VG Minden, Beschluss vom 14.10.2020 – 7 L 729/20

Februar 10, 2021

VG Minden, Beschluss vom 14.10.2020 – 7 L 729/20

Tenor

1. Die aufschiebende Wirkung der unter dem Az. 7 K 2326/20 erhobenen Klage der Antragstellerin gegen Ziffer 6.2. Satz 1 Alt. 2 der Allgemeinverfügung des Ministeriums für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen zum Schutz von Pflegeeinrichtungen vor dem Eintrag von SARS-CoV-2-Viren unter Berücksichtigung des Rechts auf Teilhabe und sozialer Kontakte der pflegebedürftigen Menschen wird angeordnet.

2. Die Kosten des Verfahrens trägt der Antragsgegner.

3. Der Streitwert wird auf 2.500 € festgesetzt.
Gründe

Der Antrag,

„die aufschiebende Wirkung dieser Teilanfechtungsklage (Klageantrag Nr. 1) nach § 80 Abs. 5 VwGO insoweit anzuordnen, als in Ziffer 6.2. Satz 1 Alternative 2 eine Isolierung für pflegebedürftige Menschen angeordnet wird ‚bei denen aufgrund eines konkret darzulegenden Anlasses eine SARS-CoV-2 Infektion nicht ausgeschlossen werden kann‘ „,

mit dem sich die Antragstellerin auf ihre zum Az. 7 K 2326/20 erhobene Klage gegen Ziffer 6.2. Satz 1 Alt. 2 der Allgemeinverfügung des Ministeriums für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen (MAGS) zum Schutz von Pflegeeinrichtungen vor dem Eintrag von SARS-CoV-2-Viren unter Berücksichtigung des Rechts auf Teilhabe und sozialer Kontakte der pflegebedürftigen Menschen (CoronaAVPflegeundBesuche) bezieht, hat Erfolg.

Ziffer 6.2. Satz 1 der seit dem 31. August 2020 gültigen und nicht befristeten CoronaAVPflegeundBesuche trifft folgende Anordnungen:

„In Pflegeeinrichtungen sind pflegebedürftige Menschen, die bereits infiziert sind (Alt. 1) oder bei denen aufgrund eines konkret darzulegenden Anlasses eine SARS-CoV-2-Infektion nicht ausgeschlossen werden kann (Alt. 2), nach den Empfehlungen des Robert Koch-Instituts getrennt von den anderen Bewohnerinnen und Bewohnern der Pflegeeinrichtung unterzubringen, zu pflegen, zu betreuen und zu versorgen (Isolierung).“

Der auf die Klage gegen die Anordnung der zweiten Alternative bezogene Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes ist zulässig und begründet.

Der Antrag ist insbesondere nicht mangels Antragsbefugnis oder Rechtsschutzbedürfnis unzulässig. Die in einer Pflegeeinrichtung im Sinne der CoronaAVPflegeundBesuche lebende Antragstellerin ist von der wirksamen und sofort vollziehbaren Anordnung hinsichtlich einer Isolierung in der Pflegeeinrichtung bereits jetzt betroffen. Je nach weiterem Verlauf des Infektionsgeschehens kann sich jederzeit ein Anlass für die in Ziffer 6.2. Satz 1 Alt. 2 CoronaAVPflegeundBesuche vorgesehene Isolierung der Antragstellerin ergeben.

Der Antrag ist auch begründet.

