OLG Frankfurt am Main, 25.04.2017 – 10 U 173/15

März 20, 2019

OLG Frankfurt am Main, 25.04.2017 – 10 U 173/15
Leitsatz:

Haftung und Mitverschulden, wenn ein flüchtender Schwarzfahrer einen Dritten verletzt, der ihn aufzuhalten versucht
Tenor:

Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Landgerichts Gießen vom 18.08.2015 – Az.: 2 O 190/15 – teilweise abgeändert.

Der Beklagte wird verurteilt, an den Kläger ein Schmerzensgeld von 5.000,00 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 01.02.2015 zu zahlen.

Es wird festgestellt, dass der Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger ein Drittel seines zukünftigen materiellen Schadens zu ersetzen, der ihm aus dem Unfall vom 28.8.2014 entstehen wird, soweit diese Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder andere Dritte übergehen.

Der Beklagte wird weiterhin verurteilt, an den Kläger 492,54 € zu zahlen.

Im Übrigen bleibt die Klage abgewiesen.

Die weitergehende Berufung wird zurückgewiesen.

Von den Kosten des Rechtsstreits haben der Kläger 70 % und der Beklagte 30 % zu tragen.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe

I.

Der Kläger hat von dem Beklagten Schadensersatz wegen Körperverletzung verlangt.

Der Beklagte war am 28.8.2014 von dem Polizeioberkommissar A in einem Zug von Stadt1 Hauptbahnhof nach Stadt2 Hauptbahnhof vorläufig festgenommen worden, weil er keine Fahrkarte vorweisen und sich nicht zu seiner Person ausweisen konnte. Im Hauptbahnhof Stadt2 führte der Polizeibeamte den Beklagten in Richtung der dortigen Wachstation der Bundespolizei. Kurz vor Erreichen der Wachstation riss sich der Beklagte los und rannte den Bahnsteig entlang davon. Der Kläger, der ebenfalls Fahrgast des Zuges gewesen war, stand etwa einen Meter von der Bahnsteigkante entfernt. Als er den Beklagten heranlaufen sah, stellte er sich ihm in den Weg. Dadurch kam es zu einem Zusammenstoß beider, wodurch sie über die Bahnsteigkante in das Gleisbett stürzten. Der Kläger erlitt dabei erhebliche Verletzungen.

Mit der Klage hat der Kläger ein angemessenes Schmerzensgeld, mindestens jedoch 15.000 €, ferner die Feststellung der Schadensersatzpflicht des Beklagten sowie die Erstattung vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten verlangt.

Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Die Verletzung sei dem Beklagten bereits in objektiver Hinsicht nicht zurechenbar. Nach den Maßstäben für die sog. Verfolgungsfälle fehle es daran, dass der Kläger sich zu seinem Verhalten herausgefordert fühlen durfte. Wesentlicher Gradmesser für die Überbürdung des Risikos der Verletzung des Verfolgers auf den Herausforderer sei eine angemessene Mittel-Zweck-Relation. Sei dabei die Verhältnismäßigkeit nicht gewahrt, so falle eine Körperverletzung desjenigen, der – wie hier der Kläger – eine Selbstgefährdung vornehme, nicht mehr in den Schutzbereich der Haftungsnorm. Insbesondere sei das Verhalten des Klägers nicht durch das Jedermann-Festnahmerecht (§ 127 StPO) gedeckt gewesen. Der Beklagte sei durch den Polizeibeamten A bereits festgenommen gewesen. Abgesehen davon scheitere eine angemessene Mittel-Zweck-Relation auch daran, dass die vom Kläger verursachte Gefahr für Leib und Leben beider Beteiligten zu dem allenfalls in Betracht kommenden Vergehen des Beklagten völlig außer Verhältnis gestanden habe. Aufgrund des schnellen Laufs des Beklagten und der „Rugby-Bewegung“ des Klägers habe erkennbar die naheliegende Gefahr der späteren Entwicklung bestanden, die ohne weiteres für beide hätte tödlich enden können. Eine zusätzliche Einordnung des Verhaltens des Beklagten unter § 113 StGB ändere an dieser Bewertung nichts. Schließlich habe der Beklagte die Verletzung des Klägers auch nicht verschuldet. Der Beklagte habe nicht einmal fahrlässig gehandelt. So sei nicht vorhersehbar gewesen, dass sich der Kläger ihm in der genannten Weise in den Weg stellen würde. Wegen des Sach- und Streitstandes in erster Instanz, der vom Landgericht festgestellten Tatsachen sowie der Begründung im Einzelnen wird auf die angefochtene Entscheidung verwiesen (Bl. 102-108 d.A.).

