenheiten geschützt werden müssen. Diesem Interesse komme auch angesichts des Umstandes, dass der rechtliche Vater die Kindesmutter inzwischen geheiratet habe und mit ihr zwei weitere Kinder hat, nicht unerhebliche Bedeutung zu.
59. Nach § 1598a BGB hätten die Familienmitglieder (Vater, Mutter und Kind) nicht aber der vermeintliche leibliche Vater Anspruch auf Einwilligung in eine genetische Untersuchung zur Klärung der leiblichen Abstammung. Nach der Rechtslage seien die Interessen des leiblichen Vaters durch die Möglichkeit der Anfechtung der Vaterschaft des rechtlichen Vaters oder beim Fehlen eines rechtlichen Vaters durch die gerichtliche Feststellung des Verwandtschaftsverhältnisses ausreichend gewahrt. Indem der Gesetzgeber an die erfolgreiche Anfechtung der rechtlichen Vaterschaft die Feststellung des biologischen Vaters koppele, solle auch gewährleistet werden, dass der leibliche Vater seine elterliche Verantwortung wahrnimmt und damit dem Interesse des Kindes an der Stabilität seiner rechtlichen und sozial-familiären Zuordnung Rechnung getragen wird. Wenn ein Kind einem Vater bereits rechtlich zugeordnet und das Anfechtungsrecht des vermeintlich leiblichen Vaters aufgrund sozial-familiärer Beziehung ausgeschlossen war, habe es kein geschütztes Interesse des vermeintlich biologischen Vaters gegeben, die biologische Vaterschaft ohne gleichzeitige elterliche Verantwortung festgestellt zu erhalten.
60. Die Regierung trug schließlich vor, dass die Verfahrensdauer nicht überlang gewesen sei. Die Dauer des Verfahrens vor dem Amtsgericht sei in erster Linie darauf zurückzuführen, dass die Frage der gesetzlichen Vertretung des Kindes in einem gesonderten familiengerichtlichen Verfahren in zwei Instanzen geklärt werden musste. Darüber hinaus hätten eigene Handlungen des Beschwerdeführers wie die Klageerweiterung auf den rechtlichen Vater unmittelbar vor der ersten Verhandlung vor dem Amtsgericht und der Umstand, dass er seine Behauptung, dass das Kind mit seinem Vater nicht in einer sozial-familiären Beziehung lebe, erst nach der Erinnerung an die Einzahlung eines Vorschusses für das Sachverständigengutachten fallen gelassen hatte, zu der Verfahrensdauer beigetragen.

3. Würdigung durch den Gerichtshof
61. Der Gerichtshof erinnert daran, dass sich der Begriff des „Familienlebens“ nach Artikel 8 der Konvention nicht auf eheliche Beziehungen beschränkt und er auch andere faktische „familiäre“ Bindungen erfassen kann, wenn die Beteiligten in nichtehelicher Gemeinschaft zusammenleben. Überdies hat der Gerichtshof die Auffassung vertreten, dass auch ein beabsichtigtes Familienleben ausnahmsweise unter Artikel 8 fallen kann, und zwar vor allem dann, wenn der Umstand, dass das Familienleben noch nicht vollständig hergestellt war, nicht dem Beschwerdeführer zuzurechnen ist (vgl. Pini u. a. ./. Rumänien, Individualbeschwerden Nrn. 78028/01 und 78030/01, Rdnrn. 143 und 146, EGMR 2004-V). Sofern es die Umstände rechtfertigen, muss sich das „Familienleben“ insbesondere auch auf die potentielle Beziehung erstrecken, die sich zwischen einem nichtehelichen Kind und dessen leiblichem Vater entwickeln kann. Zu den maßgeblichen Kriterien für das tatsächliche und praktische Vorliegen enger persönlicher Bindungen in diesen Fällen gehören unter anderem die Art der Beziehung zwischen den leiblichen Eltern sowie das nachweisbare Interesse des Vaters an dem Kind und sein Bekenntnis zu ihm sowohl vor als auch nach der Geburt (siehe Nylund, a. a. O.; N. ./. Deutschland (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 46165/99, 19. Juni 2003; Lebbink ./. Niederlande, Individualbeschwerde Nr. 45582/99, Rdnr. 36, EGMR 2004-IV; und A. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 20578/07, Rdnr. 57, 21. Dezember 2010).
