OLG Hamm, Urteil vom 05.11.2021 – 11 U 44/21

Dezember 29, 2021

OLG Hamm, Urteil vom 05.11.2021 – 11 U 44/21

Die Berufung der Klägerin gegen das am 26.02.2021 verkündete Urteil des Einzelrichters der 11. Zivilkammer des Landgerichts Münster wird zurückgewiesen.

Die Klägerin trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Die Klägerin darf die Zwangsvollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund dieses Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, sofern nicht das beklagte Land vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

Das angefochtene Urteil ist ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar.

Gründe
I.

Die Klägerin verlangt Erstattung ihres Einnahmeverlustes, weil sie aufgrund eines Erlasses des beklagten Landes vom 15.03.2020, umgesetzt durch die Stadt Z mittels Allgemeinverfügung vom 16.03.2020, zwecks Bekämpfung der Corona-Pandemie ihren medizinischen Schulungsbetrieb im Zeitraum vom 17.03. bis 03.05.2020 einstellen musste.

Wegen der Einzelheiten des Sachverhaltes einschließlich der erstinstanzlich gestellten Anträge wird gemäß § 540 ZPO auf die Feststellungen in dem angefochtenen Urteil verwiesen.

Das Landgericht hat die Klage abgewiesen und ausgeführt:

Die Klägerin könne keine Entschädigung nach den Normen des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) verlangen. Gegen sie und ihre Mitarbeiter seien keine Maßnahmen oder Tätigkeitsverbote als Ausscheider oder Träger von Krankheitserregern, Ansteckungs- oder Krankheitsverdächtige ergangen. Es lägen auch keine lediglich vorbeugenden Verhütungs-, sondern Bekämpfungsmaßnahmen gegen eine bereits bestehende Pandemie vor. Deshalb seien die im Infektionsschutzgesetz enthaltenen Entschädigungsregelungen nicht anwendbar. Eine analoge Anwendung dieser Normen sei nicht möglich, weil es an einer planwidrigen Regelungslücke fehle. Vielmehr habe der Gesetzgeber bewusst nur Entschädigungsansprüche für die konkrete Inanspruchnahme bestimmter Infektionsverdächtiger geregelt, während allgemein wirkende Maßnahmen keine Ansprüche begründen sollten. Auch die Entschädigungsleistungen seit Ausbruch der Pandemie (insbesondere die sogenannten „Novemberhilfen“) zeigten den gesetzgeberischen Willen, keine volle Entschädigungsleistung für die getroffenen Maßnahmen leisten zu wollen. Ansprüche aus dem Allgemeinen Polizei- und Ordnungsrecht, aus Amtshaftung, aus enteignendem oder enteignungsgleichem Eingriff kämen allenfalls im Hinblick auf die Allgemeinverfügung vom 16.03.2020 in Betracht und können sich nur gegen die Stadt Z richten. Ohnehin enthielten die Vorschriften des Infektionsschutzgesetzes eine abschließende Regelung, die gegenüber diesen Anspruchsgrundlagen mit Ausnahme der Amtshaftung vorrangig seien.

Mit der Berufung wiederholt und vertieft die Klägerin ihre Ansicht, dass die Vorschriften des Infektionsschutzgesetzes entgegen der Auffassung des Landgerichts analogiefähig seien. Der Wille des historischen Gesetzgebers könne dabei nicht maßgeblich sein, weil er eine derartige weltweite Pandemie mit der Notwendigkeit umfassender Betriebsschließungen nicht vorausgesehen habe. Deshalb sei im November 2020 auch eine umfassende Änderung des Infektionsschutzgesetzes erfolgt. Wenn es aber aufgrund des Gesundheitsschutzes notwendig sei, Unternehmen mit einem Tätigkeitsverbot zu belegen, seien für diese die Entschädigungsvorschriften anwendbar.

Die Klägerin beantragt,

das am 26.02.2021 verkündete Urteil des Einzelrichters der 11. Zivilkammer des Landgerichts Münster abzuändern und das beklagte Land zu verurteilen, an sie 47.529,00 Euro zuzüglich Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen.

Das beklagte Land beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Es rügt das Fehlen einer ausreichenden Berufungsbegründung und verteidigt das angefochtene Urteil mit näheren Ausführungen.

II.

