EGMR : Achtung des Privat- und Familienlebens, Diskriminierungsverbot

Juni 9, 2020

Rechtssache A. gegen DEUTSCHLAND (Individualbeschwerde Nr. 45071/09)

Urteil vom 22. März 2012 in der Rechtssache A. gegen Deutschland (Nr. 45071/09): keine Verletzung von Artikel 8 i. V. m. Art. 14 EMRK (Achtung des Privat- und Familienlebens, Diskriminierungsverbot) durch die Abweisung der Klage des Beschwerdeführers auf Anfechtung der Vaterschaft

URTEIL

STRASSBURG

22. März 2012

Dieses Urteil wird nach Maßgabe von Artikel 44 Abs. 2 der Konvention endgültig. Es wird gegebenenfalls noch redaktionell überarbeitet.
In der Rechtssache A. ./. Deutschland
hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Fünfte Sektion) als Kammer mit den Richterinnen und Richtern
Dean Spielmann, Präsident,
Elisabet Fura,
Boštjan M. Zupančič,
Mark Villiger,
Ganna Yudkivska,
Angelika Nußberger und
André Potocki,
sowie Claudia Westerdiek, Sektionskanzlerin,
nach nicht öffentlicher Beratung am 21. Februar 2012
das folgende Urteil erlassen, das am selben Tag angenommen wurde.

VERFAHREN

1. Der Rechtssache lag eine Individualbeschwerde (Nr. 45071/09) gegen die Bundesrepublik Deutschland zugrunde, die ein deutscher Staatsangehöriger, Herr A. („der Beschwerdeführer“), am 18. August 2009 nach Artikel 34 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten („die Konvention“) beim Gerichtshof eingereicht hatte.
2. Der Beschwerdeführer wurde von Herrn R., Rechtsanwalt in B., vertreten. Die deutsche Regierung („die Regierung“) wurde durch ihre Verfahrensbevollmächtigte, Frau A. Wittling-Vogel vom Bundesministerium der Justiz, vertreten.
3. Der Beschwerdeführer rügte insbesondere, dass er dadurch, dass die innerstaatlichen Gerichte ihm nicht erlaubt hätten, die rechtliche Vaterschaft eines anderen Mannes anzufechten, diskriminiert und in seinem Recht auf Achtung seines Familienlebens verletzt worden sei. Darüber hinaus rügte er, dass die Dauer des innerstaatlichen Verfahrens unangemessen gewesen sei und ihm diesbezüglich kein wirksamer Rechtsbehelf zur Verfügung gestanden habe.
4. Am 4. Mai 2010 entschied der Gerichtshof, die Regierung von der Beschwerde in Kenntnis zu setzen. Es wurde ferner beschlossen, über die Zulässigkeit und die Begründetheit der Beschwerde gleichzeitig zu entscheiden (Artikel 29 Abs. 1) und die Beschwerde vorrangig zu behandeln (Artikel 41). Am 23. August 2010 wurden Frau P. und Herr M., die rechtlichen Eltern des Mädchens R., nach Artikel 36 Abs. 2 der Konvention und Artikel 44 der Verfahrensordnung vom Präsidenten der Fünften Sektion ermächtigt, als Drittbeteiligte am schriftlichen Verfahren vor dem Gerichtshof teilzunehmen.

SACHVERHALT

I. DIE UMSTÄNDE DES FALLS

5. Der 1970 geborene Beschwerdeführer ist in B. wohnhaft.
6. Von Ostern bis September 2003 führte der Beschwerdeführer mit Frau P. eine Beziehung. Im Februar 2004 ging Frau P. eine Beziehung zu Herrn M. ein. In September 2004 zogen Frau P. und Herr M. zusammen. Im Oktober und November 2004 hatte der Beschwerdeführer intime Kontakte mit Frau P. Im Dezember 2004 teilte Frau P. dem Beschwerdeführer mit, sie sei schwanger.
7. Am 28. Juni 2005 erkannte Herr M., mit Zustimmung von Frau P., die Vaterschaft für das künftige Kind von Frau P. an. Am 10. August 2005 gebar Frau P. eine Tochter, R. Frau P. und Herr M. üben die elterliche Sorge gemeinsam aus und kümmern sich gemeinsam um das Kind.
8. Am 27. Oktober 2005 erhob der Beschwerdeführer Klage zur Anfechtung der Vaterschaft von Herrn M.; er legte eine eidesstattliche Erklärung vor, nach der er während der Empfängniszeit Geschlechtsverkehr mit der Kindesmutter gehabt habe. Herr M. erwiderte, er lebe mit dem Kind in einer sozial-familiären Beziehung und übernehme für das Kind die volle elterliche Verantwortung, auch wenn er nicht der biologische Vater sein sollte.
9. Am 24. November 2005 beraumte das Amtsgericht Tempelhof-Kreuzberg eine mündliche Verhandlung für den 17. Januar 2006 an. Am 13. Januar 2006 hob das Amtsgericht den Termin auf, da zur Vertretung der Interessen des Kindes ein Ergänzungspfleger bestellt werden musste. Am 6. Februar 2006 bestellte das Amtsgericht einen Ergänzungspfleger. Am 21. März 2006 brachte der Ergänzungspfleger vor, dass zwischen Herrn M. und R. eine liebevolle Vater-Kind-Beziehung bestehe und die Klage des Beschwerdeführers dem Kindeswohl zuwiderliefe.
10. Am 28. März 2006 bestimmte das Amtsgericht nach einer Erinnerung des Anwalts des Beschwerdeführers einen Termin auf den 30. Mai 2006. Am 27. April 2006 verlegte das Landgericht auf Antrag von Herrn M. den Termin auf den 6. Juni 2006.
11. Nachdem es den Beschwerdeführer, Herrn M. und Frau P. angehört hatte, beschloss das Amtsgericht, zur Frage, ob Herr M. der leibliche Vater des Kindes sei, ein Sachverständigengutachten einzuholen. Am 7. September 2006 bat das Amtsgericht den Sachverständigen um Mitteilung des Sachstands.
12. Am 4. Oktober 2006 teilte der Sachverständige dem Amtsgericht mit, dass Herr M. und Frau P. Termine zur Entnahme einer Blutprobe aus gesundheitlichen Gründen mehrfach verlegt hätten. Am 4. Oktober 2006 wurde bei Herrn M. die Blutentnahme durchgeführt. Am 2. November 2006 teilte der Sachverständige dem Gericht mit, dass er die Blutproben von Frau P. und dem Kind erhalten habe. Am 27. November 2006 legte der Sachverständige sein Gutachten vor, demzufolge Herr M. nicht der leibliche Vater des Kindes ist.
13. Am 1. Dezember 2006 bestimmte das Amtsgericht nach einer Erinnerung des Anwalts des Beschwerdeführers einen Termin auf den 16. Januar 2007. Am 6. Februar 2007 beschloss das Amtsgericht, hinsichtlich der angeblichen Vaterschaft des Beschwerdeführers ein Gutachten desselben ärztlichen Sachverständigen einzuholen.
14. Am 15. März 2007 legte der Sachverständige sein Gutachten vor, demzufolge mit einer Wahrscheinlichkeit von 99,99 % erwiesen ist, dass der Beschwerdeführer der biologische Vater des Kindes ist.
15. Am 12. März 2007 beraumte das Amtsgericht eine mündliche Verhandlung für den 10. April 2007 an.
16. Am 27. April 2007 erließ das Amtsgericht ein Urteil, in dem festgestellt wurde, dass nicht Herr M., sondern der Beschwerdeführer Vater des Kindes sei. Das Amtsgericht stellte fest, dass die Klage des Beschwerdeführers zulässig sei, da er an Eides statt versichert habe, während der Empfängniszeit Geschlechtsverkehr mit der Kindesmutter gehabt zu haben. Die Klage sei begründet, da durch ein Sachverständigengutachten erwiesen worden sei, dass der Beschwerdeführer der leibliche Vater des Kindes sei. Das Amtsgericht war der Auffassung, dass der Beschwerdeführer nicht nach § 1600 Abs. 2 BGB (siehe „Das einschlägige innerstaatliche Recht“) an der Anfechtung der Vaterschaft gehindert gewesen sei, da zum Zeitpunkt des letzten Verhandlungstermins zwischen Herrn M. und dem Kind keine sozial-familiäre Beziehung bestanden habe. Es könne nicht angenommen werden, dass Herr M. tatsächliche Verantwortung für das Kind trage. Hierzu wäre es erforderlich, dass der rechtliche Vater und das Kind über einen längeren Zeitraum zusammengelebt hätten; nach Auffassung des Amtsgerichts mindestens zwei Jahre. Unter Berücksichtigung des grundgesetzlichen Rechts des biologischen Vaters aus Artikel 6 Abs. 2 GG sei es erforderlich, dass die tatsächliche Beziehung zwischen dem rechtlichen Vater und dem Kind von gewisser Nachhaltigkeit sei. Eine solche Nachhaltigkeit könne man erst nach etwa zwei Jahren annehmen, die im vorliegenden Fall noch nicht verstrichen seien. Unter diesen Umständen komme es nicht darauf an, dass sich der Beschwerdeführer gemeinsam mit der Mutter um das Kind kümmere.
17. Am 24. August 2007 hob das Kammergericht Berlin das Urteil des Amtsgerichts auf und wies die Klage des Beschwerdeführers ab. Das Gericht stellte fest, es sei zwischen den Parteien unbestritten, dass Herr M. seit der Geburt des Kindes mit dem Kind und der Kindesmutter zusammengelebt habe und dass er weiterhin mit ihnen zusammenlebe, auch nachdem der Sachverständige festgestellt habe, dass er nicht der leibliche Vater des Kindes sei.
18. Nach Auffassung des Kammergerichts hatte das Amtsgericht verkannt, dass der Beschwerdeführer kein Recht hatte, die Vaterschaft anzufechten, da zwischen Herrn M. und dem Kind eine sozial-familiäre Beziehung bestand. Das Kammergericht war der Auffassung, dass eine solche Beziehung nicht erst zur Zeit der Entscheidung über die Berufung bestanden habe, sondern schon lange vorher, da Herr M. seit Geburt des Kindes mit dem Kind und seiner Mutter in einem gemeinsamen Haushalt zusammengelebt habe. Ein kleines Kind könne mit niemandem längere Zeit als sein ganzes bisheriges Leben zusammenleben. Der Gesetzgeber habe nicht genau definiert, welche Zeitspanne einer „längeren Zeit“ gleichkommen würde, sondern habe es den Gerichten überlassen, dies für den konkreten Fall zu beurteilen.
19. Die Zeitspanne, die zum Aufbau einer sozial-familiären Beziehung erforderlich sei, sei nicht absolut, sondern im Hinblick auf die Umstände des Einzelfalls, insbesondere das Alter des Kindes, zu bestimmen. Es bestehe kein Zweifel, dass ein Kind im Verlauf der ersten Monate seines Lebens eine sozial-familiäre Beziehung zu den Personen entwickele, die es alltäglich betreuten. Gerade während der ersten beiden Lebensjahre bedürfe das Kind eines sicheren familiären Beziehungsgeflechts, das es ihm erlaube, weitere Sozialkontakte aufzubauen. Ein Interesse des Kindes, seine wahre Abstammung kennenzulernen, könne erst im höheren Lebensalter relevant werden. Nach dem Willen des Gesetzgebers, der sich an Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts orientiert habe, sollten äußere Störeingriffe zum Schutz des Kindes und der bereits bestehenden Familienbeziehung vermieden werden. Den Grundrechten des leiblichen Vaters solle kein Vorrang vor den gleichermaßen geschützten Rechten des rechtlichen Vaters eingeräumt werden, wenn und solange letzterer seine elterliche Verantwortung im Sinne einer sozialen Elternschaft wahrnehme. Vor diesem Hintergrund könne selbst ein Zeitraum von wenigen Monaten zwischen der Geburt eines Kindes und der Erhebung einer Klage mit dem Ziel der Vaterschaftsanfechtung in diesem spezifischen Kontext als „länger“ angesehen werden.
20. Das Kammergericht hielt es nicht für erforderlich, darüber zu entscheiden, ob der Zeitraum zwischen der Geburt des Kindes und der Klageerhebung durch den Beschwerdeführer zum Aufbau einer sozial-familiären Beziehung ausreichend gewesen wäre. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs sei von dem Bestehen einer sozial-familiären Beziehung auszugehen, wenn das Kind seit der Geburt ununterbrochen mit seinen rechtlichen Eltern zusammengelebt habe, dieses Zusammenleben weiterhin gegeben sei und der Richter davon überzeugt sei, dass der rechtliche Vater die tatsächliche elterliche Verantwortung auf eine Weise trage, die auf Dauer angelegt erscheine. Dabei sei nicht entscheidend, ob die sozial-familiäre Beziehung bereits bei Klageerhebung bestanden habe, sondern nur, ob zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung eine sozial-familiäre Beziehung bestanden habe. Der Beschwerdeführer habe keine Umstände dargelegt, die das Vorliegen einer solchen Beziehung in dem vorliegenden Fall in Frage stellen könnten. Eher spreche es für eine besonders stabile Partnerschaft, dass die Beziehung zwischen den rechtlichen Eltern die durch den Vertrauensbruch der Mutter verursachte Krise überdauert habe. Das Kammergericht ließ die Revision nicht zu.
21. Am 20. Mai 2009 lehnte es eine aus drei Richtern bestehende Kammer des Bundesverfassungsgerichts ab, die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers zur Entscheidung anzunehmen. Diese Entscheidung wurde der Anwältin des Beschwerdeführers am 3. Juni 2009 zugestellt.

