OLG Frankfurt am Main, 31.01.2017 – 8 U 155/16

März 20, 2019

OLG Frankfurt am Main, 31.01.2017 – 8 U 155/16
Tenor:

Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil der 4. Zivilkammer des Landgerichts Frankfurt am Main teilweise abgeändert und wie folgt neu gefasst:

1.

Die Beklagten zu 1. – 5. werden als Gesamtschuldner verurteilt, an den Kläger 560.000.- € nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 22.2.2008 zu zahlen.

Die Beklagten zu 1., 2. 3. und 4. werden darüber hinaus als Gesamtschuldner verurteilt, an den Kläger aus dem Betrag von 560.000.- € Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 8.2.2002 bis zum 21.2.2008 zu zahlen.

Die Beklagten zu 1., 3. und 4. werden des Weiteren als Gesamtschuldner verurteilt, an den Kläger aus dem Betrag von 560.000.- € Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz für den 7.2.2008 zu zahlen.

Die Beklagte zu 1. wird ferner verurteilt, an den Kläger aus dem Betrag von 560.000.- € Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz für den 6.2.2008 zu zahlen.
2.

Es wird festgestellt, dass die Beklagten zu 1. – 5. als Gesamtschuldner verpflichtet sind, dem Kläger alle gegenwärtigen und zukünftigen materiellen Schäden sowie alle zukünftigen immateriellen Schäden, die noch nicht eingetreten sind und mit deren Eintritt nicht oder nicht ernstlich zu rechnen ist, aus den Behandlungen vom 17. und 18.8.2002 vorbehaltlich eines gesetzlichen Forderungsübergangs zu ersetzen.
3.

Die Beklagten zu 1. – 5. werden als Gesamtschuldner verurteilt, an den Kläger 4.476,07 € außergerichtliche Rechtsanwaltskosten inklusive Umsatzsteuer nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 6.2.2008 zu zahlen.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Die weitergehende Berufung wird zurückgewiesen.

Die Kosten erster Instanz werden wie folgt verteilt:

Von den Gerichtskosten und den außergerichtlichen Kosten des Klägers haben der Kläger 28,24% und die Beklagten zu 1. – 5. als Gesamtschuldner 71,76% zu tragen. Der Kläger hat die außergerichtlichen Kosten des Beklagten zu 6. des ersten Rechtszuges und 11,58% der außergerichtlichen Kosten der Beklagten zu 1. – 5. zu tragen. Im Übrigen tragen die Beklagten zu 1. – 5. ihre außergerichtlichen Kosten selbst.

Von den Kosten des Berufungsverfahrens tragen die Beklagten als Gesamtschuldner 64,5%, der Kläger 33,5%.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Der jeweilige Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 120% des auf Grund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 120% des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Der Streitwert für den zweiten Rechtszug beträgt 210.000.- €.

Gründe

I.

Der Kläger hat die Beklagten im ersten Rechtszug mit der Behauptung grober ärztlicher Behandlungsfehler auf Zahlung eines Schmerzensgeldes, dessen Mindestbetrag er mit 350.000.- €, sodann mit 500.000.- €, angegeben hat, sowie auf Feststellung der Verpflichtung der Beklagten zum Ersatz entstandener und künftiger materieller Schäden und künftiger immaterieller Schäden in Anspruch genommen.

Der im Jahre 198x geborene Kläger wurde am Morgen des …8.2002 gegen … Uhr am … in der Nähe seines Fahrrades liegend von einem Passanten aufgefunden; er wurde mit einem Rettungswagen in das A-Krankenhaus in Stadt1 dessen Trägerin die Beklagte zu 1. ist, verbracht. Der Kläger war stark alkoholisiert und hatte ein Schädelhirntrauma erlitten, das von den Beklagten zu 2. – 5., angestellten Ärzten der Beklagten zu 1., nicht erkannt wurde. Am 18.8.2002 gegen 18.30 Uhr wurde eine Verschlechterung des Gesundheitszustands und des neurologischen Status des Klägers festgestellt. Anhand einer daraufhin in einer anderen Klinik der Beklagten zu 1. erstellten cranialen Computertomographie wurden ein Schädelhirntrauma mit Blutung im Frontalhirn und Blutungen in beiden Marklagern diagnostiziert; der Kläger wurde in die neurochirurgische Klinik des B-Klinikums in Stadt1 verlegt. Im Verlauf der dort durchgeführten Operation stellten die Ärzte eine mehrfragmentäre Schädelkalottenfraktur fest; sie diagnostizierten ein Schädelhirntrauma mit bifrontalen Kontusionsblutungen, generalisiertem Hirnödem, traumatischer SAB (Subarachnoidalblutung) und Hydrocephalus internus.