Die Berufung ist zulässig, wobei die Berufungsbegründung den Anforderungen des § 520 Abs. 3 ZPO genügt, weil die Klägerin eine fehlerhafte Rechtsanwendung durch das Landgericht rügt. In der Sache bleibt die Berufung jedoch ohne Erfolg. Zu Recht und mit zutreffenden Erwägungen hat das Landgericht die Klage abgewiesen.

1.

Soweit das Landgericht ausgeführt hat, dass die tatbestandlichen Voraussetzungen weder des § 56 Abs. 1 IfSG noch des § 65 IfSG i. V. m. §§ 16, 17 IfSG vorliegen, ist dies zutreffend und wird von der Berufung auch nicht in Zweifel gezogen.

2.

Mit Recht hat das Amtsgericht des Weiteren erkannt, dass im vorliegenden Fall eine analoge Anwendung des § 56 Abs. 1 IfSG oder des § 65 Abs. 1 IfSG nicht in Betracht kommt.

Die analoge Anwendung gesetzlicher Vorschriften ist nur zulässig, wenn das Gesetz eine planwidrige Regelungslücke enthält. Die Lücke muss sich daher aus dem unbeabsichtigten Abweichen des Gesetzgebers von seinem, dem konkreten Gesetzgebungsverfahren zugrunde liegenden Regelungsplan ergeben. Darüber hinaus muss der zu beurteilende Sachverhalt in rechtlicher Hinsicht soweit mit dem vom Gesetzgeber geregelten Tatbestand vergleichbar sein, dass anzunehmen ist, dass der Gesetzgeber bei einer Interessenabwägung, bei der er sich von den gleichen Grundsätzen hätte leiten lassen wie beim Erlass der herangezogenen Norm, zum gleichen Abwägungsergebnis gekommen wäre (vgl. nur BGH, Urteil vom 04.12.2014, III ZR 61/14, NJW 2015, S. 76 m.w.N.).

Im vorliegenden Fall besteht im Infektionsschutzgesetz zwar keine Regelung bezüglich einer Ersatzleistung für solche Personen und Betriebe, die durch behördlich angeordnete Schutzmaßnahmen zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten wirtschaftliche Nachteile erleiden, obwohl sie bzw. ihre Mitarbeiter gesund sind und von ihnen kein störendes Verhalten ausging. Gleichwohl liegt keine planwidrige Regelungslücke vor, obwohl der Gesetzgeber eine Entschädigungspflicht für Ausscheider, Ansteckungsverdächtige, Krankheitsverdächtige oder sonstige Träger für Krankheitserreger eine Entschädigungspflicht des Staates angeordnet hat, wenn diese Verboten in der Ausübung ihrer Erwerbstätigkeit unterliegen oder unterworfen werden. Denn es kann nicht angenommen werden, dass seitens des historischen Gesetzgebers eine Regelung der Entschädigung unbeabsichtigt unterblieb. Darüber hinaus wird aus dem Handeln des Gesetzgebers nach Eintritt der Pandemie deutlich, dass eine Entschädigung in Fällen wie dem hier zu beurteilenden nach wie vor dem gesetzgeberischen Willen widerspricht.

Bereits im Bundesseuchengesetz (BSeuchG) aus dem Jahre 1961, welches dem IfSG voranging, hatte der Gesetzgeber in den §§ 49 und 57 Entschädigungszahlungen lediglich für Ausscheider, Ausscheidungsverdächtige oder Ansteckungsverdächtige, deren Erwerbstätigkeit behördlich beschränkt wurde, bzw. für Eigentümer, deren Gegenstände aufgrund einer Entseuchungsmaßnahme vernichtet oder beschädigt wurden, vorgesehen. Bei allgemein wirkenden Maßnahmen gemäß § 43 BSeuchG war keine Entschädigung für die dadurch nachteilig Betroffenen angeordnet. Für die Annahme, dass eine Entschädigungsregelung unbeabsichtigt versäumt wurde, ist insofern kein Raum. Vielmehr besteht kein Zweifel, dass bereits der Gesetzgeber des BSeuchG die möglichen weitreichenden Nachteile für die Betroffenen erkannt hat, jedoch nur einzelne Entschädigungstatbestände regeln wollte und schon im Hinblick auf die nicht kalkulierbaren Entschädigungsforderungen und den damit verbundenen finanziellen Lasten für den Staatshaushalt von einer umfassenden Entschädigungspflicht für alle Betroffenen bewusst abgesehen hat.