II. DAS EINSCHLÄGIGE INNERSTAATLICHE RECHT

1. Vorschriften des Grundgesetzes
22. Nach Artikel 3 GG sind alle Menschen vor dem Gesetz gleich (Abs. 1); Männer und Frauen sind gleichberechtigt (Abs. 2).
23. Artikel 6 GG, soweit maßgeblich, lautet:
“(1) Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung.
(2) Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft.“

2. Vaterschaftsfeststellung
24. Nach § 1592 BGB ist Vater eines Kindes entweder der Mann, der zum Zeitpunkt der Geburt mit der Mutter des Kindes verheiratet ist (Nr. 1), oder der Mann, der die Vaterschaft anerkannt hat (Nr. 2), oder dessen Vaterschaft nach § 1600d BGB gerichtlich festgestellt ist (Nr. 3). Eine Anerkennung der Vaterschaft ist nicht wirksam, solange die Vaterschaft eines anderen Mannes besteht (§ 1594 Abs. 2 BGB). Die Vaterschaft kann nur mit Zustimmung der Mutter wirksam anerkannt werden (§ 1595 Abs. 1)

3. Anfechtung der Vaterschaft
25. Die Vaterschaft kann innerhalb einer Frist von zwei Jahren angefochten werden. Die Frist beginnt mit dem Zeitpunkt, in dem der Berechtigte von den Umständen erfährt, die gegen die Vaterschaft sprechen; das Vorliegen einer sozial-familiären Beziehung hindert den Lauf der Frist nicht (§ 1600b Abs. 1). Nach § 1600 Abs. 1 BGB sind zur Anfechtung der Vaterschaft berechtigt: der Mann, dessen Vaterschaft nach § 1592 Nrn. 1 und 2 besteht, die Mutter, das Kind und der Mann, der an Eides Statt versichert, der Mutter des Kindes während der Empfängniszeit beigewohnt zu haben. Nach § 1600 Abs. 2 BGB kann der leibliche Vater die Vaterschaft desjenigen Mannes, der nach § 1592 Nr. 1 oder 2 BGB der rechtliche Vater des Kindes ist, nur anfechten, wenn zwischen dem rechtlichen Vater und dem Kind keine sozial-familiäre Beziehung besteht. Von einer sozial-familiären Beziehung wird ausgegangen, wenn der rechtliche Vater zum maßgeblichen Zeitpunkt tatsächliche Verantwortung trägt oder getragen hat. Eine Übernahme tatsächlicher Verantwortung ist in der Regel anzunehmen, wenn der rechtliche Vater mit der Mutter des Kindes verheiratet ist oder mit dem Kind längere Zeit in häuslicher Gemeinschaft zusammengelebt hat (§ 1600 Abs. 4).

4. Abstammungsuntersuchung in einem gesonderten Verfahren
26. Nach § 1598a BGB, in der seit 1. April 2008 geltenden Fassung, können der rechtliche Vater, die Mutter und das Kind eine genetische Abstammungsuntersuchung verlangen. Das Ergebnis dieses Verfahrens ändert die rechtliche Stellung der beteiligten Personen nicht. Einem Dritten, der behauptet, der leibliche Vater zu sein, wird allerdings kein solches Recht eingeräumt.

