OLG Frankfurt am Main, 12.09.2012 – 1 U 32/09

Mai 3, 2019

OLG Frankfurt am Main, 12.09.2012 – 1 U 32/09
Leitsatz

Zu den Anforderungen an die wirksame Berichtigung eines Verkündungsprotokolls für ein Urteil
Tenor:

Auf die Berufung des Klägers wird das ihm am 27. Januar 2009 zugestellte Urteil der 4. Zivilkammer des Landgerichts Frankfurt am Main (2-04 O 25/07) aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landgericht zurückverwiesen.

Die Entscheidung über die Kosten des Berufungsverfahrens bleibt dem Landgericht vorbehalten. Gerichtsgebühren für die Berufungsinstanz sowie gerichtliche Gebühren und Auslagen, die durch das aufgehobene Urteil ver-ursacht worden sind, werden nicht erhoben.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
1

A.

Der klagende Rechtsanwalt nimmt das beklagte Land aus Amtshaftung mit Zahlungs-, Feststellungs- und Auskunftsanträgen auf Schadensersatz in Anspruch.
2

[Von der Darstellung des Sachverhalts im Weiteren wird abgesehen – die Red.]
3

B.

I. Die zulässige Berufung hat in der Sache jedenfalls vorläufig Erfolg.
4

Das Landgericht hat den Rechtsstreit im ersten Rechtszug noch nicht zum Abschluss gebracht. Es hat seine Entscheidung nicht verkündet, so dass es sich bei dem den Parteien zugestellten Schriftstück in Wahrheit nur um einen Urteilsentwurf handelt. Gegen ein solches Scheinurteil kann Berufung eingelegt werden (vgl. Bundes-gerichtshof, Urteil vom 6. Februar 2004, NJW 2004, S. 1666, 1667 [BGH 06.02.2004 – V ZR 249/03]; Beschluss vom 3. November 1994, NJW 1995, S. 404 [BGH 03.11.1994 – LwZB 5/94]; Oberlandesgericht München, Urteil vom 29. April 2011, 10 U 3984/10, juris). Diese führt zu einer Aufhebung des Scheinurteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits zwecks Beendigung des noch nicht abgeschlossenen erstinstanzlichen Verfahrens.
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1. Gemäß § 310 Abs. 1 ZPO ist ein Urteil zu verkünden. Erst mit seiner Verkündung wird es als gerichtliche Entscheidung existent und bindend; vorher ist es nur ein gerichtsinterner Entwurf (vgl. Bundesgerichtshof, Beschluss vom 3. November 1994, NJW 1995, S. 404 [BGH 03.11.1994 – LwZB 5/94]; Zöller/Vollkommer, ZPO, 29. Auflage 2012, § 310 Rn. 1 und 7; Musielak/Musielak, ZPO, 9. Auflage 2012, § 310 Rn. 1 und 8).
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a. Dass das dem Kläger am 27. Januar 2009 zugestellte, von ihm mit der Berufung angegriffene Urteil verkündet wurde, kann nicht festgestellt werden.
7

aa. Die bei den Akten befindliche Urschrift des landgerichtlichen Urteils trägt zwar den von der Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle unterschriebenen Vermerk im Sinne des § 315 Abs. 3 ZPO, das Urteil sei am 21. Januar 2009 verkündet worden. Damit ist die Verkündung aber nicht bewiesen. Denn nach § 165 Satz 1 ZPO kann die Beachtung der für die mündliche Verhandlung vorgeschriebenen Förmlichkeiten, zu denen nach § 160 Abs. 3 Nr. 7 ZPO die Verkündung der Entscheidungen gehört, nur durch das Protokoll bewiesen werden (vgl. Bundesgerichtshof, Beschluss vom 16. Februar 1989, III ZB 38/88, juris; Stein/Jonas/Roth, ZPO, 22. Auflage 2005, § 165 Rn. 11 und 12; Musielak/Stadler, ZPO, 9. Auflage 2012, § 165 Rn. 2; Vorwerk/ Wolf/Wendtland, ZPO, Stand 1. Januar 2012, § 165 Rn. 4). Es ist allgemein anerkannt, dass der Verkündungsvermerk gemäß § 315 Abs. 3 ZPO das nach §§ 160 Abs. 3 Nr. 7, 165 Satz 1 ZPO erforderliche Verkündungsprotokoll nicht ersetzen kann (vgl. Bundes-gerichtshof, Beschluss vom 16. Februar 1989, III ZB 38/88, juris; Zöller/Vollkommer, ZPO, 29. Auflage 2012, § 315 Rn. 7; Musielak/Musielak, ZPO, 9. Auflage 2012, § 315 Rn. 9).
8

bb. Das bei den Akten befindliche Protokoll der Sitzung des Landgerichts vom 21. Januar 2009 beweist in seinerunberichtigten Fassung die Verkündung des land-gerichtlichen Urteils nicht.
9