62. Im Hinblick auf die Umstände der vorliegenden Rechtssache stellt der Gerichtshof fest, dass strittig ist und in dem Verfahren vor den nationalen Gerichten nicht festgestellt wurde, ob der Beschwerdeführer tatsächlich der leibliche Vater von M. ist. Obwohl das Kind gezeugt wurde, als der Beschwerdeführer mit der Kindesmutter verheiratet war, hatte er das Kind nie gesehen, und es hat nie eine enge persönliche Beziehung zwischen ihm und den Kind bestanden, die einem gefestigten Familienleben gleichkommen könnte.
63. Nach Auffassung des Gerichtshofs kreist die vorliegende Rechtssache in erster Linie um die Frage, ob der Beschwerdeführer das Recht hat, seine vermeintliche Vaterschaft anerkennen und rechtlich feststellen zu lassen. Der Gerichtshof hat wiederholt festgestellt, dass Verfahren, in denen es um die Feststellung oder Anfechtung der Vaterschaft geht, das Privatleben des betreffenden Mannes nach Artikel 8 berühren, der wichtige Aspekte der Persönlichkeit von Menschen umfasst (siehe Rasmussen ./. Dänenmark, 28. November 1984, Rdnr. 33, Serie A Bd. 87; Nylund, a. a. O.; Yildirim ./Österreich (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 34308/96, 19. Oktober 1999; Backlund ./. Finnland, Individualbeschwerde Nr. 36498/05, Rdnr. 37, 6. Juli 2010; Krušković ./. Kroatien, Individualbeschwerde Nr. 46185/08, Rdnr. 20, 21. Juni 2011; und Pascaud ./. Frankreich, Individualbeschwerde Nr. 19535/08, Rdnrn. 48 49, 16. Juni 2011). Der Gerichtshof stellt keinen Grund dafür fest, in dieser Rechtssache anders zu erkennen. Mithin ist die Entscheidung, den Antrag des Beschwerdeführers auf Prüfung und Feststellung der Vaterschaft abzuweisen, als Eingriff in sein Recht auf Achtung des Privatlebens zu prüfen.
64. Hinsichtlich der Frage, ob der Eingriff „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ war, verweist der Gerichtshof auf die in seiner Rechtsprechung festgelegten Grundsätze. Er hat zu prüfen, ob die zur Rechtfertigung des Eingriffs angeführten Gründe bei einer Gesamtbetrachtung des Falles im Sinne von Artikel 8 Absatz 2 zutreffend und ausreichend waren (siehe u. a. T.P. und K.M. ./. Vereinigtes Königreich [GK], Individualbeschwerde Nr. 28945/95, Rdnr. 70, EGMR 2001 V, und S. ./. Deutschland [GK], Individualbeschwerde Nr. 31871/96, Rdnr. 62, EGMR 2003 VIII). Von entscheidender Bedeutung bei derartigen Fällen ist die Überlegung, was dem Kindeswohl am besten dient; je nach seiner Art und Bedeutung kann das Kindeswohl den Interessen der Eltern vorgehen (siehe S., a. a. O., Rdnr. 66; und G. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 74969/01, Rdnr. 43, 26. Februar 2004).
65. Die Wahl der Mittel, mit denen sichergestellt wird, dass Artikel 8 im Verhältnis von einzelnen Personen untereinander gewahrt ist, liegt grundsätzlich im Ermessen der Vertragsstaaten. Die „Achtung des Privatlebens“ lässt sich auf verschiedenen Wegen erreichen, und die Art der staatlichen Verpflichtung hängt von dem in Rede stehenden Teilaspekt des Privatlebens ab (siehe Odièvre ./. Frankreich [GK], Individualbeschwerde Nr. 42326/98, Rdnr. 46, EGMR 2003 III). Der Umfang des Ermessensspielraums bestimmt sich nicht nur nach dem bestimmten Recht oder spezifischen Rechten, die in Rede stehen, sondern auch nach der Bedeutung der Sache für den Beschwerdeführer (vgl. Pascaud, a. a. O., Rdnr. 59).