III. VERGLEICH DES EINSCHLÄGIGEN RECHTS

27. Eine 26 Mitgliedstaaten des Europarats umfassende Studie des Gerichtshofs zeigt, dass die Vaterschaft für ein nichteheliches Kind in 21 dieser Staaten nur mit Einwilligung der Mutter anerkannt werden kann. In 17 Mitgliedstaaten (Aserbeidschan, Kroatien, Zypern, Estland, Frankreich, Georgien, Irland, Italien, Litauen, Moldau, Rumänien, Russland, San Marino, Spanien, Türkei, Ukraine und Vereinigtes Königreich) hat der mutmaßliche leibliche Vater das Recht, die durch Anerkennung begründete rechtliche Vaterschaft eines Dritten anzufechten. Dieses Recht kann bestimmte Fristen gebunden sein. In 15 Staaten bleibt dieses Recht auch bestehen, wenn der rechtliche Vater mit dem Kind in einer sozial-familiären Beziehung zusammenlebt. In Frankreich und Spanien darf der leibliche Vater die Vaterschaft nicht anfechten, wenn das Kind mit dem rechtlich anerkannten Vater mindestens fünf bzw. vier Jahre in einer sozial-familiären Beziehung gelebt hat (la possession d’état conforme au titre).
28. In neun Mitgliedstaaten (Armenien, Bulgarien, Ungarn, Island, Lettland, Niederlande, Polen, Slowakei und Schweiz) ist der biologische Vater nicht berechtigt, die durch Anerkennung begründete Vaterschaft des rechtlichen Vaters anzufechten. In diesen neun Staaten sind die Gerichte nicht berechtigt, gerichtlich darüber zu befinden (aus Gründen des Kindeswohls oder aus anderen Gründen), ob dem leiblichen Vater die Anfechtung der Vaterschaft erlaubt werden sollte.

RECHTLICHE WÜRDIGUNG

I. BEHAUPTETE VERLETZUNG VON ARTIKEL 8 DER KONVENTION

29. Der Beschwerdeführer rügte, dass er durch, die Weigerung der innerstaatlichen Gerichte, ihm die Anfechtung der Vaterschaft von Herrn M. und die rechtliche Anerkennung seiner eigenen Vaterschaft zu ermöglichen, in seinem nach Artikel 8 der Konvention geschützten Recht auf Achtung seines Familienlebens verletzt worden sei. Insbesondere rügte er, dass die einschlägigen Rechtsvorschriften, wie sie von den Familiengerichten ausgelegt würden, den Interessen der sozialen Familie generell Vorrang vor denen des leiblichen Vaters einräumten, ohne eine Prüfung der besonderen Umstände des Einzelfalls vorzusehen. Nach Artikel 8 in Verbindung mit Artikel 6 der Konvention rügte er weiter, dass die Familiengerichte nicht geprüft hätten, ob eine dauerhafte Beziehung zwischen dem Kind und seinem rechtlichen Vater bestehe. Darüber hinaus rügte er, dass die angeblich überlange Dauer des Verfahrens seinen Ausgang präjudiziert habe.
30. Die Regierung trat diesem Vorbringen entgegen.
31. Der Gerichtshof ist der Ansicht, dass diese Rüge allein nach Artikel 8 zu prüfen ist, der wie folgt lautet:
“1. Jede Person hat das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens, ihrer Wohnung und ihrer Korrespondenz.
2. Eine Behörde darf in die Ausübung dieses Rechts nur eingreifen, soweit der Eingriff gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist für die nationale oder öffentliche Sicherheit, für das wirtschaftliche Wohl des Landes, zur Aufrechterhaltung der Ordnung, zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer.“

A. Zulässigkeit
32. Der Gerichtshof stellt fest, dass diese Rüge nicht im Sinne von Artikel 35 Abs. 3 Buchst. a der Konvention offensichtlich unbegründet ist. Sie ist auch nicht aus anderen Gründen unzulässig. Folglich ist sie für zulässig zu erklären.

