ArbG Villingen-Schwenningen Urteil vom 17.2.2021, 4 Ca 425/20

Februar 16, 2022

ArbG Villingen-Schwenningen Urteil vom 17.2.2021, 4 Ca 425/20
Maskenpflicht, Eignung von Gesichtsvisieren, ärztliche Maskenbefreiung, Weisungsrecht, außerordentliche Kündigung

1. Die medizinische Erkenntnis geht dahin, dass Mund-Nasen-Bedeckungen einen Beitrag zur Infekti-onsverbreitung leisten können. Auch ein Gesichtsvisier kann danach (begrenzten) Schutz bieten. Diese Auffassung dürfen sich Arbeitgeber*innen bei der Ausübung von Weisungsrechten zueigen machen.

2. Ein ärztliches Attest, nach dem ohne nähere Kontextuierung eine Maskenbefreiung festgestellt wird, begrenzt das arbeitgeberseitige Weisungsrecht nicht.

3. Eine außerordentliche Kündigung kann jedenfalls nach einschlägigen Abmahnungen gerechtfertigt sein, wenn Arbeitnehmer*innen nachhaltig sowohl das verbindlich angeordnete Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung als auch eines Gesichtsvisiers als auch das Angebot eines HomeOffice-Arbeitsplatzes als auch eine bezahlte Freistellung ablehnen.

4. Der persönlichen Überzeugung einzelner Arbeitnehmer*innen, dass keine Schutzmaßnahmen erfor-derlich seien, müssen Arbeitgeber*innen nicht so weit Rechnung tragen, dass die Maßnahmenanord-nungen gegenüber Kolleg*innen entsprechend zu intensivieren wären.

Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.

2. Der Kläger trägt die Kosten des Rechtsstreits.

3. Der Wert des Streitgegenstands wird auf 15.122,67 EUR festgesetzt.

Tatbestand

1
Die Parteien streiten über die Frage der Wirksamkeit einer außerordentlichen Kündigung vor dem Hintergrund der Weigerung des Klägers, pandemiebedingte Infektionsschutzmaßnahmen umzusetzen (Mund-Nasen-Schutz, Gesichtsvisier oder Homeoffice).
2
Der Kläger ist 63 Jahre alt und seit dem 11. Februar 2019 mit einem Grad der Behinderung von 50 wegen einer „Depression, seelischen Störung“ als schwerbehinderter Mensch anerkannt (Bl. 12 ff. d. A.). Er ist seit dem 24. Oktober 1983 zunächst bei der Rechtsvorgängerin der Beklagten und sodann bei der Beklagten als Konstruktionsingenieur beschäftigt. Seit dem 1. September 2018 besteht ein bis zum 31. August 2021 befristeter Altersteilzeitvertrag (Bl. 4 ff. d. A.). Der Kläger erhält eine Vergütung in Höhe von 5.040,89 EUR brutto monatlich.
3
Bei der Beklagten wurde ab dem 9. März 2020 ein „Corona-Krisenstab“ gegründet. Unter dem 22. April 2020 schlossen die Parteien eine Betriebsvereinbarung (BV 20.066) zur vorübergehenden Verpflichtung zum Tragen von Gesichtsmasken zum Schutz vor Corona-Ansteckungen (Bl. 50 ff. d. A.). Vorausgegangen war – zuletzt im Kammertermin unstreitig – eine Gefährdungsbeurteilung (Bl. 113 ff. d. A.). In der Betriebsvereinbarung heißt es auszugsweise:
4
§ 2 Tragepflicht von Schutzmasken
Alle Mitarbeiter sind grundsätzlich verpflichtet, auf dem Betriebsgelände eine Schutzmaske (Mund-Nase-Schutz, sog. „OP-Maske“) zu tragen. Dies gilt insbesondere
· in Bereichen, wo nicht dauerhaft und ununterbrochen Mindestabstand von 1,5 m* eingehalten wird; dazu zählen auch Besprechungen, bei denen an sich der Mindestabstand gegeben ist, jedoch gemeinsam auf einen Laptop oder Bildschirm geschaut wird
· wenn (auch nur kurz) gemeinsam Unterlagen durchgesehen werden müssen
· in der Produktion oder bei Servicetätigkeiten, wo prozessbedingt der Abstand nicht eingehalten werden kann
· in den Tee-/Kaffeeküchen
· wann immer es sinnvoll erscheint, eine Maske zu tragen.
Von der Maskenpflicht kann abgesehen werden,
· wenn Mitarbeiter im Büro allein sind oder dauerhaft und ununterbrochen ein Abstand von mindestens 1,5 Metern zu den Kolleginnen gewährleistet ist
· wenn Mitarbeiter auf dem Werksgelände im Freien unterwegs sind und der Mindestabstand gewährleistet ist

Es können auch selbstgenähte Mund-Nase-Schutzmasken getragen werden.
Das Unternehmen wird Schutzmasken in ausreichendem Maße zur Verfügung stellen und den Mitarbeitern in geeigneter Form übergeben.
5
Der Kläger erhielt zunächst für einen Vorfall am 19. Mai 2020 eine Abmahnung (erteilt am 19. August 2020, Bl. 54 f. d. A.). Hintergrund war, dass der Kläger den Abteilungsleiter Herrn H. bat, ein Video mit dem Titel „Brutal verhaftet: DDR-Bürgerrechtlerin Angelika Barbe packt aus“ in die monatliche Mitarbeiterinfoveranstaltung aufzunehmen, damit „noch irgendeiner in dieser Spaßgesellschaft aufwacht“. Am 30. Juni 2020 las der Kläger seinen Kollegen während der Arbeitszeit aus dem Buch „die Corona-Lüge“ vor und verteilte am betrieblichen Drucker angefertigte Blätter an die Kollegen.
6
Nachdem der Kläger einige – nicht näher benannte – Tage im Betrieb eine Maske trug, legte er am 7. Juli 2020 ein ärztliches Attest vor. In diesem Attest heißt es (Bl. 98 d. A.):
7
Ärztliches Attest
Betrifft: Herrn W., geb. 0.0.57, (Adresse)
O.g. Patient wird aus medizinischen Gründen von der Maskenpflicht in Zusammenhang mit der COVID-Pandemie befreit.
Dr. med. (Name)
8
Am 14. Juli 2020 führte Herr H. ein Gespräch mit dem Kläger und bot ihm an, statt des Mund-Nasen-Schutzes ein Gesichtsvisier zu tragen. Dies lehnte der Kläger ab und kündigte an, wieder einen Mund-Nasen-Schutz zu tragen. Jedenfalls am 15. Juli 2020 und am 20. Juli 2020 trug der Kläger keinen Mund-Nasen-Schutz. Dafür wurde er ebenfalls am 19. August 2020 abgemahnt (Bl. 56 f. d. A.).
9
Am 21. Juli 2020 legte der Kläger dann gegenüber dem Personalleiter Herrn W., dem Abteilungsleiter Herrn H. und dem Betriebsrat Herrn B. eine schriftliche Erklärung vor, weshalb er aus gesundheitlichen und politischen Gründen keine Mund-Nasen-Bedeckung trage. Dieser Erklärung lautet im Wortlaut (Bl. 53 d. A.):
10
BEFREIUNG VON DER MASKENPFLICHT/MUND-NASE-BEDECKUNG
11
Unter Berufung auf § 3 Absatz (2) Nr. 2 der Corona Verordnung Baden-Württemberg in der Fassung vom 01.07.2020 erkläre ich, dass mir das Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung aus gesundheitlichen und sonstigen Gründen nicht möglich und nicht zumutbar ist.