Gegen das am 21.09. 2015 zugestellte Urteil hat der Kläger am 30.09.2015 Berufung eingelegt und das Rechtsmittel am 14.10.2015 begründet. Der Kläger hält an seiner Ansicht fest, dass sein Verhalten, sich dem Beklagten in den Weg zu stellen, durch § 127 Abs. 1 StPO gedeckt gewesen sei. Sein Festnahmerecht scheitere nicht daran, dass der Beklagte bereits von dem Polizeibeamten A festgenommen worden war. Indem sich der Beklagte dem Polizeibeamten entrissen habe, habe er den Tatbestand des § 113 Abs. 1 S. 1 StGB verwirklicht. Dieser Fluchtversuch stelle eine Zäsur gegenüber dem vorherigen Geschehen dar und damit eine neue „frische Tat“ i.S.d. § 127 Abs. 1 StPO. Der Beklagte habe ferner vorsätzlich gehandelt, indem er mit großer Wucht auf ihn (Kläger) zu gerannt sei, so dass er mit ihm zusammengeprallt sei und beide in die Rückhalteeinrichtungen des Gleisbetts gefallen seien. Der Beklagte habe es billigend in Kauf genommen, mit ihm (Kläger) zusammenzuprallen und ihn dabei zu verletzen. Der Beklagte habe ihn erwiesenermaßen vor dem Zusammenprall gesehen. Während das Landgericht eine angemessene Mittel-Zweck-Relation verneint habe, sei es so, dass nicht er, sondern der Beklagte eine Gefahr für Leib und Leben verursacht habe. Er (Kläger) habe den weiteren Geschehensverlauf in keiner Weise vorhersehen können. Das Landgericht habe in seinen Tatsachenfeststellungen außer Acht gelassen, dass er den Beklagten nur habe fassen wollen.

Der Kläger beantragt,

1.

unter Abänderung des am 18.08.2015 verkündeten Urteils des Landgerichts Gießen, Az.: 2 O 190/15,
a)

den Beklagten zu verurteilen, an ihn ein angemessenes Schmerzensgeld, mindestens jedoch 15.000,00 € nebst Zinsen in Höhe von 5 %-Punkten über dem Basiszinssatz seit dem 01.02.2015 zu zahlen;
b)

festzustellen, dass der Beklagte verpflichtet ist, ihm sämtlichen zukünftigen materiellen und immateriellen Schaden zu ersetzen, der ihm aus dem Unfall vom 28.8.2014 entstehen wird, soweit diese Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder andere Dritte übergeben;
c)

der Beklagten weiterhin zu verurteilen, seine vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten in Höhe von 1.184,05 € zu zahlen;
2.

hilfsweise, den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landgericht zurückzuverweisen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen

Er verteidigt die angefochtene Entscheidung. Er habe keinesfalls erwartet und auch nicht erwarten müssen, dass der Kläger ihn auf solch halsbrecherische Art und Weise rammen, in das Gleisbett hineinreißen und sämtliche unmittelbar beteiligten Personen in konkrete Lebensgefahr bringen würde. Der Kläger beschreibe ihn zutreffend als großen, kräftigen Mann, der schnell die Bahnsteigkante entlang gerannt sei. Der Kläger habe davon ausgehen müssen, dass es ihm (Beklagtem) nicht möglich gewesen sei, auszuweichen oder seine Geschwindigkeit zu reduzieren. Das Geschehen habe sich nach den Angaben des Klägers nur ca. einen Meter von der Bahnsteigkante entfernt ereignet, so dass der Kläger mit dem Eintritt des schädlichen Ereignisses unbedingt habe rechnen müssen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Parteivortrags wird auf die gewechselten Schriftsätze Bezug genommen.

II.

Die Berufung ist zulässig, insbesondere form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden.

In der Sache hat das Rechtsmittel teilweise Erfolg.

