Oberlandesgericht Hamm, 20 W 3/21

Juli 9, 2021

Oberlandesgericht Hamm, 20 W 3/21

Tenor:

Auf die sofortige Beschwerde des Antragstellers vom 8. Januar 2021 wird der sein Prozesskostenhilfegesuch ablehnende Beschluss der 15. Zivilkammer des Landgerichts Münster vom 8. Dezember 2020 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Behandlung und Entscheidung mit der Maßgabe an das Landgericht Münster zurückverwiesen, dass die Bewilligung von Prozesskostenhilfe nicht mangels hinreichender Erfolgsaussicht der beabsichtigten Rechtsverfolgung abgelehnt werden darf.

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Gründe:
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I.
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Der Antragsteller betreibt eine Gaststätte in X. Er begehrt Prozesskostenhilfe für eine beabsichtigte Klage gegen den Antragsgegner, einen Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit, auf Leistungen aus einer bei diesem im Jahre 2014 genommenen Betriebsschließungsversicherung, der Allgemeine Bedingungen für die Versicherung von Betrieben gegen Schäden infolge Infektionsgefahr (Betriebsschließung) – AVB-BS – (im Folgenden: AVB-BS), ferner Besondere Bedingungen und Risikobeschreibungen für Versicherungen von Betrieben gegen Schäden infolge Infektionsgefahr (Betriebsschließung) – BBR-BS – (im Folgenden: BBR-BS), jeweils Stand: 1. Januar 2013, zugrunde liegen. Versichert ist eine Tagesentschädigung in Höhe von 3.000 € bis zur Dauer von 30 Schließungstagen.
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Die AVB-BS lauten auszugsweise wie folgt:
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§ 1 Gegenstand der Versicherung, versicherte Gefahren
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1. Versicherungsumfang
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Der Versicherer leistet Entschädigung, wenn die zuständige Behörde aufgrund des Gesetzes zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten beim Menschen (Infektionsschutzgesetz – IfSG) beim Auftreten meldepflichtiger Krankheiten oder Krankheitserreger (siehe Nr. 2)
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a) den versicherten Betrieb oder eine versicherte Betriebsstätte zur Verhinderung der Verbreitung von meldepflichtigen Krankheiten oder Krankheitserregern beim Menschen schließt; Tätigkeitsverbote gegen sämtliche Betriebsangehörige eines Betriebes oder einer Betriebsstätte werden einer Betriebsschließung gleichgestellt; …
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2. Meldepflichtige Krankheiten und Krankheitserreger
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Meldepflichtige Krankheiten und Krankheitserreger im Sinne dieser Bedingungen sind die folgenden, im Infektionsgesetz in den §§ 6 und 7 namentlich genannten Krankheiten und Krankheitserreger:
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a) Krankheiten
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b) Krankheitserreger
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[es folgen jeweils eine Auflistung von Krankheiten und Krankheitserregern in Spiegelstrichen, bei denen die Krankheit COVID-19 und der Erreger SARS-CoV-2 nicht enthalten sind]“
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Die BBR-BS sehen in Ziff. 2 eine Erweiterung des Katalogs mitversicherter meldepflichtiger Krankheiten und Krankheitserreger um bestimmte im Bundesseuchenschutzgesetz von 1962 aufgeführte Krankheiten vor.
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Aufgrund der öffentlich-rechtlichen Anordnungen im Zuge der COVID-19-Pandemie musste der Antragsteller seine Gaststätte zum 18. März 2020 schließen. Er machte deshalb Leistungen beim Antragsgegner geltend, welche dieser mit der Begründung verweigerte, Schließungen aus generalpräventiven Gründen wie durch Allgemeinverfügung ohne einen konkreten Infektionsfall seien nicht versichert.