12
Aus folgenden Gründen ist mir das Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung nicht möglich und auch nicht zumutbar:
13
1. Gesundheitliche Gründe / Eingriff in Körperliche Unversehrtheit, Art 2 II S.1 GG:
14
Freies Atmen mit Mund-Nase-Bedeckung nicht möglich CO2 Rückatmung
15
Fehlende Möglichkeit der ordnungsgemäßen Desinfektion der Mund-Nasen-Bedeckung gemäß der WHO Empfehlungen
16
Feuchtes Klima unter der Mund-Nasen-Bedeckung, gerade bei Hitze Kopfschmerzen und Schwindel beim Tragen einer Maske.
17
2. Politische Gründe:
18
Das Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung (Maske) ist mit meiner politischen Aktivität bei QUERDENKEN-711 nicht vereinbar, da die sog. „Maskenpflicht“ für mich ein Symbol politischer Unterdrückung darstellt, gegen die ich protestiere.
19
3. Gesunder Menschenverstand / Infektionsschutz:
20
Die Masken bieten keinerlei Schutz gegen Viren oder Bakterien und erzeugen ein falsches Gefühl von vermeintlicher Sicherheit.
21
4. Religiöse Gründe:
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Jede Art einer Vermummungspflicht lehne ich als Akt der Unterdrückung ab und zeige damit auch meine Solidarität mit allen unterdrückten Menschen auf der Welt, welchen untersagt wird, ihr Gesicht zu zeigen.
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Dem Kläger wurde daraufhin erneut angeboten, zur Vermeidung der Atembeschwerden ein Gesichtsvisier zu tragen oder die Tätigkeit im Homeoffice zu erbringen. Nachdem der Kläger dies ablehnte, stellte die Beklagte ihn zunächst widerruflich frei. Am 28. Juli 2020 sprach der Kläger vor dem Entwicklungsgebäude verschiedene Mitarbeiter an, behauptete, fristlos entlassen worden zu sein und bat um Unterschriften zur Bestätigung, dass der keinen Zutritt zum Gebäude hätte. Auch für diesen Vorfall erhielt der Kläger am 19. August 2020 eine Abmahnung (Bl. 58 f. d. A.).
24
Am 19. August 2020 fand sodann ein weiteres Personalgespräch zwischen dem Kläger, Herrn W., Herrn H., Herrn B. und Frau Sch. (Personalabteilung) statt. Dabei wurde für die vorgenannten Fälle insgesamt drei Abmahnungsschreiben übergeben. Zudem wurde der Kläger nochmals mündlich und schriftlich (Bl. 59 d. A.) darauf hingewiesen, dass bei der Verweigerung der Einhaltung von Schutzmaßnahmen der Betriebsvereinbarung 20.066 weitere arbeitsrechtliche Schritte bis hin zur Kündigung drohen. Eine unwiderrufliche Freistellung bis zum Ende der Altersteilzeit lehnte der Kläger ebenfalls ab. Die bis zum 21. August 2021 gesetzte Frist zur Bestätigung der Einhaltung der Betriebsvereinbarung ließ der Kläger verstreichen. Die Beklagte stellte den Kläger bis zum 28. August 2020 weiter frei und wies nochmals auf die Verpflichtung zum Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes oder eines Gesichtsvisiers hin, das zur Verfügung gestellt werde; anderenfalls sei mit arbeitsrechtlichen Sanktionen bis hin zur Kündigung zu rechnen (Bl. 60 d. A.). Der Kläger begehrte Urlaub und Zeitkontenabbau bis zum 18. September 2020, was die Beklagte bewilligte.
25
Ein weiteres Personalgespräch fand zwischen dem Kläger, Herrn W., Herrn H., Herrn B. und Frau Sch. am 21. September 2020 statt. Der Kläger erklärte darin, der Verpflichtung aus der Betriebsvereinbarung nicht nachzukommen und bestätigte diese Haltung auf Nachfrage („garantiert nicht“).
26
Die Beklagte hörte den Betriebsrat (Bl. 61 ff. d. A.) und die Schwerbehindertenvertretung (Bl. 67 ff. d. A.) am 23. September 2020 zum Ausspruch einer außerordentlichen Kündigung an und beantragte beim Integrationsamt am 24. September 2020 die Zustimmung (Bl. 72 ff. d. A.), die am 8. Oktober 2020 erteilt wurde. Mit Schreiben vom 8. Oktober 2020, zugegangen am gleichen Tag, kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis fristlos (Bl. 11 d. A.).
27
Der Kläger hält die Kündigung und die Anordnungen der Beklagten für unwirksam. Im Gütetermin erklärte der Kläger, dass er 2016 wegen einer Depression in der Psychiatrie gewesen sei. Jetzt bekomme er eine Depression, wenn er einen Mund-Nasen-Schutz tragen müsse. Außerdem erklärte er, dass in Deutschland nicht definiert sei, was ein Mund-Nasen-Schutz sei und der Zweck medizinisch nicht nachgewiesen sei. Ihm falle die Atmung Mund-Nasen-Schutz schwerer, insbesondere, wenn er die Treppe zum Arbeitsplatz hinaufsteigen müsse. Einen Homeoffice-Platz habe er abgelehnt, weil er als geschiedener und alleinstehender Mann soziale Kontakte benötige. Im Kammertermin ließ der Kläger auf Nachfrage des Gerichts durch seinen Prozessbevollmächtigten erklären, dass er hinsichtlich gesundheitlichen Einschränkungen beim Tragen eines Gesichtsvisiers statt eines Mund-Nasen-Schutzes keine Erklärungen abgeben wollen; der medizinische Nutzen sei nicht erwiesen. Der Kläger ist ferner der Auffassung, dass eine Gefährdungslage, die überhaupt die Anordnung von Schutzmaßnahmen begründe, nicht nachweisbar sei. Insofern habe sich die Lage zwischen etwa Januar 2020 und April 2020 nicht verändert. Dass ein Krankheitserreger im Umlauf sei, bedeute nicht, dass der Kläger „weniger Sauerstoff benötige als üblich“. Das Tragen einer Maske sei nicht geeignet, erforderlich und angemessen. Der Kläger erklärt außerdem, dass seine der Beklagten bekannte psychische Beeinträchtigung bei der Anordnung des Mund-Nasen-Schutzes nicht hinreichend berücksichtigt worden sei. Er habe seine gesundheitlichen Schwierigkeiten beim Tragen der Maske und ein Attest als „vertrauensbildende Maßnahme“ vorgelegt, obwohl er dazu gesetzlich nicht verpflichtet gewesen sei. Schließlich stelle die Ausatemluft einen biologischen Arbeitsstoff dar, die Gefährdungsbeurteilung hätte sich nach § 4 BioStoffV auch auf dieses Risiko erstrecken müssen. Durch die CO2-Rückatmung bildeten sich Pilze und Bakterien im Maskeninneren. Aus Gründe des Arbeitsschutzes und zur Vermeidung von Unfallgefahren müsse die Beklagte die Beschäftigten vor den Risiken des Maskentragens schützen und sich „von der Fehlvorstellung“ verabschieden, „es handele sich bei (selbstgenähten) Masken lediglich um einen lästigen Stofffetzen im Gesicht“. Schließlich ergebe sich auch aus der SARS-CoV-2-Arbeitsschutzregel, dass andere Schutzmaßahmen gegenüber der Einführung einer Maskenpflicht vorrangig seien. Die Beklagte hätte den unmittelbaren Mitarbeitern des Klägers aufgeben müssen, situativ eine FFP2-Maske zu tragen, der Kläger könne nicht zum Tragen einer Maske verpflichtet werden. Auch eine (bezahlte) Freistellung lehne er ab, da er seinen Beschäftigungsanspruch durchsetzen wolle.