(1) Das Protokoll enthält zwar die Feststellung, dass das Urteil verkündet worden sei. Gleichwohl ist es nicht beweiskräftig. Denn das Protokoll wurde seinem Inhalt nach von Richterin am Landgericht C erstellt, aber nicht von dieser, sondern von Richterin am Landgericht D unterschrieben.
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(a) Falls Richterin am Landgericht C bei dem Verkündungstermin vom 21. Januar 2009 anwesend war, hatte diese gemäß § 163 Abs. 1 ZPO das Protokoll zu unterschreiben und damit die Verantwortung dafür zu übernehmen (vgl. Musielak/Stadler, ZPO, 9. Auflage 2012, § 163 Rn. 1; Vorwerk/Wolf/Wendtland, ZPO, Stand 1. Januar 2012, § 163 Rn. 1). Die Unterschrift des bei dem Verkündungstermin anwesenden Richters ist Voraussetzung für die dem Verkündungsprotokoll gemäß § 165 ZPO zukommende Beweiskraft (vgl. Stein/Jonas/Roth ZPO § 163 Rn. 1; Musielak/Stadler, ZPO, 9. Auflage 2012, § 163 Rn. 1). Ohne eine solche ordnungs-gemäße Unterschrift liegt kein gültiges, gemäß § 165 Satz 1 ZPO beweiskräftiges Protokoll vor (vgl. Bundesgerichtshof, Beschluss vom 16. Februar 1989, III ZB 38/88, juris Rn. 6; Musielak/Stadler, ZPO, 9. Auflage 2012, § 163 Rn. 1 und 4; § 165 Rn. 4; Vorwerk/Wolf/Wendtland, ZPO, Stand 1. Januar 2012, § 163 Rn. 1). War Richterin am Landgericht C bei dem Verkündungstermin anwesend, so ist das Protokoll vom 21. Januar 2009 mangels ordnungsgemäßer Unterschrift nicht beweiskräftig im Sinne des § 165 Satz 1 ZPO.
11

(b) War dagegen Richterin am Landgericht D bei dem Verkündungstermin anwesend, ist das Protokoll vom 21. Januar 2009 zwar ordnungsgemäß unterschrieben, aber inhaltlich unstimmig, weil es die gemäß § 160 Abs. 3 Nr. 7 ZPO zu protokollierende Urteilsverkündung durch Richterin am Landgericht D nicht bestätigt: Nach dem Protokoll war nicht sie, sondern Richterin am Landgericht C bei dem Verkündungstermin anwesend. Ein in sich unstimmiges Protokoll ist ebenfalls nicht beweiskräftig im Sinne des § 165 Satz 1 ZPO.
12

cc. An der fehlenden Beweiskraft des Verkündungsprotokolls vom 21. Januar 2009 hat sich nicht dadurch nachträglich etwas geändert, dass Richterin am Landgericht D unter dem 26. Mai 2010 einen Berichtigungsvermerk gemäß § 164 ZPO erstellt hat, wonach sie selbst und nicht Richterin am Landgericht C bei dem Verkündungstermin vom 21. Januar 2009 anwesend gewesen sei. Denn dieser Berichtigungsvermerk ist aus verfassungsrechtlichen Gründen unbeachtlich:
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(1) Die Garantie effektiven Rechtsschutzes in Art. 19 Abs. 4 GG bindet auch den die Verfahrensordnung anwendenden Richter. Das Gericht darf ein von der Verfahrens-ordnung eröffnetes Rechtsmittel nicht ineffektiv machen und für den Beschwerdeführer „leer laufen” lassen (vgl. Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 15. Januar 2009, NJW 2009, S. 1469 ff. [BVerfG 15.01.2009 – 2 BvR 2044/07] mit weiteren Nachweisen). Das Rechtsstaatsgebot verbietet es den Gerichten also, bei der Auslegung und Anwendung der verfahrensrechtlichen Vorschriften den Zugang zu den in der Verfahrensordnung eingeräumten Instanzen in einer Weise erschweren, die aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigen ist (ebenda).
14