Das Gericht kann nach § 80 Abs. 5 Satz 1 Var. 1 VwGO die aufschiebende Wirkung einer Klage anordnen, wenn – wie hier hinsichtlich der Ziffer 6.2. Satz 1 Alt. 2 der in der Hauptsache angefochtenen Allgemeinverfügung (vgl. § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i.V.m. §§ 16 Abs. 8, 28 Abs. 3 IfSG) – die aufschiebende Wirkung der Klage kraft Gesetzes entfällt. Hierbei hat das Gericht eine Interessenabwägung vorzunehmen. Dem privaten Interesse des Antragstellers, von der sofortigen Durchsetzung des Verwaltungsakts vorläufig verschont zu bleiben, ist das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsakts gegenüberzustellen, wobei hinsichtlich § 80 Abs. 5 Satz 1 Var. 1 VwGO die gesetzgeberische Wertung des Entfallens der aufschiebenden Wirkung der Klage zu beachten ist. Ausgangspunkt dieser Interessenabwägung ist eine – im Rahmen des Eilrechtsschutzes allein mögliche und gebotene summarische – Prüfung der Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs in der Hauptsache. Ergibt diese Prüfung, dass der Verwaltungsakt offensichtlich rechtswidrig ist, überwiegt regelmäßig das Aussetzungsinteresse des Antragstellers und ist deshalb die aufschiebende Wirkung des Rechtsbehelfs anzuordnen. Denn an der Vollziehung eines ersichtlich rechtswidrigen Verwaltungsakts kann grundsätzlich kein öffentliches Vollzugsinteresse bestehen. Erweist sich der Verwaltungsakt als offensichtlich rechtmäßig, überwiegt das Vollzugsinteresse das Aussetzungsinteresse des Antragstellers. Erscheinen die Erfolgsaussichten in der Hauptsache offen, ist die Entscheidung auf der Grundlage einer umfassenden Folgenabwägung zu treffen.

Die vom Gericht gemäß § 80 Abs. 5 VwGO vorzunehmende Interessenabwägung geht zugunsten der Antragstellerin aus. Das private Interesse der Antragstellerin, von einer Vollziehung einstweilen verschont zu bleiben, überwiegt das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung der in der Hauptsache angefochtenen Allgemeinverfügung. Nach summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage erweist sich die in der Hauptsache angefochtene Ziffer 6.2. Satz 1 Alt. 2 der Allgemeinverfügung zulasten der Antragstellerin als offensichtlich rechtswidrig.

Für die Anordnung der Isolierung in Ziffer 6.2. Satz 1 Alt. 2 CoronaAVPflegeundBesuche fehlt in der derzeitigen Ausgestaltung eine taugliche gesetzliche Ermächtigungsgrundlage.

Die angegriffene Regelung lässt sich nach summarischer Prüfung nicht auf die vom Antragsgegner angegebene gesetzliche Ermächtigungsgrundlage stützen. Der Antragsgegner benennt sowohl in der Allgemeinverfügung als auch in seiner Antragserwiderung § 28 Abs. 1 Satz 1 und 2 IfSG als einschlägige Ermächtigungsgrundlage. Gemäß § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG trifft die zuständige Behörde, wenn Kranke, Krankheitsverdächtige, Ansteckungsverdächtige oder Ausscheider festgestellt werden oder es sich ergibt, dass ein Verstorbener krank, krankheitsverdächtig oder Ausscheider war, die notwendigen Schutzmaßnahmen, insbesondere die in den §§ 29 bis 31 genannten, soweit und solange es zur Verhinderung der Verbreitung übertragbarer Krankheiten erforderlich ist; sie kann insbesondere Personen verpflichten, den Ort, an dem sie sich befinden, nicht oder nur unter bestimmten Bedingungen zu verlassen oder von ihr bestimmte Orte oder öffentliche Orte nicht oder nur unter bestimmten Bedingungen zu betreten. Nach § 28 Abs. 1 Satz 2 IfSG kann die zuständige Behörde unter den Voraussetzungen von Satz 1 Veranstaltungen oder sonstige Ansammlungen von Menschen beschränken oder verbieten und Badeanstalten oder in § 33 genannte Gemeinschaftseinrichtungen oder Teile davon schließen. Es spricht Überwiegendes dafür, dass der Rückgriff auf die infektionsschutzrechtliche Generalklausel (§ 28 IfSG) wegen der in § 30 IfSG enthaltenen spezielleren Absonderungsregelungen hinsichtlich der Anordnung in Ziffer 6.2. Satz 1 Alt. 2 CoronaAVPflegeundBesuche ausgeschlossen ist.

Vgl. zu dieser Problematik OVG NRW, Beschluss vom 5. Juni 2020 – 13 B 776/20.NE -, juris Rn. 25 ff.

