Oberlandesgericht des Landes Sachsen-Anhalt 1 U 118/11

Januar 7, 2021

Oberlandesgericht des Landes Sachsen-Anhalt 1 U 118/11

Arzthaftung: Versterben eines Wachkomapatienten nach Auftreten einer zusätzlichen akuten Erkrankung und unterlassenen intensivmedizinischen Maßnahmen; Schmerzensgeldansprüche der Angehörigen aus eigenem oder übergegangenem Recht

Leitsatz

Bei einem unter mehrfachen Grunderkrankungen leidenden und nun zusätzlich akut erkranktem Wachkomapatienten ohne Patientenverfügung und ohne Betreuer ist vor der Entscheidung, ihn intensivmedizinisch zu behandeln oder nur pflegerisch zu versorgen, der mutmaßliche Patientenwille (heute geregelt in den §§ 1901a, 1901b BGB) zu ermitteln und ein Konsens mit den nächsten Angehörigen (hier den Eltern) zu versuchen. Kann dieser nicht erzielt werden, ist die bereits begonnene Therapie der Akuterkrankung mit allem was dazu notwendig ist, fortzusetzen. Zur Frage, ob bei Versterben des Wachkomapatienten Schmerzensgeldansprüche der Angehörigen aus eigenem oder übergegangenem Recht bestehen (hier verneint).(Rn.19)

Verfahrensgang ausblendenVerfahrensgang
vorgehend LG Dessau-Roßlau, 18. November 2011, 4 O 915/10
Tenor

Auf die Berufung der Kläger zu 1) und zu 2) wird das am 18.11.2011 verkündete Urteil des Landgerichts Dessau-Roßlau (4 O 915/10) unter Zurückweisung des weitergehenden Rechtsmittels abgeändert:

Die Beklagten werden verurteilt, an die Kläger zu 1) und zu 2) 4.376,28 Euro nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 23.11.2010 zu zahlen.

Die Beklagten werden weiter verurteilt, die Kläger zu 1) und zu 2) von vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten des Rechtsanwalts J. W. , N. Straße 101, H. in Höhe von 933,44 Euro freizustellen.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Die Berufung der Klägerin zu 3) gegen das am 18.11.2011 verkündete Urteil des Landgerichts Dessau-Roßlau (4 O 915/10) wird zurückgewiesen.

Die Klägerin zu 3) trägt vorab ihre eigenen außergerichtlichen Kosten. Im Übrigen tragen die Kosten des Rechtsstreits die Kläger zu 95 % und die Beklagten zu 5 %.

Das angefochtene Urteil ist ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Die Kläger können die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 120 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagten vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leisten. Die Beklagten können die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 120 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leisten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

und beschlossen:

Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf die Gebührenstufe bis
80.000,– Euro festgesetzt.

Gründe

I.