(2) Der Große Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat zu § 274 StPO, der inhaltlich § 165 Satz 1 ZPO entspricht (dazu, dass diese zivilprozessuale Regelung dem Vorbild früherer Strafprozessordnungen folgte, vgl. Gaupp, Die Civilprozessordnung für das Deutsche Reich, 2. Auflage 1890, Anm. I. zu § 150), entschieden, dass eine „rüge-vernichtende Protokollberichtigung“ aus Gründen der Verfahrensfairness (Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK) und des effektiven Rechtsschutzes nur unter Einhaltung strenger verfahrensrechtlicher Sicherungen zulässig ist (vgl. Beschluss vom 23. April 2007, NJW 2007, S. 2419, 2424 [BGH 23.04.2007 – GSSt 1/06] Rn. 61 f.):
15

(a) Hiernach setzt eine Protokollberichtigung, durch die einer bereits erhobenen Verfahrensrüge die Tatsachengrundlage entzogen wird, eine sichere Erinnerung bei den Urkundspersonen voraus (vgl. ebenda, S. 2424 Rn. 62; dazu, dass die strenge Regelung des § 274 StPO gerade darauf beruht, dass der Gesetzgeber wegen der Unsicherheit des menschlichen Erinnerungsvermögens Zweifel an der Zuverlässigkeit späterer Erhebungen hatte, vgl. Reichsgericht, Beschluss der Vereinigten Strafsenate vom 13. Oktober 1909, RGSt 43, S. 1, 4 ff. sowie die eingehende Darstellung dieser Bedenken anhand der Gesetzesmaterialen in der abweichenden Meinung der Richter Voßkuhle, Osterloh und Di Fabio zum Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 15. Januar 2009, NJW 2009, S. 1469 ff. Rn. 107 ff. [BVerfG 15.01.2009 – 2 BvR 2044/07], 109, 116, 119).
16

(b) Außerdem ist die Absicht der Berichtigung dem Rechtsmittelführer zusammen mit dienstlichen Erklärungen der Urkundspersonen mitzuteilen. Diese Erklärungen haben die für die Berichtigung tragenden Erwägungen zu enthalten, etwa indem sie auf markante Besonderheiten des Falls eingehen, auf die sich die Erinnerung der Urkundspersonen stützt; auch sollten etwaige Aufzeichnungen, die den Protokollfehler belegen, in Abschrift übermittelt werden. Dem Rechtsmittelführer ist innerhalb an-gemessener Frist rechtliches Gehör zu gewähren (vgl. ebenda, S. 2424 Rn. 62).
17

(c) Widerspricht dieser daraufhin der beabsichtigten Protokollberichtigung substantiiert, so sind erforderlichenfalls weitere dienstliche Erklärungen und Stellungnahmen der übrigen Verfahrensbeteiligten einzuholen. Auch hierzu ist dem Rechtsmittelführer eine angemessene Frist zur Stellungnahme zu gewähren. Halten die Urkundspersonen die Niederschrift weiterhin für inhaltlich unrichtig, so haben sie diese gleichwohl zu berichtigen. In diesem Fall haben sie ihre Entscheidung über die Protokollberichtigung zu begründen, insbesondere die ihre Erinnerung belegenden Tatsachen anzugeben und auf das Vorbringen des Rechtsmittelführers einzugehen (vgl. ebenda, S. 2424 Rn. 63).
18

(d) Ob die Protokollberichtigung beachtlich ist, ist vom Rechtsmittelgericht im Rahmen einer Verfahrensrüge zu überprüfen; im Zweifel gilt das Protokoll in der nicht be-richtigten Fassung.
19