Der Kläger leidet unter schwersten körperlichen und gesundheitlichen Dauerschäden, wie sie in den erstinstanzlich erstatteten Gutachten des Sachverständigen SV1 vom 24.1.2014 (GA S. 22, 23) und vom 16.3.2015 (GA S.11- 14) sowie in den ärztlichen Berichten der Fachärzte für Allgemeinmedizin vom 6.5.2008 (C) und vom 12.10.2016 (D) geschildert worden sind.

Die Parteien haben die in dem Urteil des Landgerichts wiedergegebenen Anträge gestellt.

Das Landgericht hat die Beklagten durch Urteil vom 29.6.2016 als Gesamtschuldner verurteilt, an den Kläger ein Schmerzensgeld in Höhe von 560.000.- € nebst gesetzlicher Zinsen seit dem 24.5.2005 zu zahlen; es hat die Feststellung getroffen, dass die Beklagten dem Kläger gesamtschuldnerisch haftend zum Ersatz gegenwärtiger und künftiger materieller Schäden sowie künftiger immaterieller Schäden aus Schadensereignissen vom 17. und 18.8.2002 verpflichtet seien. Des Weiteren sind die Beklagten als Gesamtschuldner zur Erstattung vorgerichtlicher Anwaltskosten verurteilt worden. Auf die tatsächlichen Feststellungen in dem angefochtenen Urteil, auch auf das Ergebnis des vom Landgericht angeordneten Beweises durch Sachverständige, hier insbesondere auf die schriftlich und mündlich erstatteten Gutachten der Sachverständigen SV2 und SV1, wird Bezug genommen.

Die Beklagten wenden sich mit ihren Berufungen gegen die Höhe des ausgeurteilten Schmerzensgeldes und gegen den vom Landgericht angenommenen Beginn der Zinspflicht; sie machen des Weiteren geltend, der Feststellungsausspruch sei zu weit gefasst.

Die Beklagten beanstanden, das Landgericht habe nicht alle für die Schmerzensgeldbemessung maßgebliche Umstände einbezogen; es habe nur auf die schwere Schädigung des Klägers abgestellt und sich auch nicht an von der Rechtsprechung in vergleichbaren Fällen zuerkannten Schmerzensgeldbeträgen orientiert. Ein Betrag in der Größenordnung von 500.000.- € werde nur Neugeborenen zuerkannt, die infolge eines Geburtsschadens lebenslang vollständig hilfsbedürftig seien. Der zur Zeit des Schadensereignisses 2x Jahre alte Kläger könne auf dieser Grundlage ein Schmerzensgeld in Höhe von 350.000.- € beanspruchen.

Ein Beginn der Verzinsung des Schmerzensgeldanspruchs ab dem 24.5.2005, wie vom Landgericht erkannt, sei nicht nachvollziehbar.

Der Feststellungsausspruch sei auf Verletzungsfolgen einzuschränken, die zum Beurteilungszeitpunkt noch nicht eingetreten seien und deren Eintritt objektiv nicht vorhersehbar sei.

Die Beklagten beantragen,

1.

das Urteil des Landgerichts Frankfurt am Main vom 29.6.2016, Az.: 2- 4 O 467/07 wird abgeändert;
2.

die Beklagten zu 1. – 5. werden als Gesamtschuldner verurteilt, an den Kläger 350.000.- € nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen;
3.