Die Kläger zu 1) und 2) sind die Eltern und Erben des am 23.11.2004 verstorbenen P. F. (i.F. Patient). Die Klägerin zu 3) ist seine Schwester. Der am 14.11.1983 geborene Patient wurde im Jahre 1998 an einem Gehirntumor operiert und befand sich seit dem im Zustand eines Wachkomas. Der Patient litt an einem apallischen Syndrom, einer spastischen Tetraparese und war erblindet. Er wurde zu Hause im Wesentlichen von der Klägerin zu 1) gepflegt. Im August 2003 wurde der Patient in das Diakonissenkrankenhaus in D. eingeliefert, damit eine gelegte Magensonde ausgetauscht werden konnte. Bei dem Krankenhausaufenthalt wurde auch eine Bronchopneumonie festgestellt. Nach einem Antibiogramm wurde zunächst mit Avalox, dann mit Unacid und schließlich mit Tazobac therapiert (jeweils Produktname des Antibiotikums, nicht der Wirkstoff). Nachdem das Fieber dauerhaft gesenkt werden konnte, wurde der Patient nach Hause entlassen. Am 13.11.2004 wurde der Patient durch den Notarzt mit der Verdachtsdiagnose einer links-basalen Pneumonie und einer Temperatur von mehr als 40°C bei der Beklagten zu 1) eingeliefert, wo er auf der Normalstation aufgenommen wurde. Bei einer dort gemessenen Temperatur von 38,8°C wurde sofort mit der antibiotischen Therapie mit dem Mittel Avalox begonnen. Am 14.11.2004 wurde ein Abstrich genommen, der am 17.11.2004 ausgewertet war. Am 15.11.2004 wurde die Magensonde gegen einen Urinkatheter ausgetauscht. Am 16.11.2004 wurde eine erste Röntgen-Thorax-Aufnahme erstellt (eine zweite am 23.11.2004) und die Antibiotikumtherapie auf Fortum umgestellt. Nach dem Befund des Abstriches vom 14.11.2004 wurden die Bakterien Serratia, Klebsiella und Troteus nachgewiesen, die sowohl auf Avalox als auch auf Fortum sensibel reagierten. Am 18.11.2004 wurde eine therapeutische Bronchoskopie durchgeführt (wiederholt am 23.11.2004), bei der auch Schleim abgesaugt wurde. Dem Patienten wurde zunächst auch ein Bronchosekretolytikum verabreicht, das später gänzlich abgesetzt wurde, nach dem Vortrag der Beklagten deshalb, weil wegen verstärkter tracheobronchialer Sekre-tion eine regelmäßige Absaugung erforderlich war. Der Befund der Bronchoskopie vom 18.11.2004 lag am 21.11.2004 vor. Nachgewiesen wurden Pseudomonas aeruginose und Serratia marcecscens (aber keine Sproßpilze), die beide sowohl auf Avalox, Fortum als auch auf Tavanic sensibel waren. Am 22.11.2004 wurde die Antibiotikumtherapie um das Mittel Tavanic erweitert. Im Ergebnis der Bronchoskopie vom 23.11.2004 (das erst nach dem Tod des Patienten vorlag) wurde auch Klebsiella oxytoxca nachgewiesen, die resistent gegen Fortum waren aber sensibel gegen Tavanic. Der Patient wurde nicht auf die Intensivstation verbracht. Am 23.11.2004 ist der Patient verstorben. Bei Vorliegen von sicheren Todesanzeichen erfolgte keine kardiopulmonale Reanimation.

Am 25.11.2004 hat die Klägerin zu 1) bei der Polizei eine Strafanzeige erstattet. In diesem Zusammenhang ist sie von der Polizei ausführlich vernommen worden. Auf den Inhalt des Vernehmungsprotokolls vom selben Tag (Bl. 7ff. in 391 Js 39099/04 StA Dessau [i.F. BA]) wird Bezug genommen. Die Staatsanwaltschaft Dessau hat im Rahmen des Ermittlungsverfahrens die Obduktion des Patienten angeordnet. Bei der Obduktion wurde als Todesursache eine Lungenentzündung (Bronchopneumonie) festgestellt. Die Staatsanwaltschaft Dessau hat das Ermittlungsverfahren eingestellt, weil sich keine Hinweise auf ein Fremdverschulden am Tod des Patienten ergaben. Die dagegen gerichtete Beschwerde hat die Generalstaatsanwaltschaft zurückgewiesen. Die Kläger haben noch im Jahre 2004 die Herausgabe der Krankenunterlagen verlangt und diese auch ausgehändigt bekommen. Die Unterlagen wurden zur Prüfung möglicher Schadensersatzansprüche an die Streitverkündeten übergeben, die sich mit zwei Schreiben im Jahre 2006 an die Beklagte zu 1) wandten. Da keine weiteren Maßnahmen ergriffen wurden, erwirkten die Kläger im Jahre 2009 eine einstweilige Verfügung gegen die Streitverkündeten auf Herausgabe der Handakten.

Mit der am 31.12.2010 erhobenen Klage verlangen die Kläger zu 1) und 2) als Erben des Patienten Ausgleich der Beerdigungskosten, ein angemessenes Schmerzensgeld für den Erblasser und ein eigenes angemessenes Schmerzensgeld. Letzteres fordert auch die Klägerin zu 3). Die Kläger behaupten, dass der Wechsel des Antibiotikums von Avalox zu Fortum medizinisch nicht indiziert gewesen sei und zum Tod des Patienten geführt habe. Ebenfalls fehlerhaft sei das Absetzen der bronchosekretolytischen Medikation gewesen. Die (verstopfte) Magensonde habe nicht durch einen Urinkatheder ersetzt werden dürfen. Die Beatmung des Patienten am 23.11.2004 hätte nicht mittels einer Sauerstoffnasensonde oder einer Sauerstoffbrille erfolgen dürfen, sondern für die Beatmung hätte ein Luftröhrenschnitt gesetzt werden müssen. Außerdem hätte der Patient auf die Intensivstation verbracht werden müssen. Bei der Beklagten zu 1) sei die ambulant von der Hausärztin verordnete Medikation fehlerhaft nicht fortgesetzt worden. Der Patient sei auch nicht ausreichend mit Heparin versorgt worden.