(3) Nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts (Beschluss vom 15. Januar 2009, NJW 2009, S. 1469 ff. [BVerfG 15.01.2009 – 2 BvR 2044/07]) ist diese Rechtsprechung deshalb mit den Geboten des effektiven Rechtsschutzes und der Verfahrensfairness vereinbar, weil sie dem Rechts-mittelführer durch die unter (2) aufgeführten Verfahrensanforderungen und die Ver-pflichtung des Rechtsmittelgerichts, die Einhaltung dieser Anforderungen zu überprüfen, effektiven Schutz vor unberechtigten Protokollberichtigungen gewähre (a. a. O., S. 1474 Rn. 76): Ein Gericht, das eine Protokollberichtigung beabsichtige, durch die einer bereits erhobenen Verfahrensrüge die Grundlage entzogen werde, müsse sich den Einwendungen des Rechtsmittelführers stellen, sich mit diesen auseinandersetzen und damit rechnen, dass seine Protokollberichtigungsentscheidung einer eingehenden Überprüfung durch das Rechtsmittelgericht unterzogen werde. Hierdurch und durch § 348 StGB, der Protokollfälschungen unter Strafe stelle, werde ein Missbrauch des Instruments der Protokollberichtigung hinreichend sicher ausgeschlossen (ebenda; siehe aber auch die abweichende Meinung der Richter Voßkuhle, Osterloh und Di Fabio, a. a. O., S. 1476 ff. Rn. 107 ff., wonach die vorgenannte Rechtsprechung zum Strafprozess gegen Art. 20 Abs. 2 und 3 GG verstößt).
20

(4) (a) Für den Bereich des Zivilprozesses hat der Bundesgerichtshof die Zulässigkeit einer rügevernichtenden Protokollberichtigung in seinem Urteil vom 12. Februar 1958 (NJW 1958, S. 711 [BGH 12.02.1958 – V ZR 12/57]) ausdrücklich offengelassen (das Bundesverwaltungsgericht hat sie in einem Urteil vom 14. Juli 1980, MDR 1981, S. 166 ff., juris Rn. 26 ff., 31, – ohne Erörterung insoweit erforderlicher Verfahrenssicherungen – bejaht; diesem Urteil lag allerdings ein Fall zugrunde, in dem der Protokollfehler – anders als hier – keine für die Verhandlung vorgeschriebene Förmlichkeit im Sinne von § 105 VwGO i. V. m. § 165 ZPO betraf).
21

(b) In den Materialien des Gesetzes zur Entlastung der Landgerichte und zur Verein-fachung des Protokolls vom 20. Dezember 1974 (BGBl. I, S. 3651 ff.), das die Pro-tokollberichtigung im Zivilprozess ausdrücklich regelt, wird die Zulässigkeit rüge-vernichtender Protokollberichtigungen nicht erörtert (vgl. BR-Dr. 551/74, S. 63 f.; BT Dr. 7/2769, S. 3 ff., 10 f.).
22

(c) Nimmt man mangels gegenteiliger Anhaltspunkte in den Gesetzesmaterialien an, dass § 165 ZPO eine Protokollberichtigung auch dann erlaubt, wenn diese einer bereits im Rechtsmittelverfahren erhobenen Verfahrensrüge die Tatsachengrundlage entzieht, so muss das Protokollberichtigungsverfahren aus den vom Großen Strafsenat des Bun-desgerichtshofs und vom Bundesverfassungsgericht ausgeführten Gründen zur Ge-währleistung effektiven Rechtsschutzes und eines fairen Verfahrens den unter (2) dar-gestellten verfahrensrechtlichen Anforderungen jedenfalls dann genügen, wenn die Protokollberichtigung – wie hier – eine so wesentliche Förmlichkeit wie die Verkündung des Urteils betrifft.
23

(5) Den von Verfassungs wegen an eine rügevernichtende Protokollberichtigung zu stellenden Verfahrensanforderungen entsprach die von Richterin am Landgericht D unter dem 26. Mai 2010 vorgenommene Protokollberichtigung aus mehreren Gründen nicht.
24

(a) Die Richterin hat in dem Protokollberichtigungsverfahren nicht dokumentiert, dass sie eine sichere Erinnerung daran habe, selbst bei dem Verkündungstermin vom 21. Januar 2009 zugegen gewesen zu sein:
25