Es wird festgestellt, dass die Beklagten zu 1. – 5. gesamtschuldnerisch verpflichtet sind, dem Kläger alle gegenwärtigen und zukünftigen materiellen Schäden sowie alle zukünftigen nicht vorhersehbaren immateriellen Schäden aus der Behandlung vom 17. und 18.8.2002 zu ersetzen, soweit die Ansprüche nicht auf Versicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind oder noch übergehen werden.
4.

Die Beklagten zu 1. – 5. werden als Gesamtschuldner verurteilt, an den Kläger 4.476,07 € außergerichtliche Rechtsanwaltskosten inklusive Umsatzsteuer nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 6.2.2008 zu zahlen.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung der Beklagten zu 1. – 5. zurückzuweisen.

Der Kläger verteidigt das angefochtene Urteil.

Der Kläger verweist auf die erstinstanzlich erstatteten Gutachten des SV1 vom 24.1.2014 und 16.3.2015 sowie auf die mündlichen Gutachtenerläuterungen in der Sitzung des Landgerichts am 11.5.2016, des Weiteren auf das Gutachten des SV2 vom 13.4.2004 nebst Ergänzung vom 7.5.2011. Er leide unter seinem durch Fehlbehandlungen verursachten Zustand. Seit der fehlerhaften Behandlung durch die Beklagten habe er sich zahlreichen Folgeoperationen unterziehen müssen.

Hinsichtlich seines aktuellen Zustandes nimmt der Kläger Bezug auf den Bericht des Facharztes für Allgemeinmedizin D vom 12.10.2016. Dieser Bericht zeige, dass eine Besserung gegenüber den Feststellungen der Ärztinnen C (6.5.2008) und Dr. E (3.2.2015) nicht eingetreten sei.

Zu erwarten seien weitere Schmerzen und Kontrakturen der Gelenke infolge der vorhandenen Tetraspastik, eine Steigerung des Leidensdruckes und der Depressionen, Probleme der Wirbelsäule, Osteoporose und Arthrose.

Auch das Maß des Verschuldens müsse bei der Schmerzensgeldbemessung eine Rolle spielen, ferner die verzögerte Schadensregulierung.

Die Aufforderung seiner früheren Bevollmächtigten, Rechtsanwältin RA1, zur Abgabe eines Haftungsanerkenntnisses beziehe sich auch auf die Zahlung eines Schmerzensgeldes. Überdies habe der Haftpflichtversicherer der Beklagten zu 1. mit Schreiben vom 7.2.2007 eine Regulierung ausdrücklich abgelehnt. Ohnehin sei die Einordnung eines Schmerzensgeldes nach einem Behandlungsfehler in die Fallgruppe des § 286 Abs. 2 Nr. 4 BGB geboten.

Angesichts der Komplexität der eingetretenen Gehirnschäden erscheine eine Differenzierung nach vorhersehbaren und nicht vorhersehbaren Folgen nicht durchführbar.

II.

A. Das Rechtsmittel der Beklagten zur Höhe des Schmerzensgeldes hat keinen Erfolg; hingegen ist der Beginn der Zinspflicht auf den Zeitpunkt der Rechtshängigkeit zu bestimmen; der Feststellungsausspruch ist zu modifizieren.

a. Die Festsetzung des Schmerzensgeldes mit 560.000.- € ist nicht zu beanstanden. Für die Höhe des Schmerzensgeldes ist primär das Ausmaß der konkreten Beeinträchtigungen maßgebend, wobei an die Funktionen des Schmerzensgeldes anzuknüpfen ist, die wegen der Unmöglichkeit der tatsächlichen Wiedergutmachung in einem Ausgleich der Lebensbeeinträchtigung, des Weiteren auch in einer Genugtuung für das zugefügte Leid bestehen (vgl. BGH, Urteil vom 13.10.1992, VI ZR 201/91, juris Rn 25; NJW 1993, 781 ff), soweit die dem Genugtuungsgedanken zugewiesenen Funktionen nicht ohnehin dem Ausgleichsgedanken zuzuordnen sind (vgl. Jaeger/Luckey, Schmerzensgeld, 8. Aufl. 2016, Rn 1041 ff).