Die Beklagten sind der Klage entgegengetreten. Sie bestreiten Behandlungsfehler und erheben die Einrede der Verjährung.

Wegen der weiteren Einzelheiten des erstinstanzlichen Vortrages der Parteien und der in erster Instanz gestellten Anträge wird Bezug genommen auf die tatsächlichen Feststellungen im angefochtenen Urteil.

Das Landgericht hat die Klage insgesamt mit der Begründung abgewiesen, dass etwaige Ansprüche verjährt seien.

Gegen dieses Urteil wenden sich alle 3 Kläger mit der Berufung. Sie wiederholen und vertiefen ihren Vortrag aus erster Instanz.

Wegen der in der Berufungsinstanz gestellten Anträge wird Bezug genommen auf die Seiten 1 und 2 der Berufungsbegründung vom 25.1.2012 (Bl. 194/195 I).

Die Beklagten verteidigen das angefochtene Urteil und beantragen, die Berufung zurückzuweisen.

Der Senat hat gemäß Beweisbeschluss vom 24.5.2012 (Bl. 238ff. I) Beweis erhoben durch Einholung eines Sachverständigengutachten. Der Sachverständige hat sein Gutachten schriftlich erstattet (Bl. 29ff. II) und später schriftlich ergänzt (Bl. 80ff. II) und sodann im Senatstermin vom 25.4.2013 mündlich erläutert (Bl. 101 II). Der Senat hat gemäß Beweisbeschluss vom 25.4.2013 ergänzend Beweis erhoben über die Behandlung des Patienten am 23.11.2004 (Bl. 106ff. II). Der Sachverständige hat sich dazu im Gutachten vom 8.7.2013 zunächst schriftlich (Bl. 120 II) geäußert und hat seine Feststellungen sodann im Termin vom 15.8.2013 mündlich erläutert (Bl. 130/131 II). Im Beweisbeschluss vom 24.5.2012 hat der Senat die Kläger darauf hingewiesen, dass die Voraussetzungen für einen eigenen Schmerzensgeldanspruch nicht hinreichend dargelegt wurden (Bl. 240 I).

II.

Die Berufung ist zulässig, insbesondere form und fristgerecht eingelegt und begründet worden. Das Rechtsmittel hat teilweise Erfolg. Inwieweit Ansprüche verjährt sein können, kann mit Ausnahme der Vorgänge am 23.11.2004 dahinstehen, weil sich darüber hinaus keine Behandlungsfehler feststellen lassen. Der grobe Behandlungsfehler vom 23.11.2004 ist nicht verjährt:

Ein Behandlungsfehler lässt sich im Übrigen nicht feststellen:

(1) Die Umstellung der Antibiotikumtherapie (von Avalox zu Fortum und dieses Mittel später ergänzt durch Tavanic) stellt keinen Behandlungsfehler dar und steht in keinem kausalen Zusammenhang mit dem Tod des Patienten. Bei der Antibiotikumtherapie war die Vorerkrankung des Patienten sowie insbesondere eine Antibiotika-Vortherapie zu berücksichtigen, weil eine solche (den im Übrigen natürlich bereits vorgeschwächten Patienten [SV S. 3]) den Patienten prädisponiert zu Infektionen durch resistente Erreger. Die Antibiotikumtherapie ist daher engmaschig daraufhin zu kontrollieren, ob die Erreger noch auf das (die) eingesetzte(n) Mittel reagier(t)en. Wurde mit einem Antibiotikum vortherapiert, soll möglichst ein Wechsel des Wirkstoffs erfolgen (um Resistenzen vorzubeugen.). Am 16.11.2004 erfolgte der Wechsel von Avalox zu Fortum. Im Antibiogramm vom 17.11.2004 sind alle 3 festgestellten Erreger (Serratia/Klebsiella/Proteus) sowohl auf Avalox als auch auf Fortum sensibel. Daraus folgt dann, dass der Wechsel zumindest nicht fehlerhaft sein konnte. Gleiches galt in der Folge des Untersuchungsbefundes vom 21.11.2004, weil auch dort nur Keime festgestellt wurden, die sowohl auf Fortum und Tavanic sensibel waren. Möglicherweise anders zu beurteilen wäre dies für die Zeit nach dem 22.11.2004, weil sich im Bronchialsekret mit Klebsiella oxytoca ein Keim fand, der resistent gegen Fortum war. Allerdings lag das Untersuchungsergebnis erst nach dem Tod des Patienten vor.