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Mit seinem Antrag begehrt der Antragsteller Prozesskostenhilfe für eine Teilklage auf Zahlung von 6.000 € nebst Zinsen.
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Das Landgericht hat den Antrag mit dem angefochtenen Beschluss mit der Begründung zurückgewiesen, die beabsichtigte Rechtsverfolgung biete keine hinreichende Aussicht auf Erfolg im Sinne von § 114 ZPO. Eine bedingungsgemäße Betriebsschließung liege nicht vor, weil in § 1 Ziff. 2 AVB-BS weder COVID-19 noch SARS-CoV-2 aufgeführt seien und es sich bei der dortigen Auflistung um eine abschließende Regelung handele, die weder unklar und mehrdeutig im Sinne von § 305c BGB noch über ihren – eindeutigen – Wortlaut einer Auslegung im Sinne einer dynamischen Verweisung zugänglich sei. Für den durchschnittlichen Versicherungsnehmer einer Betriebsschließungsversicherung sei vielmehr durch die einschränkende Formulierung „folgende“ in § 1 Ziff. 2 AVB-BS klar, dass lediglich die enumerativ aufgezählten Krankheiten und Krankheitserreger vom Versicherungsschutz erfasst sein sollen. Die Klausel halte einer Transparenzkontrolle stand und sei einer Analogie nicht zugänglich.
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Hiergegen wendet sich der Antragsteller mit seiner sofortigen Beschwerde, der das Landgericht mit Beschluss vom 15. Januar 2021 nicht abgeholfen und die Sache dem Senat zur Entscheidung vorgelegt hat.
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II.
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Die gemäß §§ 127 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 1, 567 ff. ZPO zulässige sofortige Beschwerde des Antragstellers hat in der Sache – jedenfalls vorläufig – Erfolg und führt zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und zur Zurückverweisung der Angelegenheit an das Landgericht.
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Dieses hätte die Bewilligung von Prozesskostenhilfe gemäß § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO nach derzeitigem Sach- und Streitstand nicht mangels hinreichender Erfolgsaussicht der beabsichtigten Rechtsverfolgung versagen dürfen. Letztere erscheint auch nicht mutwillig im Sinne des § 114 Abs. 2 ZPO. Ob der Antragsteller die Kosten der Prozessführung gemäß seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen entweder gar nicht, nur teilweise oder bloß in Raten aufzubringen vermag, hat das Landgericht – von seinem Rechtsstandpunkt aus folgerichtig – nicht geprüft. Da es diesbezüglich noch ergänzender Prüfung bedarf, überträgt der Senat alles Weitere der Vorinstanz (§ 572 Abs. 3 ZPO).
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1.
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Eine hinreichende Erfolgsaussicht besteht, wenn bei summarischer Prüfung für die begehrte Rechtsfolge im maßgeblichen Zeitpunkt der „Entscheidungsreife“ eine gewisse, nicht notwendig überwiegende Wahrscheinlichkeit spricht. Dabei dürfen an die Erfolgsaussicht keine überspannten Anforderungen gestellt werden; es reicht bereits aus, wenn das Gericht nach einer summarischen Prüfung den Rechtsstandpunkt des Antragstellers für vertretbar hält. Das gilt namentlich dann, wenn in der Hauptsache schwierige, bislang ungeklärte Rechtsfragen zu entscheiden sind (vgl. nur BGH, Beschluss vom 30. April 2020 – StB 29/18, BeckRS 2020, 14915 Rn. 25; Zöller/Schultzky, ZPO 33. Aufl. § 114 Rn. 25; jeweils mwN).