Die Ausgleichsfunktion des Schmerzensgeldes erfordert nicht, dass der Verletzte diese Funktion erfassen kann. Vielmehr ist in Fällen der mehr oder weniger weitgehenden Zerstörung der Persönlichkeit, dem Verlust an personaler Qualität infolge schwerer Hirnschädigung, hierfür ein eigenständig zu bemessender Ausgleich zu gewähren (vgl. BGH, a. a. O., Rn 30; BGH, Urteil vom 16.2.1993, VI ZR 29/92, juris Rn 12, 13; NJW 1993, 1531 ff). Die besondere Schwere des Eingriffs besteht gerade in der Verletzung des immateriellen Wertes der Persönlichkeit. Dieser besonders schwerwiegende Verlust sowie körperliche und seelische Schmerzen als Reaktion auf die Verletzung des Körpers und/oder auf die Beschädigung der Gesundheit sind durch ein Schmerzensgeld zu kompensieren.

Dem gegenüber kommt der Genugtuungsfunktion des Schmerzensgeldes insbesondere in Arzthaftungsfällen keine besondere Bedeutung zu (vgl. Jaeger/ Luckey, a. a. O., Rn 1012), denn Behandlungsfehler werden i. d. R. nicht vorsätzlich, sondern fahrlässig begangen. Der Frage, ob ein Behandlungsfehler als grob zu bewerten ist, ist im Hinblick auf die Genugtuungsfunktion des Schmerzensgeldes jedenfalls dann nicht nachzugehen, wenn bei dem Verletzten ein Empfinden der Genugtuung durch eine Schmerzensgeldzahlung nicht vorhanden ist (vgl. BGH, Urteil vom 13.10.1992, VI ZR 201/91, juris Rn 34; NJW 1993, 781 ff). Ein über einfache Fahrlässigkeit hinausgehendes Verschulden ist als schadensbezogener Umstand des Einzelfalles zu bewerten (vgl. Jaeger/Luckey, a. a. O., Rn 1002, 1041. 1045).

1. Das Ausmaß der schwersten körperlichen und geistigen Schäden, die der Kläger nach den Feststellungen des Landgerichts durch Behandlungsfehler der Beklagten erlitten hat, wird in den Gutachten des Sachverständigen SV1 vom 24.1.2014 und 16.3.2015 beschrieben.

Danach bestehen eine Tetraparese links betont mit einem Kraftgrad von etwa 4/5, wobei spontanmotorisch die linke Körperhälfte nicht benutzt wird, eine deutliche Rumpf- und Standataxie mit ungerichteter Fallneigung, immer mit Schmerzen und zunehmenden Kontrakturen der Gelenke einhergehende Tetraspastiken, Spitzfußstellung und Dekubiti, des Weiteren schwere Hirnnervenparesen mit Gesichtslähmungen. Der Kläger ist blind. Er ist ununterbrochen hilfsbedürftig. So findet er sich im Raum nicht allein zurecht und benötigt bei allen täglichen Verrichtungen, angefangen vom Toilettengang bis zum An- und Auskleiden, bei der Nahrungsaufnahme und bei dem Zurücklegen kurzer Strecken Hilfe. Er ist geistig zu 100 % behindert. Der Sachverständige hat die neurokognitive Behinderung des Klägers anhand des GOSE (Glasgow Outcome Scale) mit einem Punktwert von 3 eingeordnet, was einer schweren Behinderung im unteren Niveau (Punktwert 1: Tod, Punktwert 2: vegetativer Zustand) entspricht; er hat den Leidensdruck des Klägers mit kognitiven Defiziten, Lähmungen, Schlafstörungen, agitierten Phasen mit Aggressionen, Erblindung und vollständiger Abhängigkeit – unmittelbar nachvollziehbar – als selbsterklärend bezeichnet. Der erreichte Rehabilitationsstand wird sich aus neurologischer und rehabilitationsmedizinischer Sicht nicht zum Positiven ändern. Der Kläger wird lebenslang „rund um die Uhr“ pflegebedürftig sein (ärztliche Berichte vom 6.5.2008 – C – und vom 12.10.2016 – D -).