In ihrem Anhörungsschreiben vom 22. April 2010 hat sie den Parteien lediglich mitgeteilt, sie beabsichtige, das Protokoll dahingehend zu berichtigen, dass nicht die Kollegin C bei der Verkündung zugegen gewesen sei, sondern sie selbst; den Verkündungsvordruck habe sie damals versehentlich nicht korrigiert. Eine Erklärung, sie habe eine sichere Erinnerung daran, am 21. Januar 2009 das angegriffene Urteil verkündet zu haben, enthält das Anschreiben nicht.
26

In einem weiteren Anhörungsschreiben vom 14. Oktober 2010 hat die Richterin den Parteien mitgeteilt, eine vom Kläger beantragte weitere Protokollberichtigung sei nicht beabsichtigt, da die Verkündung am 21. Januar 2009 stattgefunden habe und auch öffentlich gewesen sei; der von der Geschäftsstelle vorgelegte Entwurf habe fälschlicherweise den Namen der Kollegin C enthalten, da diese im Jahr 2008 Berichterstatterin gewesen sei, während im Jahr 2009 sie selbst die für die Verkündung zuständige Gerichtsperson gewesen sei. Auch dieses Anschreiben enthält nicht die Erklärung, dass bzw. weshalb sich die Richterin sicher erinnere, am 21. Januar 2009 das angegriffene Urteil verkündet zu haben, sondern lediglich Angaben dazu, weshalb ein Protokollfehler plausibel sei. Dies genügt den dargelegten Anforderungen nicht. Denn die erforderliche sichere Erinnerung kann nicht durch Plausibilitätserwägungen ersetzt werden, auch nicht durch die „ganz allgemeine Vermutung, dass das Gericht die Befolgung einer wesentlichen Gesetzesvorschrift nicht übersehen und unterlassen haben werde“ (vgl. Reichsgericht, Urteil vom 11. März 1915, JW 1915, S. 592; dazu, dass die Ersetzung einer sicheren Erinnerung durch Schlussfolgerungen im Sinne des Plausiblen und Üblichen auch seitens der Gerichtsperson selbst psychologisch nahe liegt, vgl. bereits die Stellungnahme des Ober-Reichsanwalts in dem Beschluss des Reichsgerichts vom 13. Oktober 1909, RGSt 43, S. 1, 3).
27

In einer dienstlichen Erklärung vom 13. Juli 2011 hat die Richterin hinsichtlich ihrer Mitwirkung im vorliegenden Rechtsstreit auf die Akten verwiesen und erklärt, etwaiges weiteres sei ihr aufgrund des Zeitablaufs nicht mehr erinnerlich.
28

(b) Richterin am Landgericht D hat für ihre Entscheidung, das Verkündungsprotokoll vom 21. Januar 2009 zu berichtigen, auch keine eine entsprechende Erinnerung belegenden Tatsachen angegeben.
29

(c) Ferner enthält die Entscheidung über die Protokollberichtigung keine auf das er-widernde Vorbringen des Klägers eingehende Begründung.
30

(d) Schließlich ist Richterin am Landgericht D in dem Protokollberichtigungsverfahren nach erheblichen Verstößen gegen die Verfahrensgrundrechte des Klägers erfolgreich wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt worden. In dem hierzu vom Senat in dem Beschwerdeverfahren … erlassenen Beschluss vom 8. Februar 2012 heißt es unter anderem:
31

[Von der Darstellung des Beschlusses wird abgesehen – die Red.]
32

Hiernach hat Richterin am Landgericht D den Berichtigungsvermerk vom 26. Mai 2010 nicht als gesetzliche Richterin im Sinne des Art. 101 Abs. 1 GG erstellt.
33

(6) (a) Die Einhaltung der unter (2) genannten Verfahrensanforderungen ist vom Senat im Berufungsverfahren zu überprüfen: Zum einen hat der Kläger die Berichtigung des Verkündungsprotokolls gerügt; zum anderen ist das Fehlen einer wirksamen Urteilsverkündung ein im Sinne des § 295 Abs. 2 ZPO unheilbarer, von Amts wegen zu berücksichtigender Verfahrensmangel. Daher ist nach den vom Großen Strafsenat des Bundesgerichtshofs entwickelten und vom Bundesverfassungsgericht bestätigten Grundsätzen auch das Protokollberichtigungsverfahren in der Berufung zu überprüfen.
34