Dabei können die theoretischen Erörterungen des Für und Wider Avalox/Fortum im Gutachten des Sachverständigen solange auf sich beruhen, solange die jeweils festgestellten Erreger sensibel auf beide Mittel waren. Welches Mittel er dann einsetzt, ist dann eine Ermessensentscheidung des behandelnden Arztes. Erfolgten die Kontrollen auch engmaschig genug, dann kann im Wechsel des Antibiotikums kein haftungsrelevanter Fehler liegen (wobei der Sachverständige darauf hinweist, dass Avalox auch im Diakonissenkrankenhaus nach ein paar Tagen ersetzt wurde, weil sich ein nachhaltiges Ergebnis gerade nicht ergab). Dies wird im Ergänzungsgutachten noch einmal ausdrücklich festgehalten:

Grundsätzlich will ich nochmals betonen, dass die Sinnhaftigkeit des Wechsels oder Erweiterung der antibiotischen Therapie diskutiert werden kann, aber ganz bestimmt kein ursächlicher Zusammenhang mit dem Tod des Patienten hergestellt werden kann. Die Umstellung der antibiotischen Therapie am 16.11.2004 erfolgte nach Antibiogramm und die nachgewiesenen Keime waren zum Zeitpunkt der Umstellung sensibel auf Ceftazidim (Fortum).

Hinsichtlich der eingesetzten Antibiotika kann ein Behandlungsfehler mithin nicht festgestellt werden.

(2) Hinsichtlich der Absetzung der bronchosekretolytischen Medikation sieht der Sachverständige ebenfalls keinen Zusammenhang mit dem Tod des Patienten. Ist das Sekret zäh, kann ein Medikament das Abhusten erleichtern. Ist das Sekret flüssig, kann der Patient nicht mehr die erforderliche Menge abhusten. Unter den Bedingungen eines Krankenhauses könne das Sekret jeder Zeit über ein Tracheostoma abgesaugt werden. Dafür spricht nach Ansicht des Sachverständigen, dass im Arztbrief vom 29.11.2004 (Anlage K2 AB) von einer auffällig verstärkten tracheobronchialen Sekretion gesprochen wird und dann auch abgesaugt wurde. Dies heißt im Ergebnis, dass das Absaugen mittels eines Tracheostoma den gleichen oder bei der großen Menge Sekret sogar größeren Effekt gegenüber einem Bronchosekretolytikum hat, sodass ein Behandlungsfehler auch insoweit nicht festgestellt werden kann.

(3) Zwar wurde die verstopfte Magensonde durch einen Urinkatheter ersetzt und darin liegt auch ein Verstoß gegen das Medizinproduktegesetz (MPG). Beim Einsatz eines Urinkatheters als Ernährungssonde (was rein tatsächlich nach den Feststellungen des Sachverständigen technisch möglich ist) handelt es sich um einen nicht bestimmungsgemäßen Gebrauch i.S.v. § 4 Abs. 1 Nr. 1 MPG, einfach deshalb, weil der Katheter nicht wie vorgesehen als Urinkatheter verwendet wurde, obgleich er seine Funktion problemlos erfüllt hat. Aber: Aus dem Sektionsprotokoll ergibt sich, dass der Bereich der Narbe um den Katheter reizfrei war, mithin keine Infektion vorlag und es schon deshalb an jeder Kausalität zum Tod fehlen muss.