B. Begründetheit
1. Die Vorbringen des Beschwerdeführers
33. Unter Berufung auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs brachte der Beschwerdeführer vor, dass die Beziehung zwischen R. und ihm als ihrem leiblichen Vater einem Familienleben gleichkomme. Er gab an, dass er von Ostern bis Ende September 2003 eine Beziehung mit Frau P. unterhalten habe und dass sie bis Dezember 2004 eine sexuelle Beziehung fortgeführt hätten. Daraus folge, dass das Kind während einer länger andauernden Beziehung gezeugt worden sei. Als Frau P. ihn über ihre Schwangerschaft unterrichtet habe, seien sie beide davon ausgegangen, dass er der Vater sei. Es sei nicht wahr, dass seine erste Reaktion auf die Nachricht der Schwangerschaft absolut ablehnend gewesen sei. Er sei im Gegenteil bereit gewesen, elterliche Verantwortung für das Kind zu übernehmen und habe wiederholt versucht, mit Frau P. während ihrer Schwangerschaft Kontakt aufzunehmen. Frau P. habe dies jedoch abgeblockt und ab Februar 2005 jeden weiteren Kontakt verhindert. Nach der Geburt habe er ein Vaterschaftsfeststellungsverfahren angestrengt, um seine rechtliche Vaterschaft feststellen zu lassen und elterliche Verantwortung auszuüben, womit er ein nachweisbares Interesse an dem Kind und sein Bekenntnis zu ihm bekundet habe. Frau P. habe ihn daran gehindert, eine rechtliche Verbindung mit dem Kind zu begründen und eine tatsächliche Beziehung zu ihm aufzubauen.
34. In jedem Fall sei sein Interesse an der rechtlichen Feststellung seiner Vaterschaft Teil seines Privatlebens und deshalb nach Artikel 8 geschützt. Unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs, insbesondere die Rechtssache Mikulić ./. Kroatien (Individualbeschwerde Nr. 53176/99, Rdnrn. 53-55, ECHR 2002-I), brachte der Beschwerdeführer vor, dass das Privatleben die Feststellung der rechtlichen Beziehung zwischen einem Kind und dem leiblichen Vater umfasse.
35. Die innerstaatlichen Behörden hätten dadurch, dass sie ihn an der Feststellung seiner Vaterschaft gehindert hätten, in dieses Recht eingegriffen. Er wies darauf hin, dass er über keine rechtlichen Mittel verfüge, um die Vaterschaftsanerkennung anzufechten, die Herr M. mit Einwilligung der Mutter erklärt habe, ohne dass er beteiligt gewesen sei..
36. Der Beschwerdeführer brachte weiter vor, dass der Eingriff in seine Rechte aus Artikel 8 nicht nach Artikel 8 Abs. 2 gerechtfertigt gewesen sei. Insbesondere sei er nicht „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ gewesen. Die rechtliche Anerkennung der Beziehung stelle eine auf lebenslange Dauer angelegte rechtliche Verbindung zwischen dem Kind und seinem Elternteil dar, die in der Regel durch die leibliche Abstammung bestimmt werde. Sie erfülle verschiedene Funktionen hinsichtlich der sozialen Ordnung und der Stellung des Einzelnen in der Gesellschaft. Darüber hinaus habe sie auch eine rechtstechnische Funktion. Sie sei daher nicht nur für das Kind, sondern auch für den Elternteil äußerst wichtig. Daraus folge, dass den innerstaatlichen Behörden in dieser Hinsicht nur ein enger Beurteilungsspielraum eingeräumt werden dürfe.
37. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs müsse der Staat in Fällen, in denen nachweislich Familienbande bestehen, so handeln, dass diese Bande sich weiterentwickeln könnten. Der Beschwerdeführer war der Auffassung, dass der Gesetzgeber diesen Grundsatz und das Verhältnismäßigkeitsprinzip missachtet habe, indem er es der Mutter erlaubt habe, einen anderen Mann als rechtlichen Vater des Kindes zu wählen und dem Beschwerdeführer jede tatsächliche Beziehung zu seinem Kind zu versagen. Auf der Grundlage der Gesetzeslage, wie sie von den innerstaatlichen Gerichten angewandt worden sei, habe er praktisch keine Möglichkeit, rechtlicher Vaters seines Kindes zu werden, da die Gerichte der faktischen und rechtlichen Situation, die einseitig von der Mutter geschaffen worden sei, Vorrang gegenüber dem Interesse des Beschwerdeführers als leiblichem Vater eingeräumt hätten.
38. Diese Situation werde noch dadurch verschlimmert, dass er die Beweislast dafür trage, dass zwischen dem Kind und seinem rechtlichen Vater keine sozial-familiäre Bindung bestehe, und ihm auch für die Zukunft die Anfechtung der Vaterschaft versagt worden sei, selbst wenn die Beziehung zwischen der Mutter und dem rechtlichen Vater enden und der rechtliche Vater kein Interesse mehr an dem Kind haben sollte.
39. Herr M. habe das Verhältnis zwischen ihm und dem Kind R. in dem innerstaatlichen Verfahren nicht detailliert geschildert. Unter diesen Umständen wären die Familiengerichte verpflichtet gewesen, den relevanten Sachverhalt von Amts wegen zu prüfen. Darüber hinaus wäre es notwendig gewesen, einen Sachverständigen zu der Frage anzuhören, ob das Zusammenleben von Frau P. und Herrn M. auf Dauer angelegt sei. Die vom Berliner Kammergericht angeführten Gründe führten praktisch dazu, dass jede von einem biologischen Vater erhobene Klage allein wegen der notwendigen Dauer des Vaterschaftsverfahrens abgewiesen würde.
40. Darüber hinaus hätten die Gerichte die widerstreitenden Interessen nicht gegeneinander abgewogen und nicht geprüft, ob eine Vaterschaftsanfechtung dem Wohl des Kindes schaden oder seinem Wohl dienen würde. Die Annahme des Kammergerichts, dass Kind müsse während seiner ersten beiden Lebensjahre vor „äußeren Störeingriffen“ bewahrt werden, sei nicht durch wissenschaftliche Erkenntnisse belegt worden. In dem vorliegenden Fall hätten sowohl der Beschwerdeführer als auch das Kind ein geschütztes und gegenüber dem Bestandsinteresse des rechtlichen Vaters überwiegendes Interesse daran, die leibliche Abstammung rechtlich feststellen zu lassen. Es habe keine Hinweise darauf gegeben, dass die Feststellung der Vaterschaft des Beschwerdeführers die Beziehung zwischen Herrn M. und dem Kind gefährden würde, denn letzterer habe, auch nachdem klar geworden sei, dass er nicht der leibliche Vater sei, im innerstaatlichen Verfahrens bekräftigt, dass er gewillt sei, elterliche Verantwortung zu übernehmen.
41. Die Vorgehensweise des deutschen Gesetzgebers sei nicht hinreichend begründet und stehe im Widerspruch zur Rechtsprechung des Gerichtshofs (der Beschwerdeführer berief sich auf die Rechtssachen Różański ./. Polen, Individualbeschwerde Nr. 55339/00, 18. Mai 2006, und Z. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 22028/04, 3. Dezember 2009), die besage, dass die widerstreitenden Interesse gegeneinander abzuwägen seien. Dies impliziere, dass Kinder notwendigerweise einer gewissen, durch das gerichtliche Verfahren verursachten Belastung ausgesetzt würden. In vielen Fällen wäre aber ohnehin die Einholung eines Sachverständigengutachtens erforderlich, um die tatsächliche Beziehung zwischen dem Kind und seinem rechtlichen Vater festzustellen. In diesen Fällen würde es zu keinen weiteren Belastungen kommen, wenn das Gericht das Kindeswohl im Hinblick auf die Anfechtung der Vaterschaft prüfen würde.
42. Im vorliegenden Fall müsse weiterhin in Betracht gezogen werden, dass das Amtsgericht das Verfahren nicht, wie in den Personenstand betreffenden Fällen erforderlich, mit besonderer Eile geführt habe. Der Ausgang des in Rede stehenden Verfahrens sei somit durch die überlange Verfahrensdauer präjudiziert worden.
43. Der Beschwerdeführer brachte vor, dass das deutsche Recht dem leiblichen Vater eine bedeutend schwächere Stellung einräume als die in den meisten anderen europäischen Staaten geltenden Bestimmungen. Die Ergebnisse eines im März 2010 im Auftrag der Regierung erstellten Gutachtens des Deutschen Instituts für Jugendhilfe und Familienrecht seien nicht überzeugend und nicht repräsentativ für die Rechtslage in Europa. In den meisten Staaten bestehe die eindeutige Tendenz, dem leiblichen Vater die Anfechtung der Vaterschaft uneingeschränkt zu erlauben.
2. Die Vorbringen der Regierung
44. Die Regierung brachte vor, dass die Entscheidungen der innerstaatlichen Gerichte nicht in das Recht des Beschwerdeführers auf Achtung seines Privatlebens eingegriffen hätten. Unter Berufung auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs machte sie geltend, dass eine rein biologische Vaterschaft, ohne eine enge persönliche Beziehung, nicht ausreiche, um einen Schutz durch Artikel 8 zu begründen. Im vorliegenden Fall habe R. mit ihrer Mutter und ihrem rechtlichen Vater in einem stabilen Familienverband zusammengelebt. Zwischen dem Beschwerdeführer und dem Kind R. habe keine tatsächliche familiäre Beziehung bestanden. Die Regierung betonte, dass die intime Beziehung zwischen dem Beschwerdeführer und Frau P. acht Monate vor R.s Geburt geendet habe. Selbst bevor die Kontakte zwischen Frau P. und dem Beschwerdeführer endgültig abgebrochen seien, hätten beide schon seit September 2003 keine feste Beziehung mehr, sondern nur noch gelegentliche sexuelle Kontakte gehabt. Weder sei der Beschwerdeführer bei der Geburt des Kindes dabei gewesen, noch habe er sich um Umgang mit ihm bemüht.
45. Überdies machte die Regierung geltend, dass der Gerichtshof zwar die Auffassung vertreten habe, dass auch ein beabsichtigtes Familienleben ausnahmsweise unter Artikel 8 fallen könne, dies aber unter den Umständen der vorliegenden Individualbeschwerde nicht der Fall sei. Sie betonte, dass der Beschwerdeführer und die Kindesmutter keine Beziehung mehr zueinander hätten. Unter Bezugnahme auf die Stellungnahme der Drittbeteiligten (siehe Rdnrn. 54-57), brachte die Regierung vor, die erste Reaktion des Beschwerdeführers auf die Nachricht der Schwangerschaft sei absolut ablehnend gewesen. Der Beschwerdeführer habe sich nach der Geburt nur einmal nach dem Kind erkundigt. Darüber hinaus hätten die rechtlichen Eltern den Kontakt zum Beschwerdeführer nicht unterbunden. Die Regierung äußerte Zweifel daran, dass der Wille des Beschwerdeführers zur Verantwortungsübernahme, der über den Prozessvertreter geäußert worden sei, wirklich vorhanden gewesen sei.
46. Die Regierung brachte vor, die innerstaatlichen Gerichte hätten das Vorhandensein einer dauerhaften Beziehung zwischen dem Kind und seinem rechtlichen Vater gründlich geprüft. Dabei hätten sie berücksichtigt, dass Herr M. die Vaterschaft bereits vor der Geburt des Kindes anerkannt habe und dass die rechtlichen Eltern seit Februar 2004 eine Partnerschaft unterhalten und zum Zeitpunkt der Geburt des Kindes seit fast einem Jahr zusammengelebt hätten. Während des innerstaatlichen Verfahrens hätten Herr M. und Frau P. bei ihrer getrennten Anhörung durch das Amtsgericht übereinstimmend erklärt, dass sie gemeinsam für das Kind sorgten. Der Beschwerdeführer habe dies nicht bestritten. Daher bestehe kein Zweifel, dass Herr M. tatsächliche elterliche Verantwortung übernommen habe, und es habe keiner weiteren Aufklärung durch das Kammergericht bedurft.
47. Die innerstaatlichen Entscheidungen hätten in das Recht des Beschwerdeführers auf Achtung seines Privatlebens nicht eingegriffen. Aber selbst wenn man unterstelle, dass ein Eingriff in die Rechte des Beschwerdeführers aus Artikel 8 Abs. 1 stattgefunden habe, wäre dieser nach §§ 1592 Abs. 2 und 1600 BGB gesetzlich vorgesehen gewesen und hätte dem legitimen Ziel gedient, die Rechte und Freiheiten des Kindes und seiner rechtlichen Eltern zu schützen.
48. Auch sei dieser Eingriff in einer demokratischen Gesellschaft notwendig gewesen. Der Ausschluss des Anfechtungsrechts für den Beschwerdeführer habe dem Wohl des Kindes gedient. Zwar könne der leibliche Vater ein Interesse daran haben, sein Kind kennenzulernen und eine Beziehung zu ihm aufzubauen. Im vorliegenden Fall sei jedoch zu berücksichtigen, dass das Kind in einer funktionierenden rechtlich-sozialen Familie lebe. Umgekehrt bestehe zwischen dem Kind und dem Beschwerdeführer keine soziale Beziehung. Daraus folge, dass das Interesse des Kindes, ungestört in seiner rechtlich-sozialen Familie aufzuwachsen, Vorrang habe.
49. Der deutsche Gesetzgeber habe die betroffenen widerstreitenden Interessen in einer Weise gegeneinander abgewogen, die den Anforderungen aus Artikel 8 entsprächen. Der Gesetzgeber habe sich mit der Frage, ob dem leiblichen Vater eines Kindes ein Anfechtungsrecht bezüglich der Vaterschaft gewährt werden sollte, intensiv auseinandergesetzt und sich ursprünglich dagegen entschieden. Im Anschuss an einen Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 9. April 2003 (1 BvR 1493/96 und 1724/01) habe er jedoch entschieden, dass der leibliche Vater anfechten könne, wenn zwischen dem rechtlichen Vater und dem Kind keine sozial-familiäre Beziehung bestehe. Tragende Erwägung sei dabei gewesen, dass um des Wohles der sozialen Familie und um der gebotenen Rechtssicherheit im Abstammungsrecht willen der leibliche Vater kein grundrechtlich geschütztes Recht habe, die Vaterschaft vorrangig eingeräumt zu erhalten, wenn der rechtliche Vater seine elterliche Verantwortung im Sinne einer sozialen Elternschaft wahrnehme. Die Entscheidung, der rechtlichen Familie Vorrang einzuräumen, stehe mit der Rechtsprechung des Gerichtshof in Einklang (die Regierung verwies auf die Rechtssache Nylund ./. Finnland (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 27110/95, ECHR 1999-VI).
50. Das Vorgehen des Gesetzgebers diene auch deshalb dem Kindeswohl, weil dadurch die erheblichen Belastungen vermieden würden, die entstünden, wenn in jedem Einzelfall geprüft würde, ob die Anfechtung mit dem Kindeswohl übereinstimmte. Darüber hinaus schütze sie die bestehende Familie davor, private Details ihres Familienlebens preisgeben zu müssen.
51. Dass dem leiblichen Vater die Beweislast hinsichtlich des Fehlens einer sozial-familiären Beziehung obliege, sei hinnehmbar. Er könne gegen die Annahme des Vorliegens einer solchen Beziehung sprechende Tatsachen, wie beispielsweise die, dass das Kind nicht mehr mit seinem rechtlichen Vater zusammenlebe, auch weiterhin vortragen.
52. Dem Beschwerdeführer sei nicht lediglich aufgrund der Dauer des gerichtlichen Verfahrens das Recht auf Anfechtung der Vaterschaft verwehrt worden. Eine überlange Verfahrensdauer liege nicht vor. Außerdem habe das Kammergericht seine Entscheidung nicht auf die Zeit gestützt, die aufgrund des Verfahrens zusätzlich verstrichen sei, sondern klargestellt, dass die in Rede stehende sozial-familiäre Beziehung bereits sehr lange bestanden habe.
53. Die Regierung brachte weiter vor, dass Deutschland hinsichtlich des Abwägens der Interessen von biologischen Vätern einerseits und sozialen Vätern andererseits keine isolierte Position vertrete. Nach einem Gutachten des Deutschen Instituts für Jugendhilfe und Familienrecht e. V., bei der neben der Rechtslage in Deutschland diejenige in siebzehn weiteren Mitgliedstaaten des Europarats analysiert worden sei, könne die Rechtsstellung des biologischen Vaters im deutschen Recht nicht als schwächer angesehen werden als in anderen europäischen Rechtsordnungen.