28
Der Kläger hat den zunächst angekündigten Schleppnetzantrag im Kammertermin zurückgenommen und beantragt zuletzt noch:
29
Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis des Klägers nicht durch die schriftliche fristlose Kündigung der Beklagten vom 08.10.2020, zugegangen am 08.10.2020, aufgelöst wird.
30
Die Beklagte beantragt,
31
die Klage abzuweisen.
32
Die Beklagte ist der Auffassung, dass die Anordnung einer Maskenpflicht rechtmäßig sei. Auch die Corona-Schutzverordnung vom 30. November 2020 ordne zwischenzeitlich eine solche Verpflichtung in Büroräumen an. Zudem habe die Beklagte eine umfassende Gefährdungsbeurteilung durchgeführt und in der Betriebsvereinbarung die Verpflichtung zum Maskentragen auf bestimmte Zeiträume beschränkt; der Kläger müsse weitgehend im Arbeitsalltag keine Maske tragen. Die Beschäftigten seien auch nicht zur Nutzung etwaiger „minderwertiger“ Mund-Nasen-Bedeckungen verpflichtet worden; vielmehr seien medizinische Masken zur Verfügung gestellt worden, den Beschäftigten aber auch, soweit gewünscht, eingeräumt, einen selbstgenähten Mund-Nasen-Schutz zu verwenden. Die zur Verfügung gestellten Masken seien aus atmungsaktivem Polyester-Stoff, wirkten antibakteriell und reduzierten 99% aller Viren binnen zwei Stunden. Auch gegenüber dem Kläger habe die Beklagte versucht, aufgrund der vorgetragenen gesundheitlichen Beeinträchtigungen Ausnahmen zu ermöglichen, die Möglichkeiten von Gesichtsvisier, Homeoffice und bezahlter Freistellung (bis Beschäftigungsende) seien aber abgelehnt worden. Im Übrigen bestreitet die Beklagte, dass der Kläger an psychischen Beeinträchtigungen leide.
33
Das Gericht hat am 26. Oktober 2020 vor dem Vorsitzenden zur Güte (Bl. 26 ff. d. A.) und am 17. Februar 2021 vor der Kammer (Bl. 122 f. d. A.) verhandelt. Der Kläger hat hinsichtlich des Schriftsatzes der Beklagten vom 12. Februar 2021 eine Erklärungsfrist (§ 283 ZPO) beantragt.
Entscheidungsgründe

34
Die zulässige Klage ist unbegründet.
I.
35
Die Klage ist zulässig.
36
1. Der Rechtsweg zu den Arbeitsgerichten ist gemäß § 2 Abs. 1 Nr. 3 Buchst. b ArbGG eröffnet. Das Arbeitsgericht Villingen-Schwenningen ist gemäß § 48 Abs. 1a Satz 1 ArbGG, § 46 Abs. 2 ArbGG i. V. m §§ 12, 17, 29 Abs. 1 ZPO örtlich zuständig.
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2. Der allgemeine Feststellungsantrag („Schleppnetzantrag“) wurde im Kammertermin zurückgenommen; er ist daher nicht zur Entscheidung angefallen.
II.
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Die Klage ist unbegründet. Die außerordentliche Kündigung vom 8. Oktober 2020 ist wirksam und hat das Arbeitsverhältnis fristlos beendet.
39
1. Der Kläger hat rechtzeitig i. S. v. §§ 4 Satz 1, 7, 13 Abs. 1 Satz 2 KSchG Klage erhoben, sodass die Kündigung nicht „als wirksam gilt“.
40
2. Das Integrationsamt wurde gemäß §§ 168 ff. SGB IX ordnungsgemäß beteiligt und hat der Kündigung zugestimmt, diese wurde sodann unverzüglich und damit rechtzeitig gemäß § 174 Abs. 5 SGB IX erklärt. Im Übrigen ist auch ohnedies die Frist des § 626 Abs. 2 BGB gewahrt, da Anknüpfungspunkt nicht ein etwaiges Verhalten allein am 21. September 2020, sondern die Verweigerung der angebotenen und angewiesenen Schutzmaßnahmen ist. Darin liegt allerdings ein Dauertatbestand, da der Kläger spätestens seit dem 7. Juli 2020 und auch noch bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung Schutzmaßnahmen der Beklagten kategorisch ablehnt. Die ordnungsgemäße Beteiligung von Betriebsrat und Schwerbehindertenvertretung wurden nicht gerügt.
41
3. Die außerordentliche Kündigung ist wirksam und beendet das Arbeitsverhältnis fristlos, da ein wichtiger Grund i. S. v. § 626 Abs. 1 BGB vorliegt.
42
Das Arbeitsverhältnis kann gemäß § 626 Abs. 1 BGB aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist nur dann gekündigt werden, wenn Tatsachen vorliegen, aufgrund derer dem Kündigenden unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses selbst bis zum Ablauf der Kündigungsfrist nicht zugemutet werden kann. Nach ständiger Rechtsprechung ist zunächst zu prüfen, ob der Sachverhalt ohne seine besonderen Umstände „an sich“, also typischerweise, als wichtiger Grund geeignet ist. Anschließend erfolgt die weitere Prüfung, ob dem Kündigenden die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Falls und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile jedenfalls bis zum Ablauf einer ordentlichen Kündigungsfrist zumutbar ist oder nicht (BAG vom 13. Dezember 2018 – 2 AZR 370/18, juris Rn. 15; BAG vom 23. August 2018 – 2 AZR 235/18, juris Rn. 12; BAG vom 25. Januar 2018 – 2 AZR 382/17, juris Rn. 26; BAG vom 14. Dezember 2017 – 2 AZR 86/17, juris Rn. 27; BAG vom 29. Juni 2017 – 2 AZR 302/16, juris Rn. 11; BAG vom 18. Dezember 2014 – 2 AZR 265/14, juris Rn. 14).
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Ausgehend von diesen Grundsätzen liegt nach der Auffassung der Kammer auf der ersten Stufe ein wichtiger Grund „an sich“ vor, der auch auf der zweiten Stufe der Interessenabwägung geeignet ist, die außerordentliche Kündigung zu rechtfertigen.
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a) Ein wichtiger Grund kann auch in der – schuldhaften – Verletzung von Nebenpflichten, etwa der Rücksichtnahmepflicht, die im Arbeitsvertrag und § 241 Abs. 2 BGB verortet wird, bestehen. Daraus folgt, dass der Arbeitnehmer bei der Erfüllung seiner Pflichten die Interessen des Arbeitgebers so zu wahren hat, wie dies auch unter Berücksichtigung seiner Stellung und Tätigkeit im Betrieb, seiner eigenen Interessen und den Interessen seiner Kollegen verlangt werden kann (vgl. BAG vom 23. August 2018 – 2 AZR 235/18, juris Rn. 14; BAG vom 31. Juli 2014 – 2 AZR 505/13, juris Rn. 40; BAG vom 8. Mai 2014 – 2 AZR 249/13, juris Rn. 19). Es geht nicht um eine Sanktion eines Verhaltens, sondern um die Vermeidung des Risikos künftiger Störungen (Prognoseprinzip) des Arbeitsverhältnisses (BAG vom 13. Dezember 2018 – 2 AZR 370/18, juris Rn. 28 ff.; BAG vom 23. August 2018 – 2 AZR 235/18, juris Rn. 40; 29. Juni 2017 – 2 AZR 302/16, juris Rn. 27; LAG Rheinland-Pfalz vom 10. Juli 2017 – 3 Sa 153/17, juris Rn. 88). Auch aufgrund der erheblichen Verletzung vertraglicher Nebenpflichten kann diese Prognose gerechtfertigt sein (BAG vom 28. Oktober 2010 – 2 AZR 293/09, juris Rn. 12; BAG vom 10. September 2009 – 2 AZR 257/08, juris Rn. 12; LAG Berlin-Brandenburg vom 25. Oktober 2011 – 19 Sa 1075/11, juris Rn. 23; LAG Bremen vom 12. April 2011 – 1 Sa 36/09, juris Rn. 207).