(4) Fehlerhaft war das Vorgehen der Beklagten indes am 23.11.2004. Insoweit ist vorab festzuhalten, dass am 23.11.2004 beim Patienten eine Situation eingetreten war, die es aus Sicht des Sachverständigen vertretbar erscheinen ließ, auf intensivmedizinische Maßnahmen zu verzichten, wenn man die ungünstige Prognose im Hinblick auf die Vorerkrankung akzeptierte. Davon abgesehen bestand nach Durchführung der therapeutischen Bronchoskopie und der Blutgasanalyse am 23.11.2004 (Vormittags, jedenfalls aber nach 14.30 Uhr [Ergebnis der Blutgasanalyse]) die Notwendigkeit, den Patienten auf die Intensivstation zu verbringen. Ausgehend von der Überlegung, dass es vertretbar war, die therapeutische Behandlung einzustellen, insbesondere auf intensivmedizinische Maßnahmen zu verzichten und den Erblasser ausschließlich pflegerisch zu versorgen, wären für die Beklagten grundsätzlich 2 Möglichkeiten in Betracht zu ziehen gewesen:

(a) Man hätte das Gespräch mit den Eltern über die Frage der Einstellung von Behandlungsmaßnahme führen müssen (dass für den Erblasser eine Patientenverfügung vorlag, ist nicht ersichtlich; dass Feststellungen zum tatsächlichen oder mutmaßlichen Willen des Erblasser hätten getroffen werden können, ist unwahrscheinlich vor dem Hintergrund, dass er bereits im Alter von 15 Jahren in das Wachkoma fiel [dazu jetzt § 1901a BGB; BGH Urteil vom 25.6.2010 – 2 StR 454/09 -; z.B. BGHSt 55, 191; BGH Beschluss vom 10.11.2010 – 2 StR 320/10 -; z.B. NStZ 2011, 274; jeweils zitiert nach juris]). Die weitere therapeutische Behandlung hätte dann unterbleiben können, wenn insoweit im Sinne der Aufklärung des mutmaßlichen Patientenwillens (heute geregelt in den §§ 1901a, 1901b BGB) ein Konsens mit den Eltern hätte erzielt werden können. Dies ist ersichtlich nicht erfolgt.

(b) Konnte dieser Konsens nicht erzielt werden, war die einzig mögliche Reaktion, die Therapie mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln fortzusetzen.

In der weiteren Beurteilung des Verhaltens der Beklagten kann dahinstehen, ob sie in Kenntnis der Notwendigkeit intensivmedizinischer Maßnahmen bewusst darauf verzichtet haben, oder ob sie die Notwendigkeit dieser Maßnahmen verkannt haben. Im ersten Fall wäre das Unterlassen intensivmedizinischer Maßnahmen evident rechtwidrig gewesen, weil mangels der Voraussetzungen von (a) zwingend nach (b) hätte vorgegangen werden müssen. Hinsichtlich der möglichen Folgen müsste daher allein aus diesem evident rechtswidrigen Verhalten die Beweislastumkehr folgen. Haben die Beklagten demgegenüber die Notwendigkeit weiterer Maßnahmen verkannt, folgte auch daraus die Beweislastumkehr, weil nach den Bekundungen des Sachverständigen es nach Durchführung der therapeutischen Bronchoskopie am 23.11.2004 grob fehlerhaft war, den Patienten nicht auf die Intensivstation zu verbringen. Der Sachverständige hat weiter ausgeführt, dass sich zwar die Lebenserwartung des Patienten mit jeder erneuten Infektion stark verringerte, dass aber nicht ausgeschlossen werden könne, dass es unter intensivmedizinischen Maßnahmen gelungen wäre, den Gesundheitszustand so zu stabilisieren, sodass der Zustand vor der Einlieferung bei der Beklagten zu 1) hätte erreicht werden können. Damit kann nicht ausgeschlossen werden, dass die unterbliebene intensivmedizinische Versorgung kausal für den Tod des Patienten am 23.11.2004 war. Ob es außerdem fehlerhaft war, die Sauerstoffzufuhr ab 13.00 Uhr durch die Nase und nicht direkt durch das Tracheostoma vorzunehmen, kann vor diesem Hintergrund dahinstehen.

Da die Beklagten den ihnen im Hinblick auf die Beweislastumkehr obliegenden Gegenbeweis nach den Ausführungen des Sachverständigen nicht führen können, ist eine Haftung dem Grunde anzunehmen. Ein Anspruch ist nicht verjährt.