Nach § 30 Abs. 1 Satz 1 IfSG hat die zuständige Behörde anzuordnen, dass Personen, die an Lungenpest oder an von Mensch zu Mensch übertragbarem hämorrhagischem Fieber erkrankt oder dessen verdächtig sind, unverzüglich in einem Krankenhaus oder einer für diese Krankheiten geeigneten Einrichtung abgesondert werden. Bei sonstigen Kranken sowie Krankheitsverdächtigen, Ansteckungsverdächtigen und Ausscheidern kann nach § 30 Abs. 1 Satz 2 IfSG angeordnet werden, dass sie in einem geeigneten Krankenhaus oder in sonst geeigneter Weise abgesondert werden, bei Ausscheidern jedoch nur, wenn sie andere Schutzmaßnahmen nicht befolgen, befolgen können oder befolgen würden und dadurch ihre Umgebung gefährden. Bei der Anordnung in Ziffer 6.2. Satz 1 Alt. 2 CoronaAVPflegeundBesuche handelt es sich um eine solche Absonderungsmaßnahe. Das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen hat diesbezüglich darauf abgestellt, ob Ziel der Maßnahme die weitgehende Isolierung der betroffenen Person unter behördlicher Aufsicht ist.

Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 5. Juni 2020 – 13 B 776/20.NE -, juris Rn. 32.

Ziel der Maßnahme ist hier offensichtlich die Absonderung bzw. Isolierung der in Ziffer 6.2. Satz 1 Alt. 2 CoronaAVPflegeundBesuche genannten Personen (vgl. die von der Antragsgegnerin selbst verwendete Definition). Zwar fehlt es bei den betroffenen Personen an einer behördlichen Einbeziehung hinsichtlich der konkreten Isolierung, denn nach der derzeitigen Ausgestaltung soll die Pflegeeinrichtung – der Verantwortliche der Einrichtungsleitung – über den Beginn und auch die Beendigung der getrennten Versorgung grundsätzlich unabhängig von den (unteren) Gesundheitsbehörden befinden (vgl. die weiteren Regelungen in Ziffer 6 CoronaAVPflegeundBesuche). Dieser Umstand führt jedoch nicht auf das Ergebnis, bei der vorzunehmenden Isolierung handele es sich trotz ihrer eindeutigen Zielrichtung nicht um eine Absonderungsmaßnahme im Sinne von § 30 Abs. 1 Satz 2 IfSG. Denn die Entkoppelung von einem behördlichen Entscheidungsprozess erweist sich in dem konkreten Fall als rechtswidrig (dazu sogleich).