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Die Prüfung der Erfolgsaussicht soll nicht dazu dienen, die Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung selbst in das Nebenverfahren der Prozesskostenhilfe vorzuverlagern und dieses an die Stelle des Hauptsacheverfahrens treten zu lassen. Prozesskostenhilfe ist allerdings nicht bereits zu gewähren, wenn die entscheidungserhebliche Frage zwar noch nicht höchstrichterlich geklärt ist, ihre Beantwortung aber im Hinblick auf die einschlägige gesetzliche Regelung oder die durch die bereits vorliegende Rechtsprechung gewährten Auslegungshilfen nicht in dem genannten Sinne als „schwierig“ erscheint. Liegt diese Voraussetzung dagegen vor, läuft es dem Gebot der Rechtsschutzgleichheit zuwider, dem Unbemittelten wegen fehlender Erfolgsaussicht seines Begehrens Prozesskostenhilfe vorzuenthalten. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO darf wegen der in Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG verbürgten Rechtsschutzgleichheit nicht dahin ausgelegt werden, dass auch schwierige, noch nicht geklärte Rechtsfragen im Prozesskostenhilfe-Verfahren „durchentschieden“ werden (BVerfG, Beschluss vom 16. April 2019 – 1 BvR 2117/17, NVwZ-RR 2020, 137 Rn. 22 mwN).
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2.
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An diesen Grundsätzen gemessen kann vorliegend eine hinreichende Erfolgsaussicht der beabsichtigten Rechtsverfolgung nicht verneint werden.
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Die Frage, ob bei der in Rede stehenden oder einer vergleichbaren Bedingungslage einer Betriebsschließungsversicherung eine auf einer Allgemeinverfügung und/oder Rechtsverordnung im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie angeordnete Schließung eines Betriebs versichert ist, ist in der instanzgerichtlichen Rechtsprechung und in der versicherungsrechtlichen Literatur umstritten und höchstrichterlich bislang ungeklärt (eine Deckungspflicht des Versicherers mit unterschiedlichen Erwägungen bejahend etwa: LG Flensburg, Urteil vom 10. Dezember 2020 – 4 O 153/20, BeckRS 2020, 36333; LG München I, Urteile vom 22. Oktober 2020 – 12 O 5868/20, r+s 2020, 686 mAnm Schneider/Schlüter = COVuR 2020, 755; vom 1. Oktober 2020 – 12 O 5895/20, NJW 2020, 3461 mAnm Armbrüster = r+s 2020, 618 mAnm Piontek = r+s 2020, 624 (Ls.) mAnm Orlikowski-Wolf/Gubenko; LG Darmstadt, Urteile vom 14. Januar 2021 – 28 O 130/20, BeckRS 2021, 529; vom 14. Dezember 2020 – 28 O 128/20, BeckRS 2020, 39534 und 28 O 168/20, BeckRS 2020, 39535; vom 9. Dezember 2020 – 4 O 220/20, BeckRS 2020, 35645; LG Hamburg, Urteil vom 4. November 2020 – 412 HKO 83/20, BeckRS 2020, 30448 mAnm Nugel, jurisPR-VersR 1/2021 Anm. 3 und 412 HKO 91/20, BeckRS 2020, 30449; LG Magdeburg, Grundurteil vom 6. Oktober 2020 – 31 O 45/20, BeckRS 2020, 28216; siehe auch aus der Literatur Fortmann, ZfV 2020, 300; ders., VersR 2020, 1073 sowie umfassend mwN Armbrüster in Prölss/Martin, VVG 31. Aufl. Anh. zur FBUV).
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Der Umstand, dass mittlerweile eine erste obergerichtliche Entscheidung vorliegt, die bei vergleichbarer Bedingungslage eine Deckungspflicht des Versicherers verneint (vgl. OLG Stuttgart, Urteil vom 18. Februar 2021 – 7 U 351/20, BeckRS 2021, 2002), vermag nichts daran zu ändern, dass die Erfolgsaussicht der beabsichtigten Klage zumindest offen ist. Das OLG Stuttgart hat (aaO Rn. 50 ff.) die Revision gegen seine Entscheidung zu Recht wegen grundsätzlicher Bedeutung im Sinne von § 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO zugelassen. Es sind Fragen der Auslegung der Allgemeinen Versicherungsbedingungen einer Betriebsschließungsversicherung, wie sie von zahlreichen Versicherern angeboten worden ist, entscheidungserheblich, klärungsbedürftig und klärungsfähig, die sich in einer unbestimmten Vielzahl von Fällen stellen können und dabei auch das abstrakte Interesse der Allgemeinheit an der einheitlichen Entwicklung und Handhabung des Rechts berühren. Prozesskostenhilfe darf nicht verweigert werden, wenn wegen grundsätzlicher Bedeutung der Sache die Revision zugelassen werden müsste (vgl. Zöller/Schultzky, ZPO 33. Aufl. § 114 Rn. 25 mwN).

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