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b) Insbesondere eine beharrliche – bewusste und nachhaltige – Verletzung von Nebenpflichten, etwa von erteilten berechtigten Weisungen des Arbeitgebers, kann einen wichtigen Grund für eine außerordentliche Kündigung darstellen (BAG vom 28. Juni 2018 – 2 AZR 436/17, juris Rn. 16; BAG vom 23. August 2018 – 2 AZR 235/18, juris Rn. 14; BAG vom 19. Januar 2016 – 2 AZR 449/15, juris Rn. 29; BAG vom 12. Mai 2010 – 2 AZR 845/08, juris Rn. 20). Unzweifelhaft ist der Arbeitnehmer verpflichtet, die zum Arbeitgeber im Rahmen des Weisungsrechts zugewiesenen Tätigkeiten durchzuführen und zwar nicht nach eigenem Gutdünken, sondern nach den mitgeteilten Vorstellungen des weisungsbefugten Vorgesetzten (vgl. LAG Hamm vom 17. November 2016 – 18 Sa 555/16, juris Rn. 100). Auch bei der Verletzung von Sicherheitsbestimmungen, insbesondere, wenn dadurch auch Kollegen in Gefahr kommen oder kommen können, handelt es sich um – erhebliche – Pflichtverletzungen (vgl. LAG Schleswig-Holstein vom 14. August 2007 – 5 Sa 150/07, juris Rn. 47 f.). Dabei ist zu beachten, dass nicht nur die Gefährdung von Arbeitskollegen, sondern auch die Herbeiführung von Gefahrensituationen für sich selbst im Betrieb der Beklagten eine Pflichtverletzung darstellt. Denn die Beklagte ist als Arbeitgeberin im Rahmen ihrer Fürsorgepflicht auch gehalten, ihre Arbeitnehmer vor (betrieblich veranlassten) Selbstgefährdungen zu bewahren, kann also nicht tatenlos zusehen und die erwünschte Selbstständigkeit / Autonomie des Klägers bedingungslos respektieren (vgl. auch BAG vom 16. September 1999 – 2 AZR 123/99, juris Rn. 23; ferner BAG vom 20. März 2014 – 2 AZR 565/12, juris Rn. 25).
46
c) Der Kläger hat zunächst bereits gegen die Verpflichtung zum Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung aus der Betriebsvereinbarung verstoßen.
47
aa) Bei der Aufstellung von Schutzmaßnahmen ist, soweit es sich um einen kollektiven Tatbestand handelt, das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats aus § 87 Nr. 1, Nr. 7 BetrVG zu beachten (Bayer/Gsellhofer, ArbRAktuell 2020, S 585 f.). Dieses Mitbestimmungsrecht hat die Beklagte dadurch gewahrt, dass sie mit dem Betriebsrat eine Betriebsvereinbarung abgeschlossen hat, die im geschilderten Umfang eine Mund-Nasen-Bedeckung von den Mitarbeitern verlangt.
48
bb) Für eine Unwirksamkeit der Betriebsvereinbarung allgemein ist nichts ersichtlich. Insbesondere regelt die Betriebsvereinbarung auch nicht die außerbetriebliche, private Lebensgestaltung der Arbeitnehmer (dazu Engels u. a. in Fitting u.a., BetrVG, 30. Aufl. 2020, § 77 Rn. 56), sondern statuiert lediglich Schutzmaßnahmen während der Arbeitstätigkeit. Einzig relevanter Prüfungsmaßstab für die Wirksamkeit der Betriebsvereinbarung selbst ist der Schutz der Handlungsfreiheit, körperlichen Unversehrtheit und dem allgemeinen Personlichkeitsrecht. Diese Grundrechte sind im Wege einer Verhältnismäßigkeitsprüfung auch beim Abschluss von Betriebsvereinbarungen nach § 75 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 BetrVG i. V. m. Art. 2 Abs 1, 1 Abs. 1 GG zu beachten. Beschränkungen der Rechte sind danach möglich, müssen aber den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz wahren (vgl. statt aller BAG vom 25. April 2017 – 1 ABR 46/15).
49
cc) Als Ausgangspunkt ist festzuhalten, dass die Kammer davon ausgeht, dass sich die Beklagte auf den Standpunkt stellen darf, dass ein Virusgeschehen besteht und Schutzmaßnahmen geboten sind. Der Kläger mag diese wissenschaftlich – unter Medizinern – nahezu unbestrittene Auffassung aufgrund eigener Wahrnehmung oder Erkenntnisse in Abrede stellen. Er wird aber akzeptieren müssen, dass nicht nur seine Auffassung, sondern auch die Gegenauffassung vertreten wird. Für die arbeitsrechtlich relevante weitere Prüfung der Wirksamkeit der Weisung wird dies jedenfalls auch aus der klägerischen Perspektive als Arbeitshypothese hinzunehmen sein.
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dd) Dieser Ansatz ist in rechtlicher Hinsicht fortzuführen. Die medizinische Erkenntnis geht dahin, dass Mund-Nasen-Bedeckungen einen Beitrag zur Infektionsverbreitung leisten können (vgl. statt Vieler nur Epidemiologisches Bulletin des Robert-Koch-Instituts vom 7. Mai 2020, abrufbar unter https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/EpidBull/Archiv/2020/Ausgaben/19_20.pdf?__blob=publicationFile, abgerufen am 10. März 2021). In (verfassungs-) rechtlicher Hinsicht wird regelmäßig daher die Geeignetheit einer entsprechenden Pflicht bejaht (BVerfG vom 7. Juli 2020 – 1 BvR 1187/20; VerfGH Baden-Württemberg vom 24. Juni 2020 – 1 VB 64/20; VGH Baden-Württemberg vom 22. Oktober 2020 – 1 S 3201/20; VGH Baden-Württemberg vom 25. Juni 2020 – 1 S 1739; VGH Baden-Württemberg vom 18. Mai 2020 – 1 S 1357/20; VGH Baden-Württemberg vom 13. Mai 2020 – 1 S 1314/20; OVG Weimar vom 25. November 2020 – 3 EN 746/20). Dieser Auffassung folgt die Kammer, wobei zur Begründung zur Vermeidung von Wiederholungen auf die entsprechenden Ausführungen an genannter Stelle verwiesen wird. Im arbeitsrechtlichen Zusammenhang spiegelt sich die verfassungsrechtliche Wertung bei der Prüfung der „Billigkeit“ der Weisung (vgl. ArbG Siegburg vom 16. Dezember 2020 – 4 Ga 18/20). Auf die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne wird noch zurückzukommen sein. Insofern ist bereits jetzt darauf hinzuweisen, dass dem Kläger zu keinem Zeitpunkt aufgegeben wurde, eine selbstgenähte Maske zu tragen, sondern sog. OP-Masken bei Kostentragung durch die Beklagte zur Verfügung gestellt wurden. Bereits in der Gefährdungsbeurteilung vom 8. April 2020 sind als Schutzausrüstung OP-Masken und Atemschutzmasken vorgesehen (1.5); davon macht die Betriebsvereinbarung keine Ausnahme, sondern ermöglicht den Beschäftigten lediglich ein „opt-out“ zugunsten einer selbst angefertigten Maske. Der Kläger musste sich zu keiner Zeit der aus seiner Sicht davon ausgehenden Gesundheitsgefahr aussetzen.