3. Die Vorbringen der Drittbeteiligten
54. Frau P. und Herr M., die rechtlichen Eltern des Kindes R., brachten vor, dass das innerstaatliche Verfahren ihre Familie sehr belastet habe und dass es ernsthafte Konsequenzen für sie hätte, wenn die innerstaatliche Entscheidung aufgehoben würde. Sie fürchteten insbesondere, dass der Beschwerdeführer sich in die privaten Angelegenheiten der Familie einmischen und die Beziehung zwischen R. und Herrn M. belasten würde.
55. Die Drittbeteiligten brachten vor, dass während der Schwangerschaft keine Beziehung zwischen Frau P. und dem Beschwerdeführer bestanden habe. Auch zum Zeitpunkt der Zeugung habe keine Beziehung bestanden. Nach ihrer Trennung hätten sie nur gelegentliche sexuelle Kontakte gehabt. Als er von Frau P.s Schwangerschaft erfahren habe, habe der Beschwerdeführer sie zur Abtreibung aufgefordert.
56. Dagegen hätten Frau P. und Herr M. bereits vor der Zeugung des Kindes zusammengelebt. Ihnen sei bewusst gewesen, dass beide Männer, der Beschwerdeführer und Herr M., der leibliche Vater sein könnten. Nach einer Beratung hätten sie sich gegen eine Abtreibung entschieden und beschlossen, dafür zu sorgen, dass das Kind in Geborgenheit und Liebe in einer stabilen Familie aufwachsen könne. Herr M. habe Frau P. zu Ultraschalluntersuchungen und zum Geburtsvorbereitungskurs begleitet und sei bei der Geburt dabei gewesen.
57. Einige Zeit nach R.s Geburt habe der Beschwerdeführer Herrn M. angerufen und einen Vaterschaftstest verlangt. Herr M. habe geantwortet, dass er einen solchen Test nicht wolle und dass sie R., wenn sie älter sei, selbst entscheiden lassen wollten, ob sie einen solchen Test wolle. Weder der Beschwerdeführer noch sein Anwalt hätten danach je versucht, mit ihnen Kontakt aufzunehmen.

