BGH VIII ZR 302/13 Wahrscheinlichkeit der Sachverhaltsschilderung und Umfang der Darlegungslast

November 1, 2019

BGH VIII ZR 302/13
Wahrscheinlichkeit der Sachverhaltsschilderung und Umfang der Darlegungslast
Vorinstanz
OLG Celle – 20 U 2/13
LG Lüneburg
Leitsatz
Von einer Beweiserhebung darf grundsätzlich nicht bereits deswegen abgesehen werden, weil die beweisbelastete Partei keine schlüssige Erklärung dafür liefert, weshalb eine von ihr behauptete Absprache zu einer schriftlich getroffenen Abrede keinen Eingang in den schriftlichen Vertrag gefunden hat. Denn der Grad der Wahrscheinlichkeit der Sachverhaltsschilderung ist für den Umfang der Darlegungslast regelmäßig ohne Bedeutung. Das Fehlen einer schlüssigen Erklärung spielt daher in aller Regel erst im Rahmen der tatrichterlichen Würdigung des Prozessstoffs eine Rolle (Bestätigung der BGH v. 25.10.2011 – VIII ZR 125/11 , MDR 2011, 1464 = NJW 2012, 382; v. 21.10.2014 – VIII ZR 34/14 , juris).
Aus den Gründen:
9 Die Nichtzulassungsbeschwerde rügt zu Recht, dass das Berufungsgericht den Anspruch des Klägers auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG ) dadurch verletzt hat, dass es bei Auslegung von § 4 des Kaufvertrages entscheidungserheblichen Vortrag zu dem dieser Regelung zugrunde liegenden Willen der Vertragsparteien und dafür angetretenen Zeugenbeweis in offenkundig rechtsfehlerhafter Weise nicht berücksichtigt hat.
10 Das Berufungsgericht hat sich mit dem Vorbringen des Klägers, die Vertragsparteien seien sich bei der nachträglichen Einfügung der streitigen Regelung in § 4 des dann zum Abschluss gelangten Kaufvertragsentwurfs über die Verpflichtung der Beklagten einig gewesen, das Pferd für die beiden Deckperioden zum Kläger beziehungsweise zum Gestüt des Zeugen F. bringen, inhaltlich nicht näher beschäftigt, sondern diesen Kernvortrag gehörswidrig als unbeachtlich außer Betracht gelassen, weil er weder im Vertragswortlaut noch in der im dispositiven Recht zum Ausdruck kommenden Interessenlage eine Stütze finde. Diese Vorgehensweise verstößt gegen Art. 103 Abs. 1 GG ).

11 Es gehört zwar zu den anerkannten Grundsätzen für die – an sich dem Tatrichter vorbehaltene – Auslegung einer Individualvereinbarung, dass der Wortlaut der Vereinbarung den Ausgangspunkt einer nach §§ 133 , 157 BGB vorzunehmenden Auslegung bildet. Gleichzeitig gilt hierbei aber auch, dass ein übereinstimmender Parteiwille dem Wortlaut und jeder anderen Interpretation vorgeht, selbst wenn er im Inhalt der Erklärung keinen oder nur einen unvollkommenen Ausdruck gefunden hat (BGH, Beschl. v. 5.4.2005 – VIII ZR 160/04 , MDR 2005, 1068 = NJW 2005, 1950 unter II 2 a; v. 20.9.2006 – VIII ZR 141/05 – Rz. 7, juris; v. 6.3.2007 – X ZR 58/06 – Rz. 12, juris; v. 30.4.2014 – XII ZR 124/12 – Rz. 17, juris; jeweils m.w.N.). Schon wegen dieses Vorrangs eines übereinstimmenden Parteiwillens hätte das Berufungsgericht das dahingehende zentrale Vorbringen des Klägers und den hierzu angetretenen Zeugenbeweis nicht als unbeachtlich übergehen dürfen, zumal es – wie seine ergänzenden Überlegungen zu der sich vermeintlich aus dem dispositiven Recht ergebenden Interessenlage zeigen – auch schon den Vertragswortlaut, der das Wie und Wo des Zurverfügungstehens offenlässt, als für sich allein noch nicht in der von ihm letztlich angenommenen Richtung zwingend erachtet hat.
12 Das Vorgehen des Berufungsgerichts bei der Auslegung von § 4 des Kaufvertrages wird auch nicht durch die von ihm insoweit für anwendbar erachtete Vermutung der Vollständigkeit und Richtigkeit der Vertragsurkunde gedeckt. Denn das Berufungsgericht hat auch in dieser Hinsicht den Inhalt und die Reichweite einer solchen Vermutung offenkundig verkannt und deshalb den vom Kläger angetretenen Zeugenbeweis gehörswidrig als unbeachtlich angesehen.
13 Zwar besteht für die über ein Rechtsgeschäft aufgenommenen Urkunden die Vermutung der Vollständig-