66. Der Gerichtshof verweist ferner auf sein Urteil in der Rechtssache A. ./ Deutschland (Individualbeschwerde Nr. 20578/07, 21. Dezember 2010), das die Weigerung der deutschen Gerichte betraf, Herrn A., der der leibliche Vater von Zwillingen war, Umgang mit seinen Kindern zu gewähren, weil er keine sozial-familiäre Beziehung zu ihnen hatte. In jenem Urteil stellte der Gerichtshof fest, dass das nationale Gericht dem Beschwerdeführer den Umgang mit seinen Kindern versagt habe, ohne überhaupt zu prüfen, ob Umgangskontakte zwischen den Zwillingen und dem Beschwerdeführer unter den besonderen Umständen des Falles dem Wohl der Kinder dienen würden. Folglich befand der Gerichtshof, dass das nationale Gericht keinen fairen Ausgleich zwischen den betroffenen widerstreitenden Interessen herbeigeführt habe. Da die Gründe, die das nationale Gericht für die Entscheidung anführte, Herrn A. den Umgang mit seinen Kindern zu versagen, im Sinne von Artikel 8 Abs. 2 also nicht „ausreichend“ waren, war Artikel 8 verletzt worden (siehe A., a. a. O., Rdnrn. 67-73). In einem anschließenden Urteil (S. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 17080/07, 15. September 2011) befand der Gerichtshof, dass die gleichen Maßstäbe in einem Fall gelten, in dem nicht festgestellt worden war, ob der Beschwerdeführer tatsächlich der leibliche Vater des Kindes war.
67. Der Gerichtshof merkt an, dass die Beschwerde des Beschwerdeführers drei Aspekte des deutschen Vaterschaftsrechts betrifft: Er rügte zunächst, dass die Mutter eines nichtehelichen Kindes durch Erteilung oder Verweigerung ihrer Zustimmung bestimmen könne, welchem von zwei möglichen Vätern die rechtliche Vaterschaft eingeräumt werde, und der andere mögliche Vater in diesem Verfahren keinen Anspruch auf rechtliches Gehör habe. Zudem rügte er, er sei an der Anfechtung der insoweit festgestellten Vaterschaft gehindert worden, weil eine sozial-familiäre Beziehung zwischen dem rechtlichen Vater und dem Kind aufgebaut worden sei. Der Beschwerdeführer beanstandete schließlich, dass es ihm verwehrt worden sei, seine vermeintliche Vaterschaft ohne Änderung der rechtlichen Stellung des Kindes anerkennen zu lassen.
68. Der Gerichtshof stellt eingangs fest, dass es nicht unangemessen erscheint, die Feststellung der rechtlichen Vaterschaft auf die Annahme zu gründen, dass ein Mann, der die Vaterschaft mit Zustimmung der Mutter anerkannt hat, tatsächlich der Vater des Kindes ist. Er stellt ferner fest, dass die überwiegende Mehrheit der von dem Gerichtshof untersuchten Mitgliedstaaten des Europarats, die die Anerkennung der Vaterschaft für ein nichteheliches Kind von der Zustimmung der Mutter abhängig machen, einen ähnlichen Ansatz verfolgt (vgl. Rdnr. 36, oben). Der Gerichtshof ist der Auffassung, dass diese Regelung innerhalb des staatlichen Ermessensspielraums liegt, solange das Recht des potentiellen biologischen Vaters, die Abstammung des Kindes rechtlich feststellen zu lassen, ausreichend gewahrt ist.
69. Der Gerichtshof stellt ferner fest, dass für den vermeintlichen biologischen Vater nach dem innerstaatlichen deutschen Recht zwei Möglichkeiten bestehen, eine rechtliche Feststellung seiner Vaterschaft zu erhalten. Besteht keine rechtlich festgestellte Vaterschaft, kann er nach § 1600d BGB Klage erheben. Ist ein rechtlich festgestellter Vater vorhanden, kann er die Vaterschaft des anderen Mannes nur dann anfechten, wenn zwischen dem Kind und dem rechtlichem Vater keine sozial-familiäre Beziehung besteht.
70. Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass bei der Bestimmung des Umfangs des Ermessensspielraums, der dem Staat hinsichtlich der Entscheidung über jeden Fall nach Artikel 8 der Konvention einzuräumen ist, viele Faktoren zu berücksichtigen sind. Geht es um einen besonders wichtigen Aspekt der Existenz oder Identität der Person, wird der dem Staat gewährte Spielraum in aller Regel eingeschränkt sein. Wo es jedoch zwischen den Mitgliedstaaten des Europarats keinen Konsens hinsichtlich der relativen Bedeutung des betroffenen Interesses oder seines bestmöglichen Schutzes gibt, wird der Ermessensspielraum weiter gefasst sein (siehe zuletzt S. H. ./. Österreich [GK], Individualbeschwerde Nr. 57813/00, Rdnr. 94, 3. November 2011, mit weiteren Nachweisen). Überdies wird in der Regel ein weiter Ermessensspielraum gewährt, wenn der Staat einen Ausgleich zwischen den widerstreitenden öffentlichen und privaten Interessen oder Konventionsrechten herbeiführen muss (siehe S. H. u. a., ebenda).
71. Eine Vergleichsstudie des Gerichtshofs ergibt (siehe Rdnr. 37-39, oben), dass von 26 Staaten der Mitgliedstaaten des Europarats eine Mehrheit von fünfzehn Staaten einem vermeintlichen biologischen Vater gestatten würde, die durch Ankerkennung festgestellte rechtliche Vaterschaft eines Dritten anzufechten, selbst wenn der rechtliche Vater mit dem Kind in einer sozial-familiären Beziehung lebt. Dagegen hat der vermeintliche biologische Vater in einer großen Minderheit von neun Mitgliedstaaten nicht das Recht, die Vaterschaft des rechtlichen Vaters anzufechten. In zwei weiteren Staaten ist es dem leiblichen Vater nicht möglich, die Vaterschaft anzufechten, wenn das Kind mit dem rechtlichen Vater mindestens vier oder fünf Jahre in einer sozial-familiären Beziehung gelebt hat.
72. Der Gerichtshof kommt zu dem Ergebnis, dass in den Mitgliedstaaten eine gewisse Tendenz zu bestehen scheint, es dem vermeintlichen biologischen Vater unter Umständen, die den in vorliegender Rechtssache zu beurteilenden vergleichbar sind, zu gestatten, die Vaterschaft des rechtlichen Vaters anzufechten. Offenbar ist jedoch kein Konsens erzielt worden, der den staatlichen Ermessensspielraum erheblich begrenzen würde. Überdies stellt der Gerichtshof fest, dass die angegriffenen Entscheidungen nicht die Frage des Umgangsrechts betrafen, welches einer strengen Prüfung bedarf, da es die Gefahr birgt, dass die Familienbeziehungen zwischen einem kleinen Kind und einem Elternteil endgültig abgeschnitten werden (siehe, u. a. G., a. a. O., Rdnrn. 41-42 und A., a. a. O., Rdnr. 66). Folglich muss der Ermessensspielraum, den die Mitgliedstaaten bei der Feststellung der rechtlichen Stellung eines Kindes haben, größer sein als bei Umgangsfragen und Auskunftsrechten.
73. Hinsichtlich der in diesem Fall abzuwägenden widerstreitenden Interessen merkt der Gerichtshof an, dass der Beschwerdeführer ein geschütztes Interesse an der Feststellung der Wahrheit über einen wichtigen Aspekt seines Privatlebens, nämlich die behauptete Tatsache seiner Vaterschaft für M. und deren rechtliche Anerkennung, hatte (vgl. sinngemäß Pascaud und Krušković, beide a. a. O., Rdnrn. 34 bzw. 48).
74. Andererseits war es Ziel der Entscheidung des Oberlandesgerichts, dem Willen des Gesetzgebers zu entsprechen, der bestehenden familiären Beziehung zwischen einem Kind und seinem rechtlichen Vater, der tatsächlich mit der Mutter des Kindes zusammenlebt und im Alltag die elterliche Sorge übernimmt, Vorrang vor der Beziehung zwischen einem vermeintlichen biologischen Vater und einem Kind einzuräumen.