Für den Beginn der Verjährung reicht es nicht aus, dass der Patient Kenntnis vom negativen Ergebnis der Behandlung hat. Der Patient muss vielmehr auf einen ärztlichen Fehler als Ursache des Misserfolgs schließen können. Dazu muss der Patient nicht nur die wesentlichen Umstände des Behandlungsverlaufs kennen, sondern er muss auch Kenntnis von solchen Umständen erlangen, aus denen sich für einen medizinischen Laien ergibt, dass der Arzt vom üblichen Standart abgewichen ist, Maßnahmen nicht getroffen hat, die nach dem ärztlichen Standard zur Vermeidung oder Beherrschung von Komplikationen erforderlich waren. Entscheidend ist, ob dem Geschädigten bei seinem Kenntnisstand die Erhebung einer Klage (auch in Form einer Feststellungsklage) gegen eine bestimmte Person zumutbar war (BGH Urteil vom 31.10.2000 – VI ZR 198/99 – [z.B. BGHZ 145, 358]; ebenso: OLG Koblenz Urteil vom 25.3.2010 – 5 U 1514/07 – [VersR 2011, 403]; jeweils zitiert nach juris). In diesem Zusammenhang ist insbesondere zu gewichten, was die Klägerin zu 1) bei ihrer Vernehmung durch die Polizei am 25.11.2004 bekundet hat. Dort hat die Klägerin aber nur die Beobachtung (Protokoll S. 7) wiedergegeben, dass ihrer Ansicht nach die Beatmung nicht durch die Nase hätte erfolgen dürfen. Dies hat der Sachverständige – wie ausgeführt – zwar bestätigt. Daraus kann aber nicht geschlussfolgert werden, dass dies die Kenntnis beinhaltet, dass der Patient auf die Intensivstation hätte verbracht werden müssen und dass die Unterlassung intensivmedizinischer Maßnahmen die eigentliche Todesursache sein könnte. Die Klägerin zu 1) beschreibt bei ihrer Aussage allein, was sie beobachtet hat, nicht aber, dass sie die medizinische Relevanz dieser Beobachtungen erkannt hat. Auch aus den Krankenunterlagen lässt sich allenfalls der Rückschluss ziehen, dass intensivmedizinische Maßnahmen nicht unternommen wurden, nicht aber, dass in der Unterlassung der eigentliche Fehler lag. Diese Feststellung kann erst nach den Ausführungen des Sachverständigen in seinem Gutachten vom 8.7.2013 getroffen werden. Zwar haben die Kläger die Streitverkündeten eingeschaltet. Dabei kann dahingestellt bleiben, ob sich die Kläger eventuelle Kenntnisse der Streitverkündeten überhaupt zurechnen lassen müssten (BGH Urteil vom 16.5.1989 – VI ZR 251/88 – [z.B. NJW 1989, 2323] zu § 852 BGB a.F.; offen gelassen zu § 199 Abs. 1 Nr. 2 BGB in BGH Urteil vom 23.1.2007 – XI ZR 44/06 – [z.B. NJW 2007, 1584]; jeweils zitiert nach juris). Es kann aber nicht festgestellt werden, dass die Streitverkündeten weitergehende Informationen hatten. So ist im Schreiben vom 6.3.2006 (Anlage B1) hinsichtlich der Notwendigkeit der Aufnahme auf der Intensivstation, lediglich davon die Rede, dass dies bei Einlieferung des Patienten nicht erfolgt ist. Dieses wiederum war nach den Ausführungen des Sachverständigen aber gerade nicht fehlerhaft. Fehlerhaft war erst die Unterlassung intensivmedizinischer Maßnahmen am 23.11.2004. Soweit in dem Schreiben vom 6.3.2006 auf die Beatmung durch die Nase hingewiesen wird, kann auf die vorstehenden Ausführungen verwiesen werden. Es kann in Ergebnis nicht festgestellt werden, dass ein Anspruch dem Grunde nach verjährt wäre.