4. Würdigung durch den Gerichtshof
58. Der Gerichtshof erinnert daran, dass sich der Begriff des „Familienlebens“ nach Artikel 8 der Konvention nicht auf eheliche Beziehungen beschränkt und auch andere faktische „familiäre“ Bindungen erfassen kann, wenn die Beteiligten in nichtehelicher Gemeinschaft zusammenleben. Ferner hat der Gerichtshof die Auffassung vertreten, dass auch ein beabsichtigtes Familienleben ausnahmsweise unter Artikel 8 fallen kann, und zwar vor allem dann, wenn der Umstand, dass das Familienleben noch nicht vollständig hergestellt war, nicht dem Beschwerdeführer zuzurechnen ist (vgl. Pini u. a. ./. Rumänien, Individualbeschwerden Nrn. 78028/01 und 78030/01, Rdnrn. 143 und 146, ECHR 2004-V). Sofern es die Umstände rechtfertigen, muss sich das „Familienleben“ insbesondere auch auf die potentielle Beziehung erstrecken, die sich zwischen einem nichtehelichen Kind und dessen leiblichem Vater entwickeln kann. Maßgebliche Kriterien, die in diesen Fällen für das tatsächliche und praktische Vorliegen enger persönlicher Bindungen maßgeblich sein können, sind unter anderem die Art der Beziehung zwischen den leiblichen Eltern sowie das nachweisbare Interesse des leiblichen Vaters an dem Kind und sein Bekenntnis zu ihm sowohl vor als auch nach der Geburt (siehe Nylund ./. Finnland (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 27110/95, ECHR 1999-VI; N. ./. Deutschland (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 46165/99, 19. Juni 2003; Lebbink ./. Niederlande, Individualbeschwerde Nr. 45582/99, Rdnr. 36, ECHR 2004-IV; und A. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 20578/07, Rdnr. 57, 21. Dezember 2010).
59. Was den vorliegenden Fall anbelangt, stellt der Gerichtshof fest, dass die Beziehung zwischen Frau P. und dem Beschwerdeführer etwa ein Jahr vor der Zeugung des Kindes R. endete. Der Beschwerdeführer hat selbst vorgetragen, dass das Verhältnis zwischen ihm und Frau P. danach rein sexueller Natur gewesen sei. Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass der Beschwerdeführer und Frau P., die zu der Zeit mit Herrn M. zusammenlebte, ins Auge gefasst hatten, zusammen eine Familie zu gründen. Es gibt keine Anzeichen dafür, dass sich der Beschwerdeführer vor der Geburt in irgendeiner Weise um sein Kind bemühte. Unter diesen Umständen ist der Gerichtshof nicht davon überzeugt, dass die Entscheidung des Beschwerdeführers, einen Vaterschaftstest zu verlangen und Klage auf Feststellung seiner Vaterschaft zu erheben, ausreicht, um die Beziehung zwischen ihm und R. in den Anwendungsbereich des Familienlebens einzuordnen.
60. Artikel 8 schützt jedoch nicht nur das „Familienleben“, sondern auch das „Privatleben“. Der Gerichtshof hat bei zahlreichen Gelegenheiten festgestellt, dass ein Verfahren zur Feststellung oder Anfechtung der Vaterschaft das Privatleben des betreffenden Mannes nach Artikel 8 betrifft, der wichtige Aspekte der Persönlichkeit eines Menschen umfasst (siehe Rasmussen ./. Dänemark, 28. November 1984, Rdnr. 33, Band A Nr. 87; Nylund, a.a.O., Yildirim ./. Österreich (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 34308/96, 19. Oktober 1999; Backlund ./. Finnland, Individualbeschwerde Nr. 36498/05, Rdnr. 37, 6. Juli 2010; Pascaud ./. Frankreich, Individualbeschwerde Nr. 19535/08, Rdnrn. 48-49, 16. Juni 2011 und Krušković ./. Kroatien, Individualbeschwerde Nr. 46185/08, Rdnr. 20, 21. Juni 2011). Der Gerichtshof kann keinen Grund dafür erkennen, in der vorliegenden Sache anders zu urteilen. Die Entscheidung, den Antrag des Beschwerdeführers auf Feststellung der rechtlichen Vaterschaft für R. zurückzuweisen, stellte daher einen Eingriff in sein Recht auf Achtung seines Privatlebens dar.
61. Jeder Eingriff dieser Art stellt eine Verletzung von Artikel 8 dar, es sei denn, er ist „gesetzlich vorgesehen“, verfolgt ein oder mehrere Ziele, die nach Absatz 2 dieser Bestimmung legitim sind, und kann als „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ angesehen werden.
62. Die Entscheidung der innerstaatlichen Gerichte, die Klage des Beschwerdeführers auf rechtliche Feststellung der Vaterschaft zurückzuweisen, gründete sich auf §§ 1600 Abs. 2 und 4 BGB. Sie diente dem Wohle des aus Frau P., Herrn M. und dem Kind R. bestehenden Familienverbands.
63. Hinsichtlich der Frage, ob der Eingriff „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ war, verweist der Gerichtshof auf die in seiner Rechtsprechung festgelegten Grundsätze. Er hat zu prüfen, ob die zur Rechtfertigung des Eingriffs angeführten Gründe in Anbetracht der Rechtssache insgesamt im Sinne von Artikel 8 Absatz 2 zutreffend und ausreichend waren (siehe u.a. T.P. und K.M. ./. Vereinigtes Königreich [GK], Individualbeschwerde Nr. 28945/95, Rdnr. 70, ECHR 2001­V), und S. ./. Deutschland [GK], Individualbeschwerde Nr. 31871/96, Rdnr. 62, ECHR 2003­VIII). Von entscheidender Bedeutung bei derartigen Fällen ist die Überlegung, was dem Kindeswohl am besten dient; je nach seiner Art und Bedeutung kann das Kindeswohl den Interessen der Eltern vorangehen (siehe S., a. a. O., Rdnr. 66; und G. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 74969/01, Rdnr. 43, 26. Februar 2004).
64. Nach der gefestigten Rechtsprechung des Gerichtshofs ist weiter zu bedenken, dass die nationalen Behörden insoweit im Vorteil sind, als sie unmittelbaren Kontakt zu allen Beteiligten haben. Aus diesen Überlegungen folgt, dass die Aufgabe des Gerichtshofs nicht darin besteht, an Stelle der nationalen Behörden deren Aufgaben wahrzunehmen, sondern im Lichte der Konvention die Entscheidungen zu überprüfen, die diese Behörden in Ausübung ihres Ermessens getroffen haben (siehe u.a. Hokkanen ./. Finnland, 23. September 1994, Rdnr. 55, Serie A, Band 299-A; G., a.a.O., Rdnr. 41; und S., a.a.O., Rdnr. 62).
65. Die Wahl der Mittel zur Sicherstellung der Einhaltung von Artikel 8 im Rahmen der Beziehungen einzelner Personen untereinander liegt grundsätzlich innerhalb des Beurteilungsspielraums der Vertragsstaaten. Es gibt verschiedene Wege, die „Achtung des Privatlebens“ sicherzustellen, und die Art der Verpflichtung des Staates hängt von dem Aspekt des Privatlebens ab, der in Rede steht (siehe Odièvre ./. Frankreich [GK], Individualbeschwerde Nr. 42326/98, Rdnr. 46, ECHR 2003-III). Der Umfang des Beurteilungsspielraums hängt nicht nur von dem konkret betroffenen Recht oder den konkret betroffenen Rechten ab, sondern auch von der Art der Sache, um die es dem Beschwerdeführer geht (vgl. Pascaud, a.a.O., Rdnr. 59).
66. Der Gerichtshof nimmt auf sein Urteil in der Rechtssache A. ./. Deutschland Bezug (Individualbeschwerde Nr. 20578/07, 21. Dezember 2010), bei dem es um die Weigerung der deutschen Gerichte ging, Herrn A., dem leiblichen Vater von Zwillingen, Umgang mit seinen Kinder zu gewähren, da er keine sozial-familiäre Beziehung zu ihnen habe. In jenem Beschwerdeverfahren stellte der Gerichtshof fest, dass das innerstaatliche Gericht dem Beschwerdeführer den Umgang mit seinen Kindern versagte, ohne überhaupt zu prüfen, ob Umgangskontakte zwischen den Zwillingen und dem Beschwerdeführer unter den besonderen Umständen des Falles dem Wohl der Kinder dienen würden. Der Gerichtshof stellte folglich fest, dass das innerstaatliche Gericht keinen fairen Ausgleich zwischen den betroffenen widerstreitenden Interessen herbeigeführt hatte. Da die Gründe, die für die Entscheidung, dem Beschwerdeführer den Umgang mit seinen Kindern zu versagen, angeführt wurden, im Sinne von Artikel 8 Abs. 2 also nicht „ausreichend“ waren, war Artikel 8 verletzt worden (siehe A., a.a.O., Rdnrn. 67-73).
67. Was die Umstände des vorliegenden Falles angeht, stellt der Gerichtshof zunächst fest, dass der Beschwerdeführer ein Verfahren anstrengte, das darauf abzielte, die vollständige Rechtsposition als Vater des Kindes zu erhalten. Wäre die Klage des Beschwerdeführers erfolgreich gewesen, wären sämtliche elterlichen Bindungen zwischen dem Kind und Herrn M., der die Vaterschaft vor der Geburt des Kindes anerkannt habe und weiterhin die Rolle seines sozialen Vaters einnehme, durchtrennt worden. Es ist daher davon auszugehen, dass ein solches Verfahren ein grundsätzlich anderes und viel weitreichendes Ziel verfolgt als die bloße Feststellung der biologischen Vaterschaft zum Zwecke des Umgangs mit dem betroffenen Kind und der Information über die Entwicklung dieses Kindes, wie in der Rechtssache A..
68. Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass bei der Bestimmung des Umfangs des Beurteilungsspielraums, den ein Staat bei der Entscheidung einer Artikel 8 der Konvention betreffenden Rechtssache haben sollte, eine Reihe von Faktoren zu berücksichtigen sind. Geht es um einen besonders wichtigen Aspekt der Existenz oder Identität des Betroffenen, wird der dem Staat gewährte Spielraum normalerweise eingeschränkt sein. Wo es jedoch zwischen den Mitgliedstaaten des Europarats keinen Konsens hinsichtlich der relativen Bedeutung der betroffenen Interessen oder ihres bestmöglichen Schutzes gibt, wird der Beurteilungsspielraum weiter gefasst sein (siehe zuletzt S. H. u. a. ./. Österreich [GK], Individualbeschwerde Nr. 57813/00, Rdnr. 94, 3. November 2001, mit weiteren Verweisen). Darüber hinaus wird der eingeräumte Beurteilungsspielraum normalerweise groß sein, wenn der Staat einen Ausgleich zwischen widerstreitenden öffentlichen und privaten Belangen oder Konventionsrechten erzielen muss (siehe S. H. u. a., a.a.O.)
69. Nach der vergleichenden Studie des Gerichtshofs (siehe Rdnrn. 27-28) scheint von 26 Staaten der Mitgliedstaaten des Europaratens eine Mehrheit von 15 Staaten einem mutmaßlichen biologischen Vater zu erlauben, die rechtliche Vaterschaft eines Dritten, die durch Anerkennung der Vaterschaft begründet wurde, anzufechten, selbst wenn der rechtliche Vater mit dem Kind in einer sozial-familiären Beziehung zusammenlebt. Dagegen ist der mutmaßliche biologische Vater in einer beträchtlichen Minderheit von neun Mitgliedstaaten nicht berechtigt, die Vaterschaft des rechtlichen Vaters anzufechten. In zwei weiteren Staaten darf der mutmaßliche biologische Vater die Vaterschaft nicht anfechten, wenn das Kind mit dem rechtlichen Vater mindestens vier bzw. fünf Jahre in einer sozial-familiären Beziehung gelebt hat.