75. Der Gerichtshof stellt fest, dass das deutsche Familienrecht nach der Auslegung der nationalen Gerichte derzeit keine gerichtliche Prüfung der Frage vorsieht, ob der Umgang zwischen einem biologischen Vater und seinem Kind dem Kindeswohl dienlich wäre, wenn ein anderer Mann der rechtliche Vater des Kindes ist und der biologische Vater noch keine Verantwortung für das Kind getragen hat. Die Gründe dafür, dass der biologische Vater eine derartige Beziehung noch nicht aufgebaut hat, sind unerheblich; die Bestimmungen erfassen somit auch Fälle, in denen die Tatsache, dass eine solche Beziehung noch nicht bestanden hat, nicht dem biologischen Vater zuzurechnen ist (vgl. A., a. a. O., Rdnr. 67). Der Gerichtshof verweist auf seine Feststellungen in der Rechtssache A., dass diese rechtliche Lage zu einer Verletzung des Rechts des biologischen Vaters auf Achtung seines Privatlebens geführt habe (siehe A., a. a. O., Rdnrn. 70-73; vgl. auch S., a. a. O., Rdnr. 104).
76. Daraus folgt, dass Artikel 8 der Konvention dahingehend ausgelegt werden kann, dass er die Mitgliedstaaten verpflichtet zu prüfen, ob es dem Kindeswohl entspricht, dem biologischen Vater insbesondere durch Gewährung eines Umgangsrechts zu gestatten, eine Beziehung zu seinem Kind aufzubauen. Dies bedeutet gegebenenfalls die Feststellung der biologischen – im Gegensatz zur rechtlichen – Vaterschaft in einem Umgangsverfahren, wenn man unter den besonderen Umständen der Rechtssache davon ausgeht, dass ein Umgang zwischen dem vermeintlichen biologischen Vater – unter der Annahme, er sei tatsächlich der biologische Vater des Kindes – und dem Kind dem Kindeswohl dient (siehe S., a. a., O. Rdnr. 103).
77. Insoweit darf der vermeintliche biologische Vater von der Möglichkeit, seine Vaterschaft feststellen zu lassen, nicht vollständig ausgeschlossen werden, solange keine erheblichen Gründe in Bezug auf das Kindeswohl dafür vorliegen. Daraus erwächst jedoch nicht zwingend eine Pflicht aus der Konvention, dem vermeintlichen biologischen Vater zu gestatten, die Stellung des rechtlichen Vaters anzufechten oder eine separate Klage im Hinblick auf die Feststellung der biologischen – im Gegensatz zur rechtlichen – Vaterschaft zuzulassen. Eine derartige Verpflichtung lässt sich auch nicht aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ableiteten. Der vorliegende Fall muss von der Rechtssache Różański unterschieden werden, auf die der Beschwerdeführer sich berufen hat, weil die nationalen Gerichte es im letzteren Fall abgelehnt hatten, sich mit dem Antrag des Herrn Różański auf Festellung seiner Vaterschaft zu befassen, und dabei lediglich auf die Anerkennung der Vaterschaft durch einen anderen Mann verwiesen, ohne jedoch den tatsächlichen Hintergrund des Falls, wie etwa die Frage, ob das Kind mit seinem rechtlichen Vater in einer sozial-familiären Beziehung lebte, zu prüfen (siehe Różański, a. a. O., Rdnr. 78). In dem Fall Mizzi ./. Malta (Individualbeschwerde Nr. 26111/02, EGMR 2006 I) hat der Gerichtshof insofern eine Verletzung von Artikel 8 der Konvention festgestellt, als dem Beschwerdeführer, der der rechtliche aber nicht biologische Vater eines ehelichen Kindes war und nie mit dem Kind zusammengelebt hatte, niemals die Möglichkeit eingeräumt worden war, mit hinreichender Aussicht auf Erfolg Vaterschaftsanfechtungsklage zu erheben (siehe Mizzi, a. a. O., Rdnrn. 108-111). Nach Auffassung des Gerichtshofs ist dieser Fall von der vorliegenden Rechtssache insoweit zu unterscheiden, als Herr Mizzi vortrug, dass die Annahme der rechtlichen Vaterschaft nicht der sozialen Wirklichkeit entsprach, weil er nie eine tatsächliche Beziehung zu dem Kind unterhalten habe (siehe Mizzi, a. a. O., Rdnr. 11). In vorliegendem Fall stimmte die rechtliche Vaterschaft von Herrn E. dagegen mit seiner tatsächlichen Rolle als der soziale Vater des Kindes überein.