Die Haftung besteht zwar dem Grunde nach, der Höhe nach kommt aber nur der Ersatz der Beerdigungskosten in Betracht (4.376,28 Euro). Weder dem Patienten selbst kann ein Schmerzensgeldanspruch zustehen, der auf die Kläger zu 1) und zu 2) übergegangen sein könnte, noch steht den Klägern originär ein Schmerzensgeldanspruch zu. Beim Patienten selbst ist zu berücksichtigen, dass bis zum Eintritt des Todes die erforderliche intensivmedizinische Behandlung einige Stunden unterblieben ist. Tritt der Tod alsbald nach der Verletzung ein, ist eine Gesamtbetrachtung aller Beeinträchtigungen erforderlich unter besonderer Berücksichtigung von Art und Schwere der Verletzung und des Zeitraums zwischen Verletzung und Tod (Palandt/Grüneberg BGB, 72. Aufl., § 253, Rn. 19 m.w.N.). Vor diesem Hintergrund muss ein Schmerzensgeldanspruch des Patienten schon deshalb ausscheiden, weil eine Abgrenzung zwischen der Grunderkrankung und den (möglichen) Verletzungsfolgen nicht möglich ist. Der Sachverständige (Gutachten vom 8.7.2013, dort S. 7) hat ausdrücklich festgestellt, dass der Patient mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit im Hinblick auf das apallische Syndrom zu keiner bewussten Wahrnehmung in der Lage war. Schmerzensgeld wird nicht für den Tod an sich oder die Verkürzung des Lebens geschuldet, sondern für die zugefügten Leiden. Dass solche beim Erblasser abgrenzbar von der Grunderkrankung durch den Fehler gegeben waren, lässt sich nicht feststellen.

Ein eigener Schmerzensgeldanspruch könnte den Klägern nur unter dem Gesichtspunkt eines Schockschadens zustehen (dazu: Palandt/Grüneberg BGB, 72. Aufl., Vorb v § 249, Rn. 40 m.w.N.). Die Gesundheitsbeschädigung muss dabei nach Art und Schwere deutlich über das hinausgehen, was Nahestehende als unmittelbar Betroffene in derartigen Fällen erfahrungsgemäß an Beeinträchtigungen erleiden. Zur Klägerin zu 3) (= Schwester) wird dazu überhaupt nichts vorgetragen. Auf den Hinweis des Senats (im Beweisbeschluss), dass der Vortrag unzureichend sein könnte, wird im Schriftsatz vom 8.4.2013 jetzt ausschließlich Bezug genommen auf ein Schreiben der Hausärztin vom 14.9.2012 (Bl. 94/95 II). Der Inhalt dieses Schreibens ist nicht geeignet, die Voraussetzungen für einen Schockschaden auch nur darzulegen. Die dort beschriebene Reaktion der Kläger zu 1) und zu 2) entspricht genau dem, was bei Eltern bei dem Verlust eines Kindes zu erwarten ist. Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass sich der Patient vor dem Tod viele Jahre im Wachkoma befand und zu einer bewussten Wahrnehmung nicht in der Lage war. Nach den Ausführungen des Sachverständigen stieg die Wahrscheinlichkeit für den Tod mit jeder neuen Infektion weiter an, sodass die Kläger damit rechnen mussten, dass dieser Fall eintreten würde. Zwar ist nachvollziehbar, dass es insbesondere die Klägerin zu 1), die ihr Leben offensichtlich ganz auf die Pflege des erkrankten Sohnes eingestellt hatte, schwer getroffen hat, als der Tod tatsächlich eintrat. Es handelte sich aber nicht um einen überraschenden, unvermittelten Eingriff, sondern es verwirklichte sich ein Risiko, mit dem die Kläger seit Jahren rechnen mussten.

Den Klägern stehen weiter vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten in Höhe von 933,44 Euro zu, ausgehend von einem Gegenstandswert von 4.376,28 Euro. Der Gegenstandswert ist nach ständiger Rechtsprechung des Senats nach dem Betrag zu bestimmen, mit dem die Kläger erfolgreich sind. Im Übrigen rechtfertigt es der Schwierigkeitsgrad der Sache, den Gebührenrahmen aus VV 2300 voll auszuschöpfen (i.V.m. VV 1008).

Die Kostenentscheidung folgt aus den §§ 91 Abs. 1, 92 Abs. 1, 97 Abs. 1 ZPO.

Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf den §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.

Die Revision wird nicht zugelassen, weil die Voraussetzungen von § 543 ZPO nicht vorliegen.

Streitwert: Gebührenstufe bis 80.000,– Euro (je 20.000,– Euro Kläger eigenes Schmerzensgeld; 5.000,– Euro Schmerzensgeld Erblasser; Beerdigungskosten).

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