(b) Die unter (5) geschilderten Mängel des Protokollberichtigungsverfahrens wiegen so schwer, dass der Berichtigungsvermerk vom 26. Mai 2010, mit dem das Verkündungsprotokoll vom 21. Januar 2009 berichtigt wurde, keine Wirksamkeit entfalten kann. Andernfalls würden die im Protokollberichtigungsverfahren geschehenen Grundrechtsverletzungen im vorliegenden Berufungsverfahren perpetuiert.
35

(c) Da der Berichtigungsvermerk vom 26. Mai 2010 unbeachtlich ist, verbleibt es bei der unter (a) geschilderten Unstimmigkeit des Verkündungsprotokolls vom 21. Januar 2009. Aufgrund dieser Unstimmigkeit entfaltet das Protokoll insoweit keine Beweiskraft.
36

dd. Eine Verkündung des angegriffenen Urteils kann auch nicht auf andere Weise festgestellt werden.
37

(1) Gemäß § 165 Satz 1 ZPO kann die Verkündung eines Urteils nur durch das Protokoll bewiesen werden; andere Beweismittel sind ausgeschlossen (vgl. Stein/ Jonas/Roth, ZPO, 22. Auflage 2005, § 165 Rn. 12).
38

(2) In dem bereits erwähnten Urteil vom 12. Februar 1958 (NJW 1958, S. 711 f., 712 [BGH 12.02.1958 – V ZR 12/57]) hat es der Bundesgerichtshof für möglich gehalten, ein offensichtlich lückenhaftes Protokoll auszulegen und dabei andere verfügbare Erkenntnisquellen freibeweislich heranzuziehen.
39

(a) Ein solcher Fall liegt hier nicht vor. Das Verkündungsprotokoll vom 21. Januar 2009 weist keine offensichtliche Lücke auf; insbesondere fehlt darin keine die Verkündung betreffende Angabe. Das Protokoll ist insoweit vollständig.
40

(b) Zudem erging das vorgenannte Urteil des Bundesgerichtshofs zu einer Zeit, als die Zivilprozessordnung eine Protokollberichtigung noch nicht vorsah. § 164 wurde – wie unter cc. (4) (c) ausgeführt – erst durch das Gesetz zur Entlastung der Land-gerichte und zur Vereinfachung des Protokolls vom 20. Dezember 1974 in die ZPO eingefügt. Nach Einführung der Protokollberichtigung dürfte eine – ohnehin mit dem Wortlaut des § 165 Satz 1 ZPO unvereinbare – freibeweisliche Aufklärung der für die Verhandlung vorgeschriebenen Förmlichkeiten grundsätzlich ausgeschlossen sein (vgl. Bundesgerichtshof, Beschluss vom 22. Dezember 2010, StV 2011, S. 267 ff., juris Rn. 11 zur Protokollberichtigung im Strafprozess; zu den früheren Versuchen, die als unbefriedigend empfundene strenge Bindung an das Protokoll im Strafprozess durch freibeweisliche Aufklärung im Rahmen einer Auslegung zu umgehen, vgl. RG, Urteil vom 19. Mai 1931, JW 1932, S. 421 mit Anmerkung von Löwenstein, der ein solches Vorgehen angesichts der klaren Entscheidung des Gesetzgebers als „abwegig und unhaltbar“ bezeichnete).
41

(3) Wollte man gleichwohl annehmen, eine freibeweisliche Aufklärung wesentlicher Verfahrensförmlichkeiten komme selbst in Fällen in Betracht, in denen das Protokoll nicht – wie in dem vom Bundesgerichtshof entschiedenen Fall – offensichtlich lückenhaft, sondern – wie hier – inhaltlich unstimmig ist (so etwa MünchKommZPO/Walter, 3. Auflage 2008, § 165 ZPO Rn. 14; Musielak/Stadler, ZPO, 9. Auflage 2012, § 165 Rn. 5), müsste ein solches Beweisverfahren jedenfalls den unter cc. (2) genannten Anforderungen genügen; andernfalls würden die verfassungsrechtlich gebotenen Verfahrenssicherungen unterlaufen.
42

Eine verfassungsrechtlichen Anforderungen genügende freibeweisliche Aufklärung der Verkündung des angegriffenen Urteils ist aus den unter cc. ausgeführten Gründen nicht möglich:
43