– 48 -MDR 2015, 48-49- 49 –

keit und Richtigkeit. Eine Partei, die sich auf außerhalb der Urkunde liegende Umstände – sei es zum Nachweis eines vom Urkundstext abweichenden übereinstimmenden Willens der Parteien, sei es zum Zwecke der Deutung des Inhalts des Beurkundeten aus Sicht des Erklärungsempfängers – beruft, trifft die Beweislast für deren Vorliegen (BGH, Urt. v. 5.7.2002 – V ZR 143/01 , MDR 2002, 1361 = NJW 2002, 3164 unter II 1 a m.w.N.). Soweit das Berufungsgericht im vorliegenden Fall unter Heranziehung anderer obergerichtlicher Rechtsprechung (KG v. 27.5.2002 – 8 U 2074/00 , MDR 2003, 79) meint, der Kläger hätte zur Erheblichkeit seines Sachvortrags nicht nur das mit der Regelung in § 4 des Kaufvertrages tatsächlich Gewollte darlegen, sondern zusätzlich noch nachvollziehbar und schlüssig erläutern müssen, aus welchen Umständen sich die Unvollständigkeit der Urkunde erklären lasse, warum die Parteien also von einer schriftlichen Fixierung der mündlichen Nebenabrede abgesehen hätten, finden – wie der Senat bereits in der Vergangenheit klargestellt hat (BGH v. 25.10.2011 – VIII ZR 125/11 – Rz. 23, MDR 2011, 1464 = NJW 2012, 382; ebenso auch BGH, Beschl. v. 21.10.2014 – VIII ZR 34/14 , unter II 2 b bb [2] m.w.N., juris) – derart weitgehende Darlegungsnotwendigkeiten im Prozessrecht keine Stütze mehr und überspannen die an einen rechtlich beachtlichen Sachvortrag zu stellenden Substantiierungsanforderungen in einer nicht mit Art. 103 Abs. 1 GG in Einklang stehenden Weise.

14 Ein Sachvortrag ist zur Begründung eines Anspruchs bereits dann schlüssig und erheblich, wenn die Partei Tatsachen vorträgt, die in Verbindung mit einem Rechtssatz geeignet und erforderlich sind, das geltend gemachte Recht als in der Person der Partei entstanden erscheinen zu lassen, wobei unerheblich ist, wie wahrscheinlich diese Darstellung ist. Die Angabe näherer Einzelheiten ist nicht erforderlich, soweit diese für die Rechtsfolgen nicht von Bedeutung sind. Das Gericht muss nur in die Lage versetzt werden, aufgrund des tatsächlichen Vorbringens der Partei zu entscheiden, ob die gesetzlichen Voraussetzungen für das Bestehen des geltend gemachten Rechts vorliegen. Sind diese Anforderungen erfüllt, ist es Sache des Tatrichters, in die Beweisaufnahme einzutreten und dabei gegebenenfalls die benannten Zeugen oder die zu vernehmende Partei nach weiteren Einzelheiten zu befragen. Dagegen ist die Frage, ob ein Sachvortrag wahrscheinlich oder angesichts der Urkundenlage eher unwahrscheinlich ist, für die Erheblichkeit und damit die Beweisbedürftigkeit des Vorbringens ohne Belang (BGH v. 11.5.2010 – VIII ZR 212/07 – Rz. 11, NJW-RR 2010, 1217; v. 12.3.2013 – VIII ZR 179/12 – Rz. 10 f., juris; jeweils m.w.N.). Dementsprechend darf bei einem Parteivortrag zu Umständen, die in einer Vertragsurkunde keinen oder nur undeutlichen Niederschlag gefunden haben, nicht zusätzlich zur Darlegung einer Willensübereinstimmung bei Vertragsschluss noch eine Erklärung dafür gefordert werden, weshalb die Parteien davon abgesehen haben, eine behauptete mündliche (Neben-)Abrede in die Vertragsurkunde aufzunehmen (BGH v. 25.10.2011, a.a.O.; v. 21.10.2014, a.a.O.). [Rz. 15-18] …

Haben Sie Fragen? 

Rufen Sie uns an oder schreiben Sie uns eine E-Mail, damit wir die grundsätzlichen Fragen klären können.

© Rechtsanwalt Krau. All rights reserved.
Powered by wearehype.eu.
© Rechtsanwalt Krau. All rights reserved.
Powered by wearehype.eu.