Von diesem Entschädigungskonzept ist der Gesetzgeber bei der Neufassung des BSeuchG im Jahre 1979 trotz Neuregelung der Ermächtigungsgrundlagen für behördliche Maßnahmen nicht abgegangen. Auch bei der Einführung des IfSG wurde mit den Regelungen in §§ 56 und 65 IfSG eine den §§ 49 und 57 BSeuchG ähnliche punktuelle Entschädigungsregelung zugunsten eines begrenzten Personenkreises beibehalten.

Schließlich belegt die weitere Tätigkeit des Gesetzgebers nach dem Auftreten der Corona-Pandemie den andauernden Willen des Gesetzgebers, keine Entschädigung für alle allgemein Betroffenen anordnen zu wollen. So wurde mit Gesetz vom 27.03.2020 (BGBl. I, 2020, S. 587) § 56 IfSG um einen Absatz 1a erweitert, der einen weiteren Entschädigungstatbestand zugunsten von erwerbstätigen Personen vorsieht, wenn diese einen Verdienstausfall deshalb erleiden, weil sie Kinder oder Menschen mit Behinderungen deshalb betreuen müssen, weil aus Gründen des Infektionsschutzes Schulen oder Betreuungseinrichtungen geschlossen werden. Zum damaligen Zeitpunkt waren weitreichende Nachteile für Erwerbstätige und Gewerbetreibende aufgrund der Anordnung von Schließungen in zahlreichen Wirtschaftszweigen bereits eingetreten oder absehbar, ohne dass der Gesetzgeber dies zum Anlass nahm, auch insoweit die Entschädigungsregelung des Infektionsschutzgesetzes zu erweitern. Auch beim Erlass des Dritten Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite (BGBl. 2020 Teil I Nr. 52, S. 2397) wurden die bestehenden Entschädigungsregelungen beibehalten, obwohl die Frage, ob diese gerade bei Betriebsschließungen wie im vorliegenden Fall ausreichend seien, zwischen Juristen, in den Medien und in der Gesellschaft verbreitet diskutiert wurde.

3.

Ein rechtswidriges Handeln seitens des beklagten Landes und daraus resultierende Schadensersatzansprüche gemäß § 839 Abs. 1 S. 1 BGB i. V. m. Art. 34 GG werden von der Klägerin nicht geltend gemacht. Ohnehin ist ein amtspflichtwidriges Handeln der staatlichen Institutionen bei den streitgegenständlichen Infektionsschutzmaßnahmen und der Untersagung des Schulungsbetriebes der Klägerin nicht ersichtlich.

Aus denselben Gründen scheitern jedenfalls auch Entschädigungsansprüche aus § 39 Abs. 1 Nr. 2 OBG NW oder aus enteignungsgleichem Eingriff.

4.

Die Klägerin kann auch keine Entschädigung gemäß § 39 Abs. 1 Nr. 1 b OBG NW i. V. m. § 19 OBG NW verlangen.

Ein Anspruch aus dieser Norm kommt, wie das Landgericht zutreffend ausgeführt hat, schon deshalb nicht in Betracht, weil das beklagte Land durch den Erlass des Ministeriums für Arbeit, Gesundheit und Soziales vom 15.03.2020 noch keine unmittelbar gegen die Klägerin wirkende Maßnahme erlassen hat. Diese liegt erst in der Allgemeinverfügung der Stadt Z vom 16.03.2020, weshalb allein die Stadt gemäß §§ 42, 45 OBG NW als Entschädigungspflichtige in Betracht kommt.

Darüber hinaus sind die Regelungen des OBG NW im vorliegenden Fall ohnehin nicht anwendbar, weil die Regelungen des Infektionsschutzgesetzes als Spezialgesetze vorrangig sind. Die im Infektionsschutzgesetz vorgesehene Entschädigungsregelung, die gerade keine Entschädigung für allgemein betroffene Nichtstörer vorsieht, liefe weitgehend leer, wenn diese weitergehende Entschädigungen aufgrund des Allgemeinen Polizei- und Ordnungsrechts verlangen könnten.

5.

Der Klägerin stehen schließlich keine Ersatzansprüche aus dem Gesichtspunkt des enteignenden Eingriffs zu.