(a) Auf Erklärungen, die Richterin am Landgericht D abgegeben hat, bevor sie vom Kläger erfolgreich wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt wurde, kann eine Überzeugungsbildung nicht gestützt werden, weil diese Erklärungen nicht erkennen lassen, dass sie auf einer sicheren Erinnerung der Richterin beruhen (vgl. oben cc. (5) (a) bis (c)).
44

(b) Erklärungen, die Richterin am Landgericht D abgegeben hat, nachdem sie vom Kläger wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt wurde, können einer Überzeugungsbildung auch deshalb nicht zugrunde gelegt werden, weil hierdurch die im Protokollberichtigungsverfahren erfolgte Verletzung der Verfahrensgrundrechte des Klägers perpetuiert würde (vgl. oben cc. (5) (d)).
45

(c) Andere Beweismittel stehen nicht zur Verfügung. Insbesondere ließe eine etwaige Erklärung von Richterin am Landgericht C, sie sei bei dem Verkündungstermin vom 21. Januar 2009 nicht zugegen gewesen, keinen im Sinne des § 286 Abs. 1 ZPO beweiskräftigen Schluss darauf zu, dass das angegriffene Urteil von Richterin am Landgericht D verkündet wurde.
46

ee. Kann nach allem eine Verkündung des angegriffenen Urteils nicht festgestellt werden, so ist vom Fehlen einer Verkündung auszugehen.
47

b. Als Folge der Nichtverkündung muss der Senat die Nichtexistenz eines erstinstanzlichen Urteils durch Aufhebung des den Parteien zugegangenen Scheinurteils klarstellen und die Sache an das erstinstanzliche Gericht zwecks Beendigung des noch nicht abgeschlossenen Verfahrens zurückverweisen (vgl. Bundesgerichtshof, Beschluss vom 3. November 1994, NJW 1995, S. 404 [BGH 03.11.1994 – LwZB 5/94]). Eines Antrags auf Zurückverweisung bedarf es insoweit nicht.
48

c. Im Hinblick auf das Vorstehende war die nochmalige Gewährung eines Schriftsatz-nachlasses an den Kläger nicht geboten.
49

2. Für das weitere Verfahren weist der Senat auf Folgendes hin:
50

[Von der Darstellung der weiteren Ausführungen wird abgesehen – die Red.]
51

II. 1. Die Kostenentscheidung war dem Landgericht vorzubehalten, da der endgültige Erfolg der Berufung erst nach der abschließenden Entscheidung beurteilt werden kann (vgl. Oberlandesgericht München, Urteil vom 29. April 2011, 10 U 3984/10, juris Rn. 19 mit weiteren Nachweisen).
52

2. Gerichtsgebühren für die Berufungsinstanz sowie gerichtliche Gebühren und Aus-lagen, die durch das aufgehobene Urteil verursacht worden sind, werden gemäß § 21 Abs. 1 Satz 1 GKG nicht erhoben, weil sie bei richtiger Behandlung der Sache nicht entstanden wären.
53

III. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 708 Nr. 10 ZPO. Auch im Falle einer Aufhebung und Zurückverweisung ist im Hinblick auf die §§ 775 Nr. 1, 776 ZPO ein Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit geboten (vgl. Bundesgerichtshof, Urteil vom 24. November 1976, BGH JZ 1977, S. 232, 233 [BGH 24.11.1976 – IV ZR 3/75], juris Rn. 28; Oberlandesgericht München, Urteil vom 29. April 2011, 10 U 3984/10, juris Rn. 22 mit weiteren Nachweisen), allerdings ohne Abwendungsbefugnis (vgl. Oberlandes-gericht München, a. a. O.).
54

IV. Die Revision war nicht zuzulassen. Die Rechtssache hat keine grundsätzliche Bedeutung. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Beschluss vom 15. Januar 2009 (NJW 2009, S. 1469 ff. [BVerfG 15.01.2009 – 2 BvR 2044/07]) die aus den Geboten des effektiven Rechtsschutzes und der Verfahrensfairness folgenden verfahrensrechtlichen Anforderungen an eine rüge-vernichtende Protokollberichtigung bereits geklärt. Der Senat hatte die vom Bundes-verfassungsgericht hierzu entwickelten Grundsätze lediglich auf den vorliegenden Fall anzuwenden. Unter diesen Umständen erfordern auch die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts nicht, § 543 Abs. 2 ZPO.

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