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ee) Neben dieser Möglichkeit, die Art des Mund-Nasen-Schutzes unter Wahrung des grundsätzlichen Schutzstandards nach eigenen Bedürfnissen zu individualisieren trägt die Betriebsvereinbarung auch in weiterer Hinsicht dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Rechnung. Einerseits liegt der Betriebsvereinbarung eine umfassende Gefahrenbeurteilung zugrunde, die verschiedene Schutzmaßnahmen – Abstand, Hygiene, Maske, Lüften – auch situativ kombiniert. Zu berücksichtigen ist insbesondere, dass die Mund-Nasen-bedeckung nicht durchgehend getragen werden muss, sondern dann, wenn aufgrund der (vorherrschenden) wissenschaftlichen Erkenntnisse eine Infektionsgefahr in erhöhtem Maße besteht, nämlich, wenn ohne (gesicherte) Wahrung eines Mindestabstands zusammengearbeitet werden muss oder unvorhergesehene Kontakte (auf Fluren, in Treppenhäusern) jederzeit zu erwarten sind. Am Arbeitsplatz selbst kann die Maske hingegen abgenommen werden. Damit beschränkt sich die Tragepflicht und die damit einhergehenden Belastungen auf einen insgesamt nur unerheblichen Teil des Tagesablaufs. Dies hat die Beklagte auch im Kammertermin nochmals anschaulich und nachvollziehbar erläutert. Dadurch wird aber auch dem Bedürfnis nach „Tragepausen“ in erheblichem Umfang und hinreichend Rechnung getragen und auch dem vom Kläger beschriebenen Einschränkung durch das Risiko der Ausatemluft (die allerdings kaum unter die Biostoffverordnung fallen dürfte) effektiv begegnet. In dieses Konzept fügt es sich auch zwanglos ein, wenn bei der Zusammenarbeit an einem Bildschirmarbeitsplatz eine Maske getragen werden soll. Offenkundig geht es nicht um Risiken, die vom Bildschirm ausgehen. Vielmehr ist eine Aerosolübertragung (und damit ein Infektionsrisiko) umso wahrscheinlicher, wenn über einen längeren Zeitraum über geringere Entfernung (wenn auch den üblichen Sicherheitsabstand wahrende) von verschiedenen Standpunkten aus in die gleiche Richtung geschaut und eben auch geatmet wird (vgl. zu besonderen Sicherheitsvorkehrungen zum Schutz vor gegenseitigem Anatmen auch die Pandemieregeln des Deutschen Kanu-Verbands, Nr. 7 Buchst. d, abrufbar unter https://cdn.dosb.de/user_upload/www.dosb.de/Corona/UEbergangsregeln/DKV-UEbergangsregeln_-_3.0_neu.pdf, abgerufen am 10. März 2021). Insgesamt haben die Betriebsparteien aus Sicht der Kammer in der Betriebsvereinbarung eine sehr ausgewogene und stimmige und gerade auch bezogen auf die im April 2020 bestehenden Erkenntnisse vorausschauende und umfassende Regelung getroffen.
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ff) Der Kläger konnte sich der arbeitsrechtlichen Verpflichtung zum Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung nicht bereits durch Vorlage eines „ärztlichen Attests“ entledigen. Einerseits hat das Attest kaum einen Aussagewert. Es erscheint schon bedenklich, dass das Attest nicht etwa zum Ausdruck bringt, dass eine gesundheitliche Belastung beim Tragen der Maske bestünde, sondern dass eine „Befreiung“ erfolgt und dies auch noch konkret bezogen auf die pandemische Lage. Inwiefern aber eine Erkrankung zu einer Befreiung von einer Pflicht führt, ist eine Rechtsfrage und obliegt nicht der ärztlichen Beurteilung. Hier liegt es auch anders als bei einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung, die bezogen konkret auf die – vom Patienten geschilderten – Umstände am Arbeitsplatz eine ärztliche Stellungnahme beinhaltet (vgl. zum Unterschied nur auch etwa ArbG Siegburg vom 16. Dezember 2020 – 4 Ga 18/20, juris Rn. 20; Fuhlrott, NZA-RR 2021, S. 129, 132). Das vorgelegte Attest „befreit“ aber von einer (vermeintlichen) Pflicht ohne jeden Kontext: Am Arbeitsplatz? In öffentlichen Gebäuden? Im Einzelhandel? In geschlossenen Gebäuden oder im Freien? Auch ist nicht klar, um welche Art von Maske es sich dabei handelt; der Kläger selbst hat eine fehlende Definition „in Deutschland“ bemängelt. Geht es um Alltagsmasken oder medizinische Masken? Mit oder ohne Ausatemventil? Gilt das auch für Gesichtsvisiere? All dies lässt das Attest nicht erkennen, eine dahingehende Beurteilung wäre aber erforderlich, damit die Beklagte das Pflichtenprogramm des Klägers – das sie durch Weisungen bestimmt – entsprechend ausrichten kann (vgl. auch Bayer/Gsellhofer, ArbRAktuell 2020, S. 585, 586). Eine auf bestimmte Ausnahmesituationen begrenzte Unmöglichkeit aus persönlichen (medizinischen) Gründen nach § 275 Abs. 3 BGB kann nicht durch pauschale Mitteilungen ausgedehnt werden. Weitere Zweifel ergeben sich daraus, dass die „Befreiung“ auf die Coronapandemie begrenzt wird. Wäre das Tragen einer Maske in anderem Zusammenhang (Schutz vor etwaigen Schadstoffen) dem Kläger – medizinisch – zumutbar? Im Zusammenhang mit der weiteren ablehnenden Haltung des Klägers gegenüber einer Maskenpflicht (auch) aus politischen Gründen und der dazu vorgelegten „Begründung“ (Bl. 53 d. A.) verliert das Attest jede weitere Aussagekraft.
53
d) Damit ist grundsätzlich die Pflichtverletzung aufgrund eines Verstoßes gegen die Betriebsvereinbarung bereits gegeben. Dieser Verstoß allein würde eventuell noch nicht die Kündigung rechtfertigen, da die Beklagte dann ein aussagefähig(er)es Attest hätte verlangen können. Die Beklagte hat jedoch die Diskussion um die gesundheitlichen Einschränkungen nicht geführt, sondern, diese unterstellend, andere Schutzmaßnahmen entwickelt, um den Bedürfnissen des Klägers gerecht zu werden. Wenn die Beklagte insofern individualarbeitsrechtlich bereit ist, von der Betriebsvereinbarung abweichende, für den betroffenen Arbeitnehmer „günstige“ Weisungen zu erteilen, so ist sie dabei dann wieder – anders als bei der bloßen Anwendung der Betriebsvereinbarung – an die Grenzen der Billigkeit des § 106 GewO gebunden. Allerdings hat die Beklagte auch diese Grenzen bei der Entwicklung gestufter Schutzmaßnahmen für den Kläger beachtet.
54
aa) Das Weisungsrecht des Arbeitgebers aus dem Arbeitsvertrag und § 106 Satz 2 GewO erstreckt sich auf die Ordnung und das Verhalten im Betrieb und damit auch auf die aufgrund öffentlich-rechtlicher Arbeitsschutzvorschriften gebotenen Schutzmaßnahmen (Bayer/Gsellhofer, ArbRAktuell 2020, S. 585 f.)