Dem Kläger steht ein Schadensersatzanspruch gemäß § 823 Abs. 1 BGB zu. Der Beklagte hat dem Kläger Körperverletzungen zugefügt. Das Verhalten des Beklagten war für die Körperverletzungen ursächlich. Der Beklagte ist, als er dem Polizeibeamten weglief, mit dem Kläger zusammengestoßen. Dadurch verlor der Kläger den Halt und beide stürzten

Die Ursächlichkeit entfällt nicht dadurch, dass der Kläger sich in die Laufrichtung des Beklagten bewegte, um diesen aufzuhalten. Dies beruhte zwar auf einem Willensentschluss des Klägers. Das eigene willentliche Verhalten des Geschädigten, das eine Ursache für dem Eintritt des Schadens gesetzt hat, ist indes grundsätzlich nur unter dem Gesichtspunkt des Mitverschuldens (§ 254 Abs. 1 BGB) zu berücksichtigen (vgl. OLG Jena, NZV 1999, 331, 332 [OLG Jena 04.02.1999 – 1 U 425/98]; OLG Düsseldorf NJW-RR 1999, 1188 [OLG Düsseldorf 15.01.1999 – 22 U 137/98]; Oetker in Münchener Kommentar zum BGB, 7. Aufl., § 249 Rdn. 169; Staudinger/Schiemann, BGB, Neubearb. 2017, § 254 Rdn. 58). So liegt es beispielsweise bei der Fallgruppe des Handelns auf eigene Gefahr, bei der sich der Geschädigte bewusst einer erkennbar gefährlichen Situation aussetzt (dazu BGH NJW-RR 1995, 857, 858 [BGH 21.02.1995 – VI ZR 19/94] m. Anm. Schiemann in LM § 823 (Aa) BGB Nr. 160; Soergel/Ekkenga/Kuntz, BGB, 13. Aufl., § 254 Rdn. 68 ff.; Palandt/Grüneberg, BGB, 76. Aufl., § 254 Rdn. 32 ff.). Das Verhalten des Geschädigten ist dem (Mit-)Verursacher nur dann nicht zuzurechnen, wenn es zu einer rechtlich relevanten Unterbrechung des Kausalverlaufs führt (Oetker a. a. O.). Das kommt jedoch nur in Betracht, sofern das schadensursächliche Verhalten des Geschädigten der Handlung des anderen Teils nachfolgt und die an sich äquivalente und adäquate Erstursache in den Hintergrund treten lässt (siehe dazu etwa BGH NJW 2012, 3165, 3170 [BGH 14.06.2012 – IX ZR 145/11] Tz. 48; Soergel/Ekkenga/Kuntz, Vor § 249 Rdn. 160. Vorliegend ging der schadensverursachende Tatbeitrag des Klägers jedoch dem Tatbeitrag des Beklagten voraus oder erfolgte zeitgleich mit diesem (zur Unmaßgeblichkeit der zeitlichen Reihenfolge der Mitwirkungsbeiträge siehe Staudinger/Schiemann § 254 Rdn. 37).

Der Beklagte handelte fahrlässig. Er konnte voraussehen, dass sich andere Personen auf dem Bahnsteig ihm in den Weg stellen würden, um ihn aufzuhalten. Für den Beklagten war abzusehen, dass zumindest ein Teil dieser Personen, wie auch der Kläger, in dem Zug mitbekommen hatten, dass er (Beklagter) „schwarz gefahren“ und deshalb von dem Polizeibeamten vorläufig fest genommen worden war. Keinesfalls konnte der Beklagte davon ausgehen, dass die anderen Personen auf dem Bahnsteig ihm den Fluchtweg freihalten würden, schon gar nicht aus der Erwägung, bei der Schwarzfahrt handele es sich nur um einen geringfügigen Verstoß. Vielmehr musste der Beklagte ohne weiteres erkennen, dass jedenfalls ein Teil der übrigen Fahrgäste über ihn als „Schwarzfahrer“ verärgert und daran interessiert waren, dass er dafür zur Verantwortung gezogen wird.