70. Der Gerichtshof kommt zu dem Ergebnis, dass es in den Mitgliedstaaten eine gewisse Tendenz zu geben scheint, dem mutmaßlichen biologischen Vater die Anfechtung der Vaterschaft des rechtlichen Vaters unter Umständen, die mit denen, die im vorliegenden Fall geprüft werden, vergleichbar sind, zu erlauben. Es scheint jedoch keinen gefestigten Konsens zu geben, der den Beurteilungsspielraum des Staates entscheidend einengen würde. Der Gerichtshof stellt weiter fest, dass die angefochtenen Entscheidungen nicht die Frage des Umgangsrechts betrafen, die einer strengen Prüfung bedarf, da diese Entscheidungen die Gefahr bergen, dass die Familienbeziehungen zwischen einem kleinen Kind und einem Elternteil endgültig abgeschnitten werden (siehe u. a. G., a.a.O., Rdnrn. 41-42, und A., a.a.O., Rdnr. 66). Daraus folgt, dass der den Mitgliedstaaten eingeräumte Beurteilungsspielraum im Hinblick auf die Festlegung der Rechtsstellung des Kindes größer sein muss als der, den die Staaten im Hinblick auf Umgangs- und Auskunftserteilungsrechte genießen.
71. Im Hinblick auf die im vorliegenden Fall gegeneinander abzuwägenden Belange stellt der Gerichtshof fest, dass der Beschwerdeführer ein geschütztes Interesse an der Feststellung der Wahrheit hinsichtlich eines wichtigen Aspekts seines Privatlebens, nämlich den der Vaterschaft für R., und an der rechtlichen Anerkennung dieser Vaterschaft hatte (vgl. sinngemäß Pascaud und Krušković, beide a.a.o., Rdnr. 34 bzw. 48).
72. Andererseits zielte die Entscheidung des Kammergerichts darauf ab, dem Willen des Gesetzgebers, einer bestehenden familiären Beziehung zwischen dem Kind und seinem rechtlichen Vater, der tatsächlich mit der Kindesmutter zusammenlebte und das Kind alltäglich elterlich betreute, gegenüber der Beziehung zwischen einem leiblichen Vater und einem Kind Vorrang einzuräumen.
73. Der Gerichtshof stellt fest, dass das deutsche Familienrecht, wie es von den innerstaatlichen Gerichten ausgelegt wird, keine gerichtliche Prüfung der Frage vorsieht , ob der Umgang zwischen einem biologischen Vater und seinem Kind dem Kindeswohl dienlich wäre, wenn ein anderer Mann der rechtliche Vater der Kinder ist und der biologische Vater noch keine Verantwortung für das Kind getragen hat („sozial-familiäre Beziehung“). Die Gründe dafür, dass der biologische Vater nicht bereits eine solche Beziehung aufgebaut hat, sind unerheblich; die Bestimmungen erfassen somit auch Fälle, in denen die Tatsache, dass eine solche Beziehung noch nicht bestanden hat, nicht dem biologischen Vater zuzurechnen ist (vgl. A., a.a.O., Rdnr. 67). Der Gerichtshof nimmt auf seine Feststellungen in der Rechtssache A. Bezug, bei der diese rechtliche Situation zu einer Verletzung der Rechte des biologischen Vaters auf Achtung seines Privatlebens führte (siehe A., a.a.O., Rdnrn. 70-73).
74. Aus dem A.-Urteil lässt sich ableiten, dass Artikel 8 der Konvention dahingehend ausgelegt werden kann, dass er den Mitgliedstaaten eine Verpflichtung auferlegt, zu prüfen, ob es dem Kindeswohl dient, dem biologischen Vater den Aufbau einer Beziehung zu seinem Kind zu ermöglichen, beispielsweise durch die Gewährung eines Umgangsrechts. Dementsprechend darf der biologische Vater nicht vollständig vom Leben seines Kindes ausgeschlossen werden, es sei denn, dass triftige Gründe des Kindeswohls dies erfordern. Daraus ergibt sich jedoch nicht notwendigerweise eine konventionsrechtliche Pflicht, dem biologischen Vater die Anfechtung der Vaterschaft des rechtlichen Vaters zu erlauben. Eine solche Verpflichtung lässt sich auch nicht aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ableiten. Die vorliegende Rechtssache ist von der Rechtssache Różański zu unterscheiden, auf die sich der Beschwerdeführer berufen hat, denn in diesem Falle hatten die innerstaatlichen Behörden den Antrag von Herrn Różański, seine Vaterschaft festzustellen, einfach mit Hinweis darauf abgewiesen, dass ein anderer Mann die Vaterschaft festgestellt habe, ohne den tatsächlichen Hintergrund des Falles zu prüfen, beispielsweise im Hinblick auf die Frage, ob das Kind mit seinem rechtlichen Vater in einer sozial-familiären Beziehung lebe (siehe Różański, a.a.O., Rdnr. 78). In der Rechtssache Mizzi ./. Malta (Individualbeschwerde Nr. 26111/02) stellte der Gerichtshof eine Verletzung von Artikel 8 der Konvention fest, weil dem Beschwerdeführer, der der rechtliche – aber nicht der biologische – Vater eines ehelich geborenen Kindes war und niemals mit dem Kind zusammengelebt hatte, nie die Möglichkeit eingeräumt wurde, mit hinreichender Erfolgsaussicht eine Klage auf Anfechtung der Vaterschaft zu erheben (siehe Mizzi, a.a.O., Rdnr. 108-111). Der Gerichtshof ist der Auffassung, dass dieser Fall sich von dem vorliegenden Fall dadurch unterscheidet, dass Herr Mizzi vorbrachte, dass die Annahme der rechtlichen Vaterschaft der sozialen Realität nicht entsprochen habe, da er nie eine tatsächliche Beziehung zu dem Kind gehabt hatte (siehe Mizzi, a.a.O., Rdnr. 11). Dagegen stimmte in der vorliegenden Rechtssache die rechtliche Vaterschaft von Herrn M. mit seiner Rolle als sozialer Vater des Kindes überein.
75. Im Hinblick auf die vorstehenden Erwägungen, insbesondere den fehlenden Konsens in den Mitgliedstaaten hinsichtlich dieser Frage und den weiten Beurteilungsspielraum, der den Staaten in Angelegenheiten einzuräumen ist, die die rechtliche Stellung betreffen, ist der Gerichtshof der Auffassung, dass die Entscheidung darüber, ob dem biologischen Vater unter den Umständen des vorliegenden Falles die Anfechtung der Vaterschaft gestattet werden sollte, innerhalb des Beurteilungsspielraums des Staates liegt.
76. Es bleibt noch festzustellen, ob der Entscheidungsprozess als Ganzes dem Beschwerdeführer den nach Artikel 8 erforderlichen Schutz seiner Interessen zuteil werden ließ (siehe Rechtssachen S., a. a. O., Rdnr. 66, und G., a. a. O., Rdnrn. 41-42).
77. Diesbezüglich stellt der Gerichtshof fest, dass das Oberlandesgericht prüfte, ob die rechtlichen Eltern in einem dauerhaften Familienverband zusammenlebten. Das Bestehen einer Vater-Kind-Beziehung zwischen Herrn M. und dem Kind war von beiden rechtlichen Eltern und dem Verfahrenspfleger des Kindes bestätigt worden. Herr M. hatte mit der Mutter des Kindes vor der Zeugung des Kindes bereits mehrere Monate zusammengelebt und sie während ihrer Schwangerschaft und bei der Geburt begleitet. Der Beschwerdeführer hatte andererseits weder während des innerstaatlichen Verfahrens noch vor dem Gerichtshof irgendwelche Tatsachen vorgetragen, die diese Feststellung in Zweifel ziehen würde. Es gibt also keine Anhaltspunkte dafür, dass die innerstaatlichen Gerichte den erheblichen Sachverhalt nicht hinreichend aufgeklärt hätten.
78. Hinsichtlich der Dauer des Verfahrens erinnert der Gerichtshof daran, dass in Rechtssachen, in denen es um die Beziehung einer Person zu ihrem Kind geht, die Pflicht zu außergewöhnlich zügigem Vorgehen gilt, weil die Gefahr besteht, dass der fortschreitende Zeitablauf zu einer faktischen Entscheidung der Angelegenheit führen kann; diese Pflicht gehört zu den sich aus Artikel 8 ergebenden Verfahrenserfordernissen (siehe u. a. H. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 28422/95, Rdnr. 54, 5. Dezember 2002, und S. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 40324/98, Rdnr. 100, 10. November 2005). Darüber hinaus hat der Gerichtshof festgestellt, dass in Verfahren, die den Personenstand betreffen, besondere Zügigkeit geboten ist (Mikulić, a.a.O., Rdnr. 44).
79. Was die Umstände der vorliegenden Rechtssache angeht, stellt der Gerichtshof fest, dass der zu berücksichtigende Zeitraum am 27. Oktober 2005 begann, als der Beschwerdeführer seine Vaterschaftsklage erhob, und am 3. Juni 2009 endete, als die Entscheidung des Bundesverfassungsgericht dem Anwalt des Beschwerdeführers zugestellt wurde. Das Verfahren dauerte somit etwa drei Jahre und sieben Monate, wobei drei Instanzen durchlaufen wurden. Obwohl es vor dem Amtsgericht Tempelhof-Kreuzberg – wo die Rechtssache ein Jahr und sechs Monate anhängig war – zu gewissen Verzögerungen kam, die insbesondere dadurch verursacht wurden, dass das Gericht nicht unmittelbar nach Erhebung der Klage einen Verfahrenspfleger bestellte, ist der Gerichtshof der Auffassung, dass diese Verzögerung von etwa drei Monaten dadurch ausgeglichen wurde, dass das Kammergericht den Fall sehr zügig bearbeitete, nämlich innerhalb von weniger als vier Monaten. Soweit eine gewisse Verzögerung dadurch eintrat, dass das Amtsgericht zwei getrennte Untersuchungen anordnete, um die Vaterschaft des rechtlichen Vaters auszuschließen und danach die Vaterschaft des Beschwerdeführers festzustellen, ist der Gerichtshof der Ansicht, dass diese Vorgehensweise in das Ermessen des Gerichts fällt, das selbst darüber entscheidet, wie der entscheidungserhebliche Sachverhalt festzustellen ist.
80. Der Gerichtshof stellt weiter fest, dass aus den vom Kammergericht Berlin angeführten Gründen nicht hervorgeht, dass der Ausgang der vorliegenden Rechtssache wegen der Dauer des Verfahrens vor den innerstaatlichen Gerichten präjudiziert wurde. Er stellt insbesondere fest, dass das Kammergericht der Auffassung war, eine sozial-familiäre Beziehung zwischen dem rechtlichen Vater und dem Kind R. habe nicht erst zu dem Zeitpunkt der Entscheidung dieses Gerichts über die Berufung des Beschwerdeführers [sic], sondern schon lange davor bestanden.
81. Unter diesen Umständen ist der Gerichtshof überzeugt, dass die sich aus Artikel 8 der Konvention ergebenden Verfahrenserfordernisse erfüllt waren.
82. Aus den angeführten Erwägungen ergibt sich, dass Artikel 8 im vorliegenden Verfahren nicht verletzt worden ist.