55
bb) Einleitend ist darauf hinzuweisen, dass auch der Zivilrichter bei der Anwendung des bürgerlichen Rechts die Bedeutung der Meinungsfreiheit berücksichtigen muss (bereits BVerfG vom 15. Januar 1958 – 1 BvR 400/51, juris Rn. 41 – Lüth). Die Kammer verkennt dies nicht. Es ist aber vorliegend die Meinungsfreiheit des Klägers nicht berührt. Die Kündigung erfolgte nicht, weil der Kläger – unabhängig von betrieblichen Interessen an politischer Neutralität – ein abweichendes Werturteil etwa in Fragen der „Corona-Politik“ getroffen hätte. Auch die – vom Kläger selbst in den Betrieb getragene – politische Überzeugung und sein Mitwirken bei der sog. Querdenker-Bewegung stellten sich weder als Anlass noch als Ursache für die Beendigung des Arbeitsverhältnisses dar. Kündigungsgrund ist vielmehr die Nichtbefolgung der Weisung des Arbeitgebers.
56
cc) Soweit der Kläger rügt, die Beklagte habe mit der Anordnung der Maskenpflicht ein „Stufenverhältnis“ nicht gewahrt, kann die Kammer dieser Perspektive trotz erheblicher Bemühungen nicht folgen. Nachdem der Kläger ablehnte, die nach der Betriebsvereinbarung vorgesehene Maskenpflicht zu befolgen, wurden abgestufte Härtefallmaßnahmen ergriffen, indem der Kläger aufgefordert wurde, ein Gesichtsvisier zu tragen, hilfsweise einen Homeoffice-Platz wahrzunehmen und sogar eine Freistellung unter Vergütungsfortzahlung angeboten. Dass der Kläger sich einen anderen Stufenplan erhoffte, führt nicht zur Unwirksamkeit der abgestuften Weisungslage der Beklagten. Insofern irrt der Kläger, wenn angenommen wird, die Kündigung erfolge letztlich wegen der Verweigerung des Tragens eines Mund-Nasen-Schutzes. Die Beklagte unterbreitete verschiedene Abhilfemöglichkeiten, um den – von der Beklagten nicht geteilten – gesundheitlichen Bedenken des Klägers Rechnung zu tragen und den Betriebsfrieden zu wahren.
57
dd) Wenn der Kläger angibt, die Wirksamkeit (auch) des Gesichtsvisiers sei nicht gesichert, so ist zuzugeben, dass die ganz überwiegende wissenschaftliche Auffassung dahin geht, dass durch das Gesichtsvisier lediglich ein Schutz vor Tröpfchen gewährt und nicht eine Aerosolverbreitung gehindert wird (vgl. Empfehlungen des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte, abrufbar unter https://www.bfarm.de/SharedDocs/Risikoinformationen/Medizinprodukte/DE/schutzmasken.html#Gesichtsvisiere, abgerufen am 10. März 2021). So regelt auch die (derzeitige) SARS-CoV-2-Arbeitsschutzregel der Arbeitsschutzausschüsse beim BMAS (abrufbar unter https://www.baua.de/DE/Angebote/Rechtstexte-und-Technische-Regeln/Regelwerk/AR-CoV-2/pdf/AR-CoV-2.pdf?__blob=publicationFile&v=14, abgerufen am 10. März 2021), dass das Visier („Gesichtsschutzschild“) den Träger vor Tropfen und Spritzer schützen soll. Es hat damit nicht die gleiche Wirkung wie eine Mund-Nasen-Bedeckung (vgl. auch VG Neustadt vom 10. September 2020 – 5 L 757.20.NW, juris Rn. 17). Auch wenn nur ein (begrenzter) Eigenschutz erreicht werden könnte, hindert dies die Beklagte nicht, eine solche Weisung wirksam zu erteilen. Einerseits ist die Beklagte als Arbeitgeberin, wie bereits ausgeführt, auch zu Schutzmaßnahmen zum Eigenschutz der Mitarbeiter verantwortlich. Andererseits dient der Eigenschutz des Klägers vor einer Infektion auch einer weiteren Verbreitung der Infektion durch den Kläger, insbesondere im Betrieb der Beklagten, woran diese auch unabhängig von Fürsorgegesichtspunkten gegenüber dem Kläger ein besonderes Interesse haben kann, darf und muss: Sowohl aufgrund des Gesundheitsschutzes der Kollegen als auch, für den Kläger vielleicht leichter nachvollziehbar, zum Schutz des Fortbestands des Produktionsinteresses. Als „Ausweichmaßnahme“ ist ein Gesichtsvisier etwa auch in einer die Allgemeinverfügung die Räume des Hessischen Landtags betreffend vorgesehen (vgl. bei StGH Hessen vom 9. Dezember 2020 – P.St. 2781, wobei das Visier auch den dortigen Bedenken Rechnung tragen dürfte, dass die Regierungspolitik durch ablehnende Mimik kommentiert werden können muss um sich dieser Politik nicht zwangsweise äußerlich unterworfen zu sehen).
58
ee) Soweit der Kläger auch die Arbeit im Homeoffice mit Verweis auf eine „soziale Isolation“ ablehnte, so ist zuzugestehen, dass die Homeoffice-Tätigkeit mit Blick auf den fehlenden „persönlichen Kontakt“ teilweise kritisch gesehen wird (vgl. Ricken in Besgen/Prinz, Arbeiten 4.0, 4. Aufl. 2018, § 7 Rn. 8; Kohte, jurisPR-ArbR 33/2020 Anm. 1; Wiese, RdA 2009, S. 344, 347). Darauf reagiert auch die SARS-CoV-2-Arbeitsschutzregel, die unter 4.2.12 Abs. 2 dazu auffordert, die durch soziale Isolation entstehenden psychischen Belastungen, auch bei der Gefährdungsbeurteilung (3 Abs. 3) zu berücksichtigen. Das heißt aber nicht, dass die Weisung zur Arbeit im Homeoffice grundsätzlich ungeeignet wäre; im Gegenteil beinhaltet gerade auch die Arbeitsschutzregel den Hinweis, dass es sich um eine Möglichkeit handelt, die Zahl der anwesenden Beschäftigten zu reduzieren und die Einhaltung von Abstandsregeln zu unterstützen (4.2.4.).
59
Die Beklagte hat diese Aspekte durchaus allgemein und insbesondere auch konkret für den Kläger berücksichtigt. In der Gefährdungsbeurteilung vom 8. April 2020 dient das „mobile Arbeiten“ unter mehreren Maßnahmen dazu, die gleichzeitig anwesenden Beschäftigten im Raum zu reduzieren (1.3). Konkret auf den Kläger bezogen ist einerseits festzuhalten, dass er die Isolation durch Tragen des – aus seiner Sicht zwar unwirksamen, aber doch keinesfalls belastenden – Gesichtsvisiers selbst hätte vermeiden können. Andererseits erweist es sich nicht als unbillig, wenn die Beklagte jedenfalls für einen gewissen Zeitraum und angesichts der verweigerten Mitwirkung an Schutzkonzepten durch den Kläger die Gefahren durch die „Isolation“ geringer bewertete als die Infektionsgefahr.
60
Schließlich hat der Kläger auch im Kammertermin selbst eindrucksvoll bewiesen, dass er im Umgang mit der Videokonferenztechnik beschlagen ist: So konnte er auf eine Nachfrage des Gerichts zunächst um einen Moment Geduld bitten, anschließend sein Mikrofon stumm schalten um dann zugleich – auf digitalem Weg oder telefonisch? – mit dem ebenfalls in der Videokonferenz anwesenden Prozessbevollmächtigten Rücksprache halten, der dann mitteilen ließ, dass die Frage des Gerichts nicht beantwortet werden soll. Die Kammer ist angesichts dieser Erfahrung davon überzeugt, dass der Kläger seine technischen Fähigkeiten auch zur (Video-) Kommunikation mit den Arbeitskollegen – etwa innerhalb der Arbeitspausen – in hinreichendem Maße zum Einsatz hätte bringen können um die drohende Isolation und Vereinsamung zu vermeiden oder zumindest abzumildern, auch wenn der Kläger aufgrund einer Vorerkrankung insofern besonders exponiert sein sollte (zur Vermeidung sozialer Isolation durch Nutzung des Internets auch etwa Hartmann, Pressemitteilung des Deutschen Zentrums für Altersfragen vom 8. März 2020, abrufbar unter https://idw-online.de/de/news741399 und auch bei juris, GiP 3/2020, S. 35, 41). Die Beklagte hatte ihrerseits bereits in der Gefährdungsbeurteilung dafür Sorge getragen und unter 11.2. für Besprechungen oder Stehungen auf die Nutzung von Skype oder Teams hingewiesen.