Zwar ist der Senat nicht gehindert, diese Anspruchsgrundlage zu prüfen, obwohl die Berufung die Nichtanwendung dieses von der Rechtsprechung entwickelten Instituts nicht ausdrücklich rügt. Denn der Senat hat den ihm unterbreiteten Sachverhalt aus allen rechtlichen Gesichtspunkten zu würdigen, wobei er im Übrigen aufgrund seiner für den Streitfall bestehenden Zuständigkeit für Ansprüche aus den §§ 56, 65 IfSG, 839 BGB und 19 OBG NW auch sämtliche anderen ernsthaft in Betracht kommenden Anspruchsgrundlagen unabhängig von dem für sie zur Verfügung stehenden Rechtsweg gemäß § 17 Abs. 2 S. 1 GVG zu prüfen hat.

Ansprüche aus enteignendem Eingriff kommen nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs in Frage, wenn eine an sich rechtmäßige hoheitliche Maßnahme bei einem Betroffenen unmittelbar zu atypischen und unvorhergesehenen Eigentumsbeeinträchtigungen führt, die er aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen hinnehmen muss, die aber die Schwelle des enteignungsrechtlich Zumutbaren übersteigen (vgl. BGH, Urteil vom 29. März 1984, III ZR 11/83, BGHZ 91, S. 20; Urteil vom 10.02.2005, III ZR 330/04 juris).

Vorliegend greift die Untersagung des Schulungsbetriebs in das Recht der Klägerin an ihrem eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb ein und beeinträchtigt somit ihre Eigentumsrechte. Indes fehlt es an einem von ihr nicht mehr hinzunehmenden Sonderopfer. Die aufgrund des Erlasses des Ministeriums für Arbeit, Gesundheit und Soziales des beklagten Landes vom 15.03.2020 umgesetzten Maßnahmen führen nicht nur bei einem überschaubaren und individualisierbaren Kreis von Betroffenen zu Nachteilen. Vielmehr war ein weiter Kreis von Personen und Unternehmen in unterschiedlichen Branchen von den Schließungen betroffen. Von einem Sonderopfer der Klägerin könnte unter diesen Umständen allenfalls dann gesprochen werden, wenn die streitgegenständliche Betriebsschließung zu einer Gefährdung ihrer wirtschaftlichen Existenz geführt hätte. Dies macht die Klägerin jedoch nicht geltend, zumal ihr, wie die Befragung ihres Geschäftsführers im Senatstermin ergeben hat, ein Betrag von 9.000,00 Euro als Corona-Hilfe zunächst zur Verfügung gestellt wurde, auch wenn dieser Betrag grundsätzlich zurückgezahlt werden muss. Die rechtmäßige Untersagung des Betriebs der Klägerin in den Monaten März bis Mai 2020 und der damit verbundene zeitweilige Einnahmeausfall stellt sich daher als Ausfluss des unternehmerischen Risikos der Klägerin dar und übersteigt die Schwelle des enteignungsrechtlich Zumutbaren nicht.

6.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich gemäß §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.

Die Zulassung der Revision war nicht gemäß § 543 ZPO geboten. Der Rechtsstreit betrifft keine Fragen von grundsätzlicher Bedeutung, obwohl durch Infektionsschutzmaßnahmen im Zuge der Corona-Pandemie zahlreiche Personen und Gewerbetreibende betroffen wurden und eine Entscheidung des BGH zur Frage der Entschädigungspflicht des Staates insofern bisher nicht ergangen ist. Die Entscheidung des Senats folgt jedoch allgemeinen vom Bundesgerichtshof entwickelten Grundsätzen und steht in Übereinstimmung mit der bisher einhelligen Rechtsprechung sämtlicher Instanzgerichte in vergleichbaren Fällen. Wie der erkennende Senat haben auch das OLG Köln, Urteil vom 20.09.2021, 7 U 1/21, das LG Heilbronn, Urteil vom 29.04.2020, 4 O 82/20 (BB 2020, S. 1299), das LG Berlin, Urteil vom 13.10.2020, 2 O 247/20 (NVWZ-RR 2021, S. 301), das LG Stuttgart, Urteil vom 05.11.2020, 7 O 109/20, das LG Hannover, Urteil vom 20.11.2020, 8 O 4/20, das LG Köln, Urteil vom 12.01.2021, 5 O 215/20, das LG Hamburg, Urteil vom 09.04.2021, 303 O 65/20, sowie das LG Düsseldorf, Urteil vom 12.05.2021, 2 O 110/20, sämtlich veröffentlicht bei juris, die Rechtslage beurteilt. Auf deren Ausführungen, insbesondere die sorgfältig und umfassend begründete Entscheidung des LG Hannover, wird ergänzend verwiesen.

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