Den Kläger trifft jedoch ein erhebliches Mitverschulden (§ 254 Abs. 1 BGB). Er musste seinerseits damit rechnen, dass der Beklagte nicht mehr auf seine (des Klägers) Bewegung reagieren würde oder reagieren konnte und es deshalb zu einem heftigen Aufprall des Beklagten auf seinen (des Klägers) Körper kommen würde. Dabei konnte der Kläger nicht einmal ausschließen, dass der Aufprall so heftig sein würde, dass er vom Bahnsteig in das Gleisbett gestoßen würde. Das Mitverschulden des Klägers ist jedoch nicht so groß, dass dadurch die Haftung des Beklagten insgesamt entfiele. Dem Kläger kann dabei nicht vorgehalten werden, dass er sich als Privatmann nicht an der Verfolgung des Beklagten hätte beteiligen dürfen. Zwar trifft es zu, dass für die Verfolgung des Delikts die Polizeibehörden, namentlich die anwesenden Polizeibeamten zuständig waren. Daraus kann jedoch nur hergeleitet werden, dass der Kläger nicht verpflichtet war, sich in die Verfolgung des Beklagten einzuschalten. Ebenso ist nicht maßgeblich, ob das Verhalten des Klägers durch das Festnahmerecht des § 127 StPO gerechtfertigt war. Das Festnahmerecht ist für die Frage von Bedeutung, ob der Kläger für Schäden haftet, die er dem Beklagten zugefügt hat. Das Mitverschulden des Klägers beurteilt sich dagegen allein nach der Abwägung, ob es angemessen war, sich wegen des konkreten Vorfalls, der Schwarzfahrt, dem Risiko einer nicht unerheblichen Körperverletzung auszusetzen. Dabei ist dem Kläger zugute zu halten, dass er spontan reagierte und kaum Überlegungszeit hatte, die Schwere des verfolgten Delikts und den genauen Umfang des Risikos gegeneinander abzuwägen. Wenn er dies auch nicht ausschließen konnten, so drängte es sich aus der persönlichen Sicht des Klägers trotz der erheblichen Körpermasse des Beklagten und dessen Laufgeschwindigkeit auch nicht auf, dass er (Kläger) durch den Aufprall in das Gleisbett gestoßen werden und erhebliche Verletzungen erleiden würde. Andererseits musste der Kläger vor seinem Handeln erkennen, dass er die Risiken in der Kürze der Zeit nur unzureichend beurteilen konnte und sein Eingreifen nicht zwingend notwendig war, da sich bereits Polizeibeamte um die Verfolgung des Beklagten kümmerten. Insgesamt erscheint es deshalb sachgerecht, dass der Kläger zwei Drittel seines Schadens selbst zu tragen hat (siehe auch OLG Jena a. a. O.; Oetker a. a. O., § 254 Rdn. 49).

Bezüglich der Höhe des Schmerzensgeldes ist der vom Kläger für den Fall, dass der Beklagte alleine haftet, erstrebte Betrag von 15.000,00 € angesichts der erlittenen Verletzungen angemessen. Wegen des erheblichen eigenen Mitverschuldens ist dieser Betrag jedoch auf 5.000,00 € zu reduzieren.

Der Beklagte ist ferner verpflichtet, dem Kläger ein Drittel seiner zukünftigen materiellen Schäden zu ersetzen. Dagegen besteht ein Anspruch auf Ersatz der künftigen immateriellen Schäden nicht. Diese sind vielmehr durch das Schmerzensgeld abgegolten. Dabei sind auch mögliche zukünftige immaterielle Folgen wie ein erhöhtes Meningitis-Risiko eingeschlossen. Eine Ersatzpflicht für weitere immaterielle Schäden ist nur dann festzustellen, wenn die Möglichkeit besteht, dass künftig weitere, bisher noch nicht erkannte und nicht voraussehbare Leiden auftreten (BGH NJW 2001, 3414; Palandt/Grüneberg, § 253 Rn. 25). Für diese Voraussetzung ist jedoch nichts ersichtlich.

Zum Schaden des Klägers gehören auch die Kosten für die vorgerichtliche Beauftragung eines Rechtsanwalts. Diese sind jedoch nur aus einem Streitwert von 5.000,00 € zu berechnen. Dies sind 1,3 Gebühr gem. Nr. 2300 VV RVG (393,90 €), Pauschale gem. Nr. 7002 VV RVG (20,00 €) sowie 19 % MWSt. gem. Nr. 7008 VV RVG, insgesamt 492,54 €.

Soweit die Berufung danach teilweise zurückzuweisen ist, liegen auch die Voraussetzungen für die hilfsweise beantragte Zurückverweisung (§ 538 Abs. 2 ZPO) nicht vor.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 92 Abs. 1 ZPO. Dabei sind dem Kläger 70 % der Kosten aufzuerlegen, weil er mit dem Anspruch auf Schmerzensgeld und dem Antrag auf Feststellung der Ersatzpflicht bezüglich der materiellen Schäden zu zwei Dritteln obsiegt und mit dem Antrag auf Feststellung der Ersatzpflicht bezüglich der immateriellen Schäden insgesamt unterliegt.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus §§ 708 Nr. 10, 713 ZPO.

Die Revision ist nicht gemäß § 543 ZPO zuzulassen, weil die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung hat und weder die Fortbildung des Rechts noch die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts erfordert.

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