2. Ein besonderes Bemessungskriterium ist das Alter des Verletzten, denn das Schmerzensgeld knüpft an die Schmerzen und Leiden des Geschädigten an, die umso höher sind, je mehr Leidenszeit ein Verletzter noch zu erdulden hat (vgl. Jaeger/Luckey, a. a. O., Rn 1088, 1089). Der Kläger war zur Zeit des ihm durch ärztliche Behandlungsfehler zugefügten körperlichen und seelischen Leides mit nicht reversiblen, schwersten Behinderungen 21 Jahre alt; seine Lebensperspektive ist infolge seiner geistigen und körperlichen Behinderung vollständig zerstört.

3. Bemessungsgrundlage ist auch das Verschulden der Beklagten, denen nach den Feststellungen des sachverständig beratenen Landgerichts grobe Behandlungsfehler vorzuwerfen sind.

4. Eine Erhöhung des Schmerzensgeldes wegen verzögerlichen Regulierungsverhaltens ist hingegen nicht gerechtfertigt. Erforderlich ist insoweit auch, dass die verzögerte Zahlung das gemäß § 253 BGB geschützte Interesse des Gläubigers beeinträchtigt. Dies kommt in Betracht, wenn der Geschädigte unter der langen Dauer der Schadensregulierung leidet (vgl. Saarländisches Oberlandesgericht Saarbrücken, Urteil vom 27.7.2010, 4 U 585/09 166-, juris Rn 52), was von dem Kläger darzulegen gewesen wäre. Der Kläger hat indessen zu seiner konkreten Situation nicht vortragen lassen. Er hat lediglich auf die vorzitierte Entscheidung des Oberlandesgerichts Saarbrücken verweisen und ausführen lassen, die langwierige Auseinandersetzung mit dem Schädiger und seinem Versicherer könne eine erhebliche Belastung des Geschädigten mit der Folge der Erhöhung des Schmerzensgeldes bedeuten.

5. Der besonders schwerwiegende Verlust des immateriellen Wertes der Persönlichkeit des Klägers infolge schwerer Hirnschädigung, seine körperlichen und seelischen Schmerzen als Reaktion auf die Verletzung seines Körpers und seiner Gesundheit, die bereits weitere Operationen erfordert hat (Spitzfußoperation am 13.7.2006, Bl. 156 ff; operativer Eingriff nach Knochendeckelnekrose und Entlastung eines Epiduralhämatoms am 21. und 27.3.2007, Bl. 159 ff d. A.), seine lebenslange Pflegebedürftigkeit, sein noch junges Lebensalter zur Zeit der Schädigung und auch das Maß des Verschuldens der Beklagten – der Sachverständige hat anlässlich der mündlichen Gutachtenerläuterung die Kette der Behandlungsfehler als schwerwiegend falsch und schlechterdings nicht nachvollziehbar bezeichnet, was anhand der Ausführungen in den schriftlich erstatteten Gutachten ohne Weiteres nachzuvollziehen ist (z. B. GA vom 16.3.2015 S. 5, 6; auch GA vom 24.1.2014 S. 14, 15, 18, 19) – sind durch ein besonders hohes Schmerzensgeld zu kompensieren.

6. Das dem Kläger vom Landgericht zuerkannte Schmerzensgeld von 560.000.- € ist auf der Grundlage einer eigenständigen Würdigung des konkreten Einzelfalls (vorstehende Ziffern 1., 2., 3., 5.) durch den Senat nicht zu beanstanden (vgl. KG, Urteil vom 16.2.2012, 20 U 157/10, juris Rn 55, 56). Dies gilt auch unter Berücksichtigung der in Schmerzensgeldtabellen veröffentlichten Rechtsprechung, die im Vorfeld der Entscheidungsfindung eine Orientierungshilfe bietet, nicht aber Präjudizialität i. S. e. Bindungswirkung entfaltet. Immaterielle Schäden betreffen nicht in Geld messbare Güter; sie sind der Höhe nach nicht exakt bestimmbar und nicht für jedermann nachvollziehbar begründbar; auch deshalb ist in § 253 Abs. 2 BGB der Maßstab der Billigkeit eröffnet (vgl. KG VRS 111,16), der eine Bemessung des Schmerzensgeldes nach den besonderen Umständen des Einzelfalles, die den Geschädigten in seiner speziellen Lebenssituation treffen, erfordert. Auf dieser Grundlage sind sog. Vergleichsentscheidungen nicht als feste Bewertungskategorien heranzuziehen, sondern als Vorgabe eines Rahmens für die Schmerzensgeldbemessung, der im Einzelfall unterschritten, über den aber auch hinausgegangen werden kann.