78. Mit Blick auf die vorstehenden Erwägungen, insbesondere den mangelnden Konsens zwischen den Mitgliedstaaten in dieser Frage und auf den größeren Ermessensspielraum, der den Staaten in die rechtliche Stellung betreffenden Fragen zuzubilligen ist, ist der Gerichtshof der Ansicht, dass die Entscheidung, ob dem vermeintlichen biologischen Vater die Vaterschaftsanfechtung zu gestatten ist, unter den Umständen der vorliegenden Rechtssache innerhalb des staatlichen Ermessensspielraums liegt.
79. Überdies ist der Gerichtshof der Auffassung, dass ähnliche Erwägungen für die Frage zutreffen, ob ein vermeintlicher biologischer Vater berechtigt sein sollte zu verlangen, dass im Wege einer genetischen Untersuchung die Abstammung des Kindes geklärt wird, ohne die rechtliche Stellung des Kindes zu verändern. Er merkt insbesondere an, dass keiner der vom Gerichtshof untersuchten 26 Mitgliedstaaten ein Verfahren zur Feststellung der biologischen Vaterschaft ohne förmliche Anfechtung der Vaterschaft des anerkannten Vaters und ohne Änderung der rechtlichen Stellung des Kindes vorsieht (siehe Rdnr. 38, oben). Daher ist auch davon auszugehen, dass die Entscheidung, solch eine gesonderte Untersuchung nicht zu gestatten, innerhalb des staatlichen Ermessensspielraums liegt.
80. Es bleibt noch festzustellen, ob der Entscheidungsprozess als Ganzes fair war und dem Beschwerdeführer den erforderlichen Schutz seiner durch Artikel 8 geschützten Interessen zuteil werden ließ (siehe S. a. a. O., Rdnr.66, und G., a. a. O., Rdnrn. 41-42).
81. Der Gerichtshof erinnert daran, dass in Rechtssachen, die das Verhältnis einer Person zu ihrem Kind betreffen, eine besondere Sorgfaltspflicht geboten ist, weil die Gefahr besteht, dass der fortschreitende Zeitablauf zu einer faktischen Entscheidung der Sache führt; diese Pflicht gehört zu den sich aus Artikel 8 ergebenden Verfahrenserfordernissen (siehe, u. a. H. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 28422/95, Rdnr. 54, 5. Dezember 2002, und S. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 40324/98, Rdnr. 100, 10. November 2005). Der Gerichtshof hat darüber hinaus erkannt, dass in Fällen, in denen es um den Personenstand eines kleinen Kindes geht, besondere Zügigkeit geboten ist (vgl. Mikulić, a. a. O., Rdnr. 44).
82. Im Hinblick auf die Umstände der vorliegenden Rechtssache merkt der Gerichtshof an, dass der zu berücksichtigende Zeitraum am 4. Juli 2006 begann, als der Beschwerdeführer seine Vaterschaftsklage erhob, und am 8. Juli 2009 mit der Zustellung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts an den Bevollmächtigten des Beschwerdeführers endete. Folglich dauerte das über drei Instanzen geführte Verfahren zwei Jahre und elf Monate; vor dem Amtsgericht Bielefeld betrug die Verfahrensdauer ein Jahr und elf Monate. Der Gerichtshof merkt an, dass es vor dem Amtsgericht Bielefeld, bei dem das Verfahren etwa zwei Jahre anhängig war, zu bestimmten Verzögerungen gekommen war; dies war insbesondere darauf zurückzuführen, dass die Bestellung eines Verfahrenspflegers in einem fast elf Monate dauernden gesonderten Verfahren in zwei Instanzen geklärt werden musste. Der Gerichtshof stellt jedoch fest, dass die Entscheidung über das bei der Bestellung eines Verfahrenspflegers anzuwendende Verfahren im Ermessen der nationalen Behörden lag und die Verzögerung, die darauf zurückzuführen war, dass Herr E. und Frau M. gegen diese Bestellung Beschwerde erhoben hatten, nicht den nationalen Gerichten angelastet werden kann. Der Gerichtshof ist überdies der Auffassung, dass jegliche Verzögerung vor dem Amtsgericht dadurch ausgeglichen wurde, dass das Oberlandesgericht den Fall in weniger als fünf Monaten äußerst zügig bearbeitet hatte.