II. BEHAUPTETE VERLETZUNG VON ARTIKEL 14 IN VERBINDUNG MIT ARTIKEL 8 DER KONVENTION

83. Der Beschwerdeführer rügte, dass er durch die vom Kammergericht Berlin vorgenommene Auslegung von § 1600 BGB in seiner Eigenschaft als leiblicher Vater gegenüber der Mutter, dem rechtlichen Vater und dem Kind diskriminiert worden sei. Er berief sich auf Artikel 14 i. V. m. Artikel 8 der Konvention; Artikel 14 lautet wie folgt:
„Der Genuss der in dieser Konvention anerkannten Rechte und Freiheiten ist ohne Diskriminierung insbesondere wegen des Geschlechts, der Rasse, der Hautfarbe, der Sprache, der Religion, der politischen oder sonstigen Anschauung, der nationalen oder sozialen Herkunft, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt oder eines sonstigen Status zu gewährleisten.“
84. Die Regierung trat diesem Vorbringen entgegen.

A. Zulässigkeit
85. Der Gerichtshof stellt fest, dass diese Rüge mit der vorstehend bereits geprüften Rüge verknüpft und daher ebenfalls für zulässig zu erklären ist.

B. Begründetheit
86. Der Beschwerdeführer wies darauf hin, dass sowohl die Kindsmutter als auch der rechtliche Vater auch dann zur Anfechtung der Vaterschaft berechtigt seien, wenn eine sozial-familiäre Beziehung zwischen dem Kind und dem rechtlichen Vater bestehe. Er war der Auffassung, dass keine triftigen Gründe vorlägen, die eine solche Ungleichbehandlung rechtfertigten. Die Ungleichbehandlung werde noch dadurch verschlimmert, dass die sich während des Vaterschaftsverfahrens festigende sozial-familiäre Beziehung zwischen dem rechtlichen Vater und dem Kind das Anfechtungsrecht der Mutter nicht beeinträchtigt habe. Darüber hinaus dürfe man nicht außer acht lassen, dass Kinder bei Anfechtung der Vaterschaft keine Rücksicht auf ihre sozialen Beziehungen zur Mutter und zum rechtlichen Vater nehmen müssten. Dagegen sei es dem biologischen Vater verwehrt, die Vaterschaft anzufechten, selbst wenn dies dem Kindeswohl nützen würde.
87. Die Regierung war der Auffassung, dass Artikel 14 in der vorliegenden Rechtssache nicht anwendbar sei, da die Rüge des Beschwerdeführers nicht in den Anwendungsbereich von Artikel 8 der Konvention falle. Hilfsweise brachte die Regierung vor, dass die vom Beschwerdeführer angeführten Gruppen nicht vergleichbar seien. Die Situation des Beschwerdeführers, der nie mit dem Kind zusammengelebt habe, sei nicht mit der der rechtlichen Eltern vereinbar, da letztere mit dem Kind in einer häuslichen Gemeinschaft zusammenlebten und elterliche Verantwortung trügen. Die Entscheidung des Gesetzgebers, der sozial-familiären Beziehung zwischen rechtlichem Vater und Kind Vorrang einzuräumen, falle in den Ermessensspielraum, den der Staat bei der Abwägung gegenläufiger Interessen habe.
88. Der Gerichtshof hat bereits festgestellt, dass die Rüge des Beschwerdeführers in den Bereich des nach Artikel 8 der Konvention geschützten Privatlebens fällt. Folglich ist Artikel 8 in der vorliegenden Rechtssache anwendbar. Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass Artikel 14 im Hinblick auf den Genuss der nach der Konvention garantierten Rechte und Freiheiten Schutz vor Ungleichbehandlung von Menschen in vergleichbaren Situationen bietet, wenn es dafür keine sachlichen und vernünftigen Gründe gibt (siehe u.v.a. Zaunegger, a.a.O. Rdnr. 42).
89. Was die Umstände der vorliegenden Rechtssache angeht, stellt der Gerichtshof fest, dass die Regierung als wichtigsten Grund für die Ungleichbehandlung des Beschwerdeführers gegenüber der Mutter, dem rechtlichen Vater und Kind bezüglich der Anfechtung der Vaterschaft anführte, dass das Kind und seine soziale Familie vor äußeren Störeingriffen geschützt werden sollten. Im Hinblick auf die bereits angeführten Erwägungen hinsichtlich der Verhältnismäßigkeit des Eingriffs in das Recht des Beschwerdeführers auf Achtung seines Privatlebens, insbesondere den fehlenden Konsens in den Mitgliedstaaten (siehe Rdnrn. 69-70), ist der Gerichtshof der Auffassung, dass die Entscheidung, der bestehenden familiären Beziehung zwischen dem Kind und seinen rechtlichen Eltern Vorrang vor seiner Beziehung zu seinem leiblichen Vater einzuräumen, in Bezug auf seine rechtliche Stellung in den Beurteilungsspielraum des Staates fällt.
90. Folglich liegt kein Verstoß von Artikel 14 in Verbindung mit Artikel 8 der Konvention vor.

III. BEHAUPTETE VERLETZUNG VON ARTIKEL 6 ABSATZ 1 UND ARTIKEL 13 DER KONVENTION

91. Der Beschwerdeführer rügte darüber hinaus, dass die Dauer des Verfahrens überlang gewesen sei und dass es diesbezüglich kein wirksames Rechtsmittel gegeben habe.
92. Die Regierung war der Auffassung, dass der Beschwerdeführer hinsichtlich dieser Rüge die Sechsmonatsfrist nicht eingehalten habe, und bestritt, dass die Dauer des Verfahrens überlang gewesen sei.
93. Der Gerichtshof ist der Auffassung, dass dieser Teil der Beschwerde, selbst wenn man die Einhaltung von Artikel 35 Abs. 1 der Konvention unterstellt, im Lichte seiner Feststellungen zu den Verfahrensaspekten von Artikel 8 der Konvention (siehe Rdnrn. 79-80) offensichtlich unbegründet und nach Artikel 35 Abs. 3 Buchstabe a und Abs. 4 der Konvention zurückzuweisen ist.

AUS DIESEN GRÜNDEN ENTSCHEIDET DER GERICHTSHOF EINSTIMMIG:

1. Die Rüge nach Artikel 8 wird für sich genommen und in Verbindung mit Artikel 14 für zulässig und die Beschwerde wird im Übrigen für unzulässig erklärt;

2. Artikel 8 der Konvention ist nicht verletzt worden;

3. Artikel 14 in Verbindung mit Artikel 8 der Konvention ist nicht verletzt worden.

Ausgefertigt in Englisch und schriftlich zugestellt am 22. März 2012 nach Artikel 77 Absätze 2 und 3 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs.

Haben Sie Fragen? 

Rufen Sie uns an oder schreiben Sie uns eine E-Mail, damit wir die grundsätzlichen Fragen klären können.

© Rechtsanwalt Krau. All rights reserved.
Powered by wearehype.eu.
© Rechtsanwalt Krau. All rights reserved.
Powered by wearehype.eu.