Die Entscheidung des Senats vom 11.2.2014, Az. 8 U 201/11, ist im Hinblick auf die Besonderheiten des Falles für die Höhe eines dem Kläger zuzuerkennenden Schmerzensgeldes kein geeigneter Vergleichsmaßstab. Das Ermessen des Senats war seinerzeit nach oben begrenzt, denn die dortige, zur Zeit des schädigenden Ereignisses erwachsene und berufstätige Klägerin hatte, vertreten durch ihre Betreuerin, in der mündlichen Verhandlung des Senats zu erkennen gegeben, dass sie die Ausübung des Ermessens nur bis zur Höhe des von ihr genannten Betrages von 300.000.- € begehre (vgl. auch BGH, Urteil vom 30.4.1996, VI ZR 55/95, juris Rn 35). Ohnehin ist der Senat nicht der Auffassung, dass in Fällen schwerster geistiger und körperlicher Schäden mit weitgehender Zerstörung der Persönlichkeit – der Entscheidung des Senats vom 11.2.2014 lag nach grobem ärztlichem Behandlungsfehler ein äußerst gravierender Krankheitsverlauf mit Hirnblutung, Schlaganfällen, Wasserkopf, Bettlägerigkeit, vollständiger Pflegebedürftigkeit, Inkontinenz, schwersten spastischen Lähmungen aller Extremitäten und Ernährung über eine Magensonde zugrunde – der Ausgleichsfunktion des Schmerzensgeldes durch einen Betrag von 300.000.- € angemessen genügt ist.

Hingegen bietet die Entscheidung des KG vom 16.2.2012 (vgl. KG, Urteil vom 16.2.2012, 20 U 157/10, juris) einen Anhalt zur Ermittlung einer Größenordnung. Die dortige Klägerin erlitt im Alter von 4 1/2 Jahren durch ärztliche Behandlungsfehler einen schweren Hirnschaden; sie leidet aufgrund dessen an einem apallischen Syndrom mit erheblichem Ausfall der Großhirnrinde und einer Tetraspastik; sie wird über eine PEG – Sonde ernährt und ist auf ständige Pflege angewiesen. Das KG erkannte seinerzeit auf ein Gesamtschmerzensgeld von 650.000.- €. Heranziehen ist auch der Hinweisbeschluss des OLG Köln vom 10.12.2014 (I-5 U 75/14, juris Rn 3). Das LG Köln hatte dem dortigen Kläger, der im Alter von 2 Jahren durch ärztliche Behandlungsfehler einen hypoxischen Hirnschaden mit massiven geistigen und körperlichen Schäden erlitten hatte, an denen er ein Leben lang ohne Hoffnung auf Besserung leiden wird und aufgrund derer er lebenslang rund um die Uhr auf fremde Hilfe angewiesen sein wird, ein Schmerzensgeld von rd. 600.000.- € zuerkannt. Das OLG Köln hat in dem vorgenannten Beschluss unter Heranziehung von Schwerstschadensfällen aus dem Geburtsschadensrecht ausgeführt, dass und warum der dem dortigen Kläger erstinstanzlich zuerkannte Schmerzensgeldbetrag, der sich am oberen Rand der bislang rechtskräftig titulierten Schmerzensgeldbeträge bewege, nicht zu beanstanden sei.

Die hier aufgezeigten Parameter sind auch im vorliegenden Fall einschlägig, denn dem Kläger ist infolge grober ärztlicher Behandlungsfehler jede Chance auf ein weiteres selbstbestimmtes Leben genommen worden.