83. Selbst angesichts der Bedeutung der Sache für den Beschwerdeführer, insbesondere die Anerkennung seiner rechtlichen Stellung als vermeintlicher leiblicher Vater, ist der Gerichtshof überzeugt, dass die nationalen Gerichte das Verfahren mit der in Fällen dieser Art gebotenen Sorgfalt geführt haben und die sich aus Artikel 8 der Konvention ergebenden Verfahrenserfordernisse damit erfüllt waren.
84. Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich, dass Artikel 8 der Konvention in vorliegender Rechtssache nicht verletzt worden ist.

II. BEHAUPTETE VERLETZUNG DES ARTIKELS 14 IN VERBINDUNG MIT ARTIKEL 8 DER KONVENTION

85. Der Beschwerdeführer rügte, dass § 1600 BGB in der Auslegung durch das Oberlandesgericht Berlin ihn als biologischen Vater gegenüber der Mutter, dem rechtlichen Vater und dem Kind diskriminiert habe. Überdies beanstandete er, dass die rechtmäßigen Eltern und das Kind unabhängig vom Vaterschaftsverfahren eine Untersuchung der biologischen Abstammung beantragen könnten, dem vermeintlichen biologischen Vater dieses Recht aber nicht eingeräumt werde. Er berief sich auf Artikel 14 i. V. m. Artikel 8 der Konvention; Artikel 14 lautet wie folgt:
„Der Genuss der in dieser Konvention anerkannten Rechte und Freiheiten ist ohne Diskriminierung insbesondere wegen des Geschlechts, der Rasse, der Hautfarbe, der Sprache, der Religion, der politischen oder sonstigen Anschauung, der nationalen oder sozialen Herkunft, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt oder eines sonstigen Status zu gewährleisten.“
86. Die Regierung trat diesem Vorbringen entgegen.

A. Zulässigkeit
87. Der Gerichtshof stellt fest, dass diese Rüge mit der vorstehend bereits geprüften Rüge verknüpft und daher ebenfalls für zulässig zu erklären ist.

B. Begründetheit
88. Der Beschwerdeführer wies darauf hin, dass sowohl die Mutter des Kindes als auch der rechtliche Vater berechtigt seien, ungeachtet des Bestehens einer sozial-familiären Beziehung zwischen dem Kind und dem rechtlichen Vater die Vaterschaft anzufechten. Darüber hinaus seien die rechtlichen Eltern und das Kind berechtigt, ohne Änderung der rechtlichen Stellung des Kindes eine genetische Abstammungsuntersuchung einzufordern. Dem Beschwerdeführer zufolge ist diese Ungleichbehandlung durch keine zutreffenden Gründe gerechtfertigt. Diese Diskriminierung werde dadurch verschärft, dass die zunehmende Intensität der sozial-familiären Beziehung zwischen dem rechtlichen Vater und dem Kind im Laufe des Vaterschaftsverfahrens das Recht der Mutter auf Vaterschaftsanfechtung nicht beeinträchtigt habe. Darüber hinaus sei zu bedenken, dass Kinder bei der Vaterschaftsanfechtung ihre eigene soziale Beziehung zu ihrer Mutter und ihrem rechtlichen Vater nicht berücksichtigen müssten. Dagegen sei der leibliche Vater an der Vaterschaftsanfechtung gehindert, selbst wenn diese dem Kindeswohl entspreche.