61
ff) Der Kläger hat seinerseits nur zwei Konzeptvarianten unterbreitet: Entweder möge die Beklagte sich seiner Auffassung anschließen, dass eine pandemiebedingte Gefahrensituation nicht bestehe und zudem das Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes nicht wirksam sei oder aber sie möge allen anderen Mitarbeitern auferlegen im Umfeld des Klägers eine FFP2-Schutzmaske zu tragen.
62
(1) Der erste Ansatz verdient weder aus verfassungsrechtlicher noch aus arbeitsrechtlicher Perspektive Gefolgschaft. Wie gezeigt, entspricht der Ansatz der Beklagten weit verbreiteten wissenschaftlichen Forschungsergebnissen. Wenn der Kläger dies nicht als wissenschaftliche Wahrheit gelten lassen will, so wird er jedenfalls die dahingehende Meinung respektieren müssen. Dass es leichter fällt, die eigene Meinungsfreiheit zu reklamieren als jene des Anderen zu akzeptieren, liegt auf der Hand (Mark Twain wird das Zitat zugeschrieben: „We appreciate people who speak their mind freshly and openly – provided they think the same as we do.“) Die Meinungsfreiheit gilt – auch verfassungsrechtlich und arbeitsrechtlich – in jede Richtung, auch andere Auffassungen müssen ertragen werden. Arbeitsrechtlich folgt daraus, dass die Beklagte ihre Meinung, soweit es sich um eine wohlbegründete Auffassung handelt, auch in wirksame (billige) Weisungen umsetzen darf und der Kläger diese befolgen muss, auch wenn er die Grundannahme nicht teilt.
63
(2) Der zweite Ansatz ist jedenfalls arbeitsrechtlich nicht gangbar: Der persönlichen Überzeugung des Klägers, dass keine Schutzmaßnahmen erforderlich seien, ist nicht so weit Rechnung zu tragen, dass die Maßnahmenanordnung gegenüber den Kollegen entsprechend zu intensivieren sind. Vielmehr erweist sich auch gerade in diesem Vergleich die Zumutbarkeit der Weisung gegenüber dem Kläger. Anderenfalls würde auch eine erhebliche Stigmatisierung des Klägers bewirkt, die weder von diesem gewünscht noch dem Betriebsfrieden dienlich sein kann.
64
(3) Dass der Kläger – auch weiterhin – sogar eine bezahlte Freistellung ablehnt und seinen Beschäftigungsanspruch durchsetzen will, ist ein rechtlich legitimes, wenn auch erfolgloses Anliegen. Mit diesem ist allerdings nur schwer in Einklang zu bringen, dass der (Weiter-) Beschäftigungsanspruch selbst nicht streitgegenständlich gemacht worden ist.
65
e) Die außerordentliche Kündigung erweist sich auch bei der durchzuführenden Interessenabwägung als wirksam, insbesondere stellt sie die „ultima ratio“ dar.
66
aa) Bei der Prüfung, ob dem Arbeitgeber eine Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers trotz Vorliegens einer erheblichen Pflichtverletzung zumutbar ist, ist in einer Gesamtwürdigung das Interesse des Arbeitgebers an der sofortigen Beendigung des Arbeitsverhältnisses gegen das Interesse des Arbeitnehmers an dessen Fortbestand abzuwägen (BAG vom 13. Dezember 2018 – 2 AZR 370/18, juris Rn. 28 ff.; BAG vom 23. August 2018 – 2 AZR 235/18, juris Rn. 40; 29. Juni 2017 – 2 AZR 302/16, juris Rn. 27; LAG Rheinland-Pfalz vom 10. Juli 2017 – 3 Sa 153/17, juris Rn. 88). Es sind sowohl die Umstände und die Intensität des Vorgangs wie der Verschuldensgrad, die Wiederholungsgefahr, die Weisungslage des Arbeitgebers als auch die Folgen wie der Vertrauensverlust oder wirtschaftliche Konsequenzen und auch die weiteren Umstände wie die Dauer des Arbeitsverhältnisses, deren gestörter oder störungsfreier Verlauf und die persönlichen Umstände des Arbeitnehmers (Alter, Zahlungsverpflichtungen, Chancen auf dem Arbeitsmarkt) zu berücksichtigen (zu den genannten Kriterien vgl. nur LAG Köln vom 7. Mai 2014 – 11 Sa 905/13, juris Rn. 21; LAG Niedersachsen vom 17. April 2013 – 2 Sa 179/12, juris Rn. 97 ff.; LAG Düsseldorf vom 23. Februar 2011 – 12 Sa 1454/10, juris Rn. 43 ff.; Stoffels, NJW 2011, 118, 123).
67
bb) Eine außerordentliche Kündigung kommt zwar nur in Betracht, wenn sämtliche milderen Reaktionsmöglichkeiten unzumutbar sind (vgl. BAG vom 14. Dezember 2017 – 2 AZR 86/17, juris Rn. 54; BAG vom 29. Juni 2017 – 2 AZR 302/16, juris Rn. 26; BAG vom 22. Oktober 2015 – 2 AZR 569/14, juris Rn. 46; BAG vom 19. April 2012 – 2 AZR 186/11, juris Rn. 21; BAG vom 27. Januar 2011 – 2 AZR 826/09, juris Rn. 39; LAG Baden-Württemberg vom 15. November 2012 – 18 Sa 68/12, juris Rn. 63). So ist grundsätzlich davon auszugehen, dass der Arbeitnehmer sein künftiges Verhalten schon durch die Androhung von Folgen für den Bestand des Arbeitsverhältnisses (Abmahnung) positiv verändert. Anders liegt es nur ausnahmsweise dann, wenn erkennbar ist, dass eine Verhaltensänderung in Zukunft auch nach Abmahnung nicht zu erwarten steht oder es sich um eine so schwere Pflichtverletzung handelt, dass selbst deren erstmalige Hinnahme dem Arbeitgeber nach objektiven Maßstäben unzumutbar und auch für den Arbeitnehmer erkennbar ausgeschlossen ist (BAG vom 13. Dezember 2018 – 2 AZR 370/18, juris Rn. 30; BAG vom 29. Juni 2017 – 2 AZR 302/16, juris Rn. 28; BAG vom 22. Oktober 2015 – 2 AZR 569/14, juris Rn. 46; BAG vom 20. November 2014 – 2 AZR 651/13, juris Rn. 22; LAG Baden-Württemberg vom 29. Mai 2018 – 19 Sa 61/17, juris Rn. 69 f.; LAG Baden-Württemberg, Urteil vom 22. Juni 2016 – 4 Sa 5/16, juris Rn. 47; LAG Baden-Württemberg vom 21. Juni 2016 – 15 Sa 82/15, juris Rn. 106). Dazu rechnet es auch, wenn der Arbeitnehmer erkennbar nicht gewillt ist, sich vertragsgerechnet zu verhalten, etwa indem er Vertragsverletzungen hartnäckig und uneinsichtig fortsetzt (BAG vom 18. Mai 1994 – 2 AZR 626/93, juris Rn. 21; LAG Baden-Württemberg vom 20. Dezember 2018 – 17 Sa 11/18, juris Rn. 159, ferner LAG Rheinland-Pfalz vom 18. Februar 2019 – 3 Sa 308/18, juris Rn. 58; LAG Rheinland-Pfalz vom 11. Dezember 2017 – 3 TaBV 29/17, juris Rn. 84).