Die Anordnung in Ziffer 6.2. Satz 1 Alt. 2 CoronaAVPflegeundBesuche kann – unabhängig davon, ob ein Austausch der Ermächtigungsgrundlage möglich ist – auch nicht auf die nach den obigen Ausführungen einschlägige Regelung des § 30 Abs. 1 Satz 2 IfSG gestützt werden. Denn die Anordnung zur Absonderung kann nach dieser Vorschrift nur von der zuständigen Behörde getroffen werden. Dies kann nach § 2 Abs. 2 Nr. 2 IfSBG-NRW zwar auch das MAGS sein, wenn Anordnungen für den Bereich mehrerer örtlicher Ordnungsbehörden und mehrerer Kreise erlassen werden sollen. Die Allgemeinverfügung überlässt jedoch die Auswahl der zu isolierenden Personen vollständig den jeweiligen Einrichtungsleitungen. Der Antragsgegner führt in seiner Antragserwiderung aus, sich bei der Regelung mit der Formulierung „pflegebedürftige Menschen, […] bei denen aufgrund eines konkret darzulegenden Anlasses eine SARS-CoV-2-Infektion nicht ausgeschlossen werden kann“, an der Terminologie und dem Regelungskonzept des § 28 Abs. 1 IfSG und dessen Tatbestandsmerkmalen des Krankheitsverdächtigen bzw. Ansteckungsverdächtigen orientiert zu haben (vgl. Bl 26 GA). Eine weitere Präzisierung erfolgt in der Allgemeinverfügung aber nicht. Die in der Begründung zu Ziffer 6 dargelegten Beispielsfälle, bei denen nicht von einem konkreten Anlass auszugehen ist (Arztbesuche, ambulante Behandlungen im Krankenhaus oder das nach Ziffer 4 ausdrücklich zugelassene Verlassen der Einrichtungen) tragen insoweit nur unwesentlich zur Klärung bei. Die Allgemeinverfügung überlässt die Prüfung des einzigen Tatbestandsmerkmals der Absonderung nach § 30 Abs. 1 Satz 2 IfSG im Ergebnis der jeweiligen Einrichtungsleitung, die in eigener Kompetenz befinden soll. Auf Rechtsfolgenseite hat der Antragsgegner zwar das ihm zustehende Ermessen zugunsten der Absonderung ausgeübt. Nach dem Regelungskonzept des § 30 Abs. 1 Satz 2 IfSG – und im Übrigen auch des § 28 Abs. 1 IfSG – sind jedoch auch die Tatbestandsvoraussetzungen von der zuständigen Behörde zu prüfen. Eine Übertragung dieser hoheitlichen Befugnis auf Dritte ist insoweit nicht vorgesehen. Dies ergibt sich hier auch nicht aus § 30 Abs. 3 IfSG. Danach steht es zwar den Krankenhäusern oder den sonstigen Absonderungseinrichtungen, in welche eine Absonderung auch erfolgen kann, unter bestimmten Voraussetzung offen, Anordnungen gegenüber einem in diesen Einrichtungen Abgesonderten zu erlassen. Um einen solchen Fall handelt es hier jedoch nicht. Hier geht es um die Entscheidung zur Absonderung selbst. Die Regelung des § 30 Abs. 3 IfSG betrifft den Status des Abgesonderten nach der Absonderungsentscheidung durch die jeweils zuständige Behörde. Eine Analogie kommt ebenfalls nicht in Betracht. Eine planwidrige Regelungslücke ist hier nicht erkennbar. Auch wenn nach § 1 Abs. 2 Satz 2 IfSG die Eigenverantwortung der Träger und Leiter von Gemeinschaftseinrichtungen, Lebensmittelbetrieben, Gesundheitseinrichtungen sowie des Einzelnen bei der Prävention übertragbarer Krankheiten verdeutlicht und gefördert werden soll, ist nicht erkennbar, dass der Gesetzgeber es für möglich halten könnte, die letztendliche Entscheidungskompetenz für die Anordnung einer Absonderung -einer der eingriffsintensivsten Maßnahmen des IfSG – an einen privaten Akteur zu übertragen. Auch die erforderliche Vergleichbarkeit ist nicht gegeben. Denn es ist nicht im Ansatz erkennbar, dass die jeweiligen Einrichtungsleitungen der erfassten Pflegeeinrichtungen über das infektiologische oder infektionsschutzrechtliche Fachwissen verfügen, um selbstständig die Voraussetzungen einer Absonderung nach § 30 Abs. 1 IfSG zu überprüfen. Auf Kapazitätsengpässe in den Gesundheitsämtern kann sich der Antragsgegner nicht berufen. Es ist insoweit ureigene Aufgabe der zuständigen Behörden, die zur Gefahrenabwehr erforderlichen Maßnahmen des Infektionsschutzes zu ergreifen.

Zu einem anderen Ergebnis mag man wegen der hochwertigen Schutzgüter der Gesundheit und des menschlichen Lebens – trotz der erheblichen Eingriffsintensität – möglicherweise dann gelangen, wenn der Antragsgegner in der Allgemeinverfügung dezidiert aufführen würde, unter welchen – auch vom Personal der Pflegeeinrichtung ohne Weiteres nachprüfbaren – tatsächlichen Gegebenheiten die tatbestandlichen Voraussetzungen der Absonderung – also insbesondere ein Krankheits- bzw. Ansteckungsverdacht – in einer Pflegeeinrichtung vorliegen. Denn dann hätte der Antragsgegner und damit die zuständige Behörde selbst in dem vom IfSG vorgesehene Umfang die Entscheidung zugunsten der Absonderung getroffen. Die Einrichtungsleitungen wären dann – mangels eigenen Spielraums – als Verwaltungshelfer bei der Umsetzung der Allgemeinverfügung anzusehen. Eine solche Präzisierung ist hier nicht erfolgt. Die Ausführungen in der Antragserwiderung dazu, wann der Antragsgegner einen konkreten Anlass für die Absonderung als erfüllt ansehen würde (vgl. Bl. 27 GA) sind – unabhängig davon, ob diese Kriterien tatsächlich einen Krankheits- bzw. Ansteckungsverdacht begründen -, nicht geeignet, eine entsprechende Präzisierung herbeizuführen, weil sie für die Pflegeeinrichtungen jedenfalls keinerlei Bindungswirkungen entfalten und diesen im entscheidungserheblichen Zeitpunkt im Zweifel noch nicht einmal zur Kenntnis gebracht worden sind.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Streitwertfestsetzung folgt aus §§ 52 Abs. 1, 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG.

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