89. Nach Auffassung der Regierung findet Artikel 14 auf den vorliegenden Fall keine Anwendung, weil die Rüge des Beschwerdeführers nicht unter Artikel 8 der Konvention falle. Hilfsweise wurde von der Regierung ausgeführt, dass die von dem Beschwerdeführer genannten Gruppen nicht vergleichbar seien. Der Beschwerdeführer, der nie mit dem Kind zusammen gelebt habe, sei nicht in einer vergleichbaren Lage mit rechtmäßigen Eltern, weil diese mit dem Kind in einer häuslichen Gemeinschaft lebten und Elternverantwortung trügen. Die Entscheidung des Gesetzgebers, der sozial-familiären Beziehung zwischen dem rechtlichem Vater und dem Kind Priorität einzuräumen, falle im Rahmen einer Abwägung gegenläufiger Interessen in das Ermessen des Staates.
90. Der Gerichtshof hat bereits zuvor festgestellt, dass die Rüge des Beschwerdeführers unter das nach Artikel 8 der Konvention garantierte Recht auf Schutz des Privatlebens fällt. Folglich ist Artikel 8 in der vorliegenden Rechtssache anwendbar. Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass Artikel 14 im Hinblick auf den Genuss der nach der Konvention garantierten Rechte und Freiheiten Schutz vor Ungleichbehandlung von Menschen in vergleichbaren Situationen bietet, wenn es dafür keine sachlichen und vernünftigen Gründe gibt (siehe u. v. a. Z. a. a. O.).
91. Im Hinblick auf die Umstände der vorliegenden Rechtssache stellt der Gerichtshof fest, dass der Hauptgrund, auf den sich die Regierung für die Ungleichbehandlung des Beschwerdeführers gegenüber der Mutter, dem rechtmäßigen Vater und dem Kind mit Blick auf die Anfechtung der Vaterschaft und eine Abstammungsuntersuchung beruft, darin bestand, das Kind und seine soziale Familie vor äußeren Störeingriffen zu schützen. Im Hinblick auf die vorstehenden Erwägungen zu der Angemessenheit des Engriffs in das Recht des Beschwerdeführers auf Achtung des Privatlebens, insbesondere zu dem mangelnden Konsens zwischen den Mitgliedstaaten (siehe Rdnrn. 70–71, oben), ist der Gerichtshof der Auffassung, dass die Entscheidung, der bestehenden familiären Beziehung zwischen dem Kind und seinen rechtmäßigen Eltern Vorrang vor der Beziehung zu dem vermeintlichen biologischen Vater einzuräumen, in Bezug auf die rechtliche Stellung innerhalb des staatlichen Ermessensspielraums liegt.
92. Folglich ist Artikel 14 in Verbindung mit Art. 3 der Konvention nicht verletzt worden.

III. I. BEHAUPTETE VERLETZUNG VON ARTIKEL 6 ABSATZ 1 UND ARTIKEL 13 DER KONVENTION

93. Der Beschwerdeführer rügte überdies, dass die Verfahrensdauer überlang gewesen sei und diesbezüglich kein wirksamer Rechtsbehelf zur Verfügung gestanden habe.
94. Die Regierung trat der Behauptung, dass die Verfahrensdauer überlang gewesen sei, entgegen.
95. Unter Hinweis auf seine Feststellungen unter dem verfahrensrechtlichen Gesichtspunkt von Artikel 8 der Konvention (siehe Rdnrn. 82-84, oben) ist der Gerichtshof der Auffassung, dass dieser Teil der Beschwerde offensichtlich unbegründet ist und nach Artikel 35 Absätze 3 und 4 der Konvention zurückzuweisen ist.

AUS DIESEN GRÜNDEN ENTSCHEIDET DER GERICHTSHOF EINSTIMMIG:

1. Die Rüge nach Artikel 8 allein und in Verbindung mit Artikel 14 wird für zulässig und die Beschwerde im Übrigen für unzulässig erklärt;

2. Artikel 8 der Konvention ist nicht verletzt worden;

3. Artikel 14 in Verbindung mit Artikel 8 der Konvention ist nicht verletzt worden.
Ausgefertigt in Englisch und schriftlich zugestellt am 22. März 2012 nach Artikel 77 Absätze 2 und 3 der

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