68
cc) Der Kläger wurde zahlreich aufgefordert, einen Mund-Nasen-Schutz zu tragen oder eine der eröffneten Varianten zum Infektionsschutz wahrzunehmen. Konkret wegen der Verletzung dieser Verpflichtung wurde er am 18. August 2020 (Bl. 56 f. d. A.) abgemahnt. Am gleichen Tag wurde er aufgefordert, anzuerkennen, dieser Verpflichtung nachkommen zu müssen, erneut mit Hinweis auf eine etwaige Kündigung (Bl. 59 d. A.). Am 24. August 2020 erfolgte nochmals ein expliziter Hinweis auch mit der konkreten Abhilfemöglichkeit des Visiers, erneut unter Androhung kündigungsrechtlicher Konsequenzen (Bl. 60 d. A.). Klarer kann einem Arbeitnehmer der Vertragsverstoß und die Warnung nicht aufgezeigt werden. Ebenso deutlich hat der Kläger zu erkennen gegeben, jeder der aufgezeigten Möglichkeiten zur Umsetzung von Schutzmaßnahmen auch künftig und dauerhaft nicht nachkommen zu wollen. Darüber hinaus zeigt bereits die Häufigkeit und Dauerhaftigkeit der Verhaltensweisen über mehrere Wochen hinweg eine „Resistenz“ des Klägers. Er hat auch nachdem er auf sein Fehlverhalten bereits im Juli angesprochen wurde, sein Verhalten nicht verändert, sondern dieses vielmehr in unmittelbarer Folge erneut an den Tag gelegt. Durch die schriftliche Erklärung hat er die Ernsthaftigkeit und Dauerhaftigkeit seiner ablehnenden Haltung nochmals verstärkt. Damit ist die Prognose dahingehend eindeutig, dass der Kläger auch in Zukunft die – verbindlichen und wirksamen – Betriebsvereinbarungen und Weisungen der Beklagten zum Infektionsschutz nicht befolgen wird. Hinzu kommt, dass eine (weitere) Abmahnung auch aufgrund des Gefährdungspotenzials entbehrlich ist (vgl. LAG Rheinland-Pfalz vom 30. August 2004 – 7 Sa 240/04, juris Rn. 48).
69
dd) Die Beendigung des Arbeitsverhältnisses ist angesichts der beharrlichen Vertragspflichtverletzungen und der Folgereaktionen des Klägers billigenswert und angemessen. Nichts anderes ergibt sich auch bei Berücksichtigung der individuellen Schutzbedürftigkeit des Klägers. Dabei verkennt die Kammer nicht, dass der Kläger seit über 37 Jahren bei der Beklagten beschäftigt, bereits 63 Jahre alt ist und das Arbeitsverhältnis durch Befristung ohnehin zum 31. August 2021 enden wird. Auch zum Schutz der Kollegen und des Betriebsfriedens überwiegt gleichwohl das Beendigungsinteresse dem Interesse am Fortbestand des Arbeitsverhältnisses.
70
4. Dem Kläger war auch nicht die beantragte Erklärungsfrist gemäß § 283 ZPO einzuräumen. Auch wenn die Vorschrift im Arbeitsgerichtsprozess grundsätzlich anwendbar sein dürfte (kritisch dazu BAG, Urteil vom 03. Dezember 1985 – 4 AZR 325/84; vgl. auch Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg, Urteil vom 31.03.2003 – 15 Sa 92/02), liegen die Voraussetzungen nicht vor.
71
a) Nach § 283 ZPO kann das Gericht eine Frist bestimmen, in der eine Erklärung in einem Schriftsatz nachgebracht werden kann, wenn sich eine Partei in der mündlichen Verhandlung auf ein Vorbringen des Gegners nicht erklären kann, weil es ihr nicht rechtzeitig vor dem Termin mitgeteilt worden ist. Das Gericht prüft nach pflichtgemäßem Ermessen, ob eine Erklärung vor oder spätestens im Termin möglich ist oder ob – wenn das nicht der Fall sein sollte – Ursache hierfür nicht die fehlende Rechtzeitigkeit, sondern das Unvermögen der Partei ist, die Schriftsatznachlass begehrt (Prütting in MüKo-ZPO, 5. Auflage 2016, § 283 Rn. 11; vgl. auch ArbG Kiel vom 23. November 2017 – 1 Ca 1090 c/17).
72
b) Der Schriftsatz der Beklagten vom 12. Februar 2021 wurde zwar nicht gemäß § 132 Abs. 2 ZPO hinreichend vor dem Termin zugeleitet. Das begründet aber den gestellten Antrag auf Nachlass einer Erklärungsfrist nicht. Der Rechtsstreit wird durch die Schriftsätze lediglich vorbereitet (§ 129 Abs. 2 ZPO), Grundlage für die Entscheidung und die Erkenntnis des Gerichts ist die mündliche Verhandlung, § 128 Abs. 1 ZPO. Sowohl Parteivertreter als auch die Prozessbevollmächtigten waren im Kammertermin – jeweils nach § 128a ZPO zugeschaltet – anwesend und konnten an der Sachverhaltsaufklärung mitwirken. Der Kläger hat auch nicht erklärt, hinsichtlich welcher konkreter Aspekte weiterer Vortrag erforderlich wäre und weshalb dies im Kammertermin selbst nicht möglich war. Allenfalls relevant war für die Kammer, dass die gerügte Gefährdungsbeurteilung tatsächlich stattgefunden hat; dies wurde aber mit den Parteien im Termin hinreichend – unstreitig – erörtert, wenn auch insoweit nicht näher protokolliert. Es sind keine Gründe ersichtlich, aufgrund derer es dem Kläger nicht möglich gewesen sein soll, spätestens im Termin umfassend zu allen relevanten Aspekten vorzutragen. Da § 283 ZPO für nicht entscheidungserheblichen Vortrag keine Anwendung finden kann (Zöller/Greger, 32. Auflage 2017, § 283 Rn. 2a m.w.N.), kam auch im Übrigen die Einräumung einer Erklärungsfrist nicht in Betracht.
III.
73
1. Die den Rechtsmittelstreitwert betreffende Streitwertfestsetzung beruht auf § 61 Abs. 1ArbGG. Der Gegenstandswert berechnet sich gemäß § 46 Abs. 2 ArbGG i. V. m. §§ 3, 9 Satz 1 ZPO – aus praktischen Gesichtspunkten unter Berücksichtigung von § 42 Abs. 2 GKG (vgl. dazu Selzer, NZA-Beil. 2011, 164, 174) – nach dem Betrag des für die Dauer eines Vierteljahres zu leistenden Arbeitsentgelts.
74
2. Die Kosten des Rechtsstreits waren nach § 46 Abs. 1 Satz 1 ArbGG i. V. m. §§ 92 Abs. 1 ZPO dem unterliegenden Kläger aufzuerlegen. Eine kostenrechtliche Berücksichtigung des (zurückgenommenen) wirtschaftlich identischen allgemeinen Feststellungsantrags kommt nicht in Betracht (zur Kostenneutralität Feldmann/Schuhmann, JuS 2017, 214, 215)
75
3. Nachdem Gründe i. S. v. § 64 Abs. 3 ArbGG nicht vorliegen, war die Berufung nicht gesondert zuzulassen (§ 64 Abs. 3a Satz 1 ArbGG).

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