Die Entwicklung der Rechtsprechung zur Höhe des Schmerzensgeldes für schwerstbehindert geborene Kinder mit deutlichen Steigerungen des Schmerzensgeldes und Zuerkennung von Beträgen in Höhe von 500.000.- € und mehr in Fällen schwerster Schädigung (vgl. Einzelheiten bei Jaeger/Luckey, a. a. O., Rn 965 ff; auch OLG München, Beschluss vom 19.9.2005, 1 U 2640/05, juris, Rn 38 ff m. w. N. zur Rechtsprechung) besagt nicht, dass in dem vorliegend zu beurteilenden Fall einer schwersten Behinderung und schwersten Hirnschädigung eines jungen, nämlich zur Zeit des Schadensereignisses im 2x. Lebensjahr stehenden Menschen ein Schmerzensgeld in dieser Größenordnung nicht angezeigt ist. Mit schwersten geistigen und körperlichen Behinderungen geborene Kinder haben keine, wenn auch noch so rudimentäre Erinnerung an „das frühere Leben“. Sie sind sich ihrer Einschränkungen nicht bewusst. Die Frage, ob das Schmerzensgeld für schwerstgeschädigte Menschen, die ihr Schicksal ganz oder teilweise empfinden, höher ausfallen sollte, bedarf keiner Vertiefung. Denn der Kläger hat seine streitige Behauptung, er leide unter seinem durch Fehlbehandlungen verursachten Zustand, nicht unter Beweis gestellt, so dass sich insoweit keine Abweichung zu den sogenannten Geburtsschadensfällen ergibt. Dem Umstand, dass der Kläger die schwersten Schädigungen im Alter von 2x Jahren erlitt, misst der Senat die Bedeutung zu, dass der Kläger statistisch gesehen eine weitere Leidenszeit von rd. 57 Jahren seit dem Schadensereignis vor sich hat (vgl. Jaeger/Luckey, a. a. O. Teil 1 Ziff. VI. 1. Sterbetafeln), was nach Auffassung des Senats unter Berücksichtigung aller Umstände ein Schmerzensgeld in der vom Landgericht zuerkannten Höhe rechtfertigt. Damit wird das in Schmerzensgeldtabellen angelegte allgemeine Entschädigungsgefüge nicht gesprengt, sondern fortgeschrieben.

7. Die Frage nach einer etwaigen Überforderung der Versichertengemeinschaft ist mit dem OLG München dahin zu beantworten, dass das, was der Versichertengemeinschaft zugemutet werden kann, sich danach richtet, was bei durch Versagen ärztlichen oder nichtärztlichen Personals schwerstgeschädigten Patienten im Bewusstsein redlich denkender und fühlender Menschen als angemessen anzusehen ist (Beschluss vom 19.9.2005, 1 U 2640/05, juris, Rn 38). Die insoweit erforderliche Abwägung und Einschätzung und das Ergebnis dieser Bewertung sind vorstehend unter Ziffern 1. – 3., 5. und 6. dargestellt worden.

b. Der Kläger hat einen Anspruch auf gesetzliche Verzinsung des Schmerzensgeldes seit Rechtshängigkeit, §§ 288 Abs. 1, 291 BGB. Das Schreiben seiner früheren Bevollmächtigen, Rechtsanwältin RA1, vom 29.7.2004 an den Haftpflichtversicherer der Beklagten zu 1. war nicht geeignet, Verzug zu begründen (§ 286 Abs. 1 – 3 BGB). Mit diesem Schreiben ist nicht ein Schmerzensgeld, sondern ein Anerkenntnis der Haftung dem Grunde nach gefordert worden. Dies gilt gleichermaßen für das weitere Schreiben vom 9.5.2005 mit Fristsetzung zum 23.5.2005, durch das darüber hinaus zum Verzicht auf die Einrede der Verjährung aufgefordert worden ist.

Verzug ist auch nicht nach § 286 Abs. 2 Ziff. 3 BGB eingetreten. Der Haftpflichtversicherer hat nicht mit Antwortschreiben vom 13.5.2005 und vom 1.12.2006 die Leistung endgültig und ernsthaft verweigert. Er hat in diesen Schreiben den jeweils zeitlich befristeten Verzicht auf die Einrede der Verjährung erklärt und noch Aufklärungsbedarf geltend gemacht. Das weitere Schreiben des Haftpflichtversicherers vom 7.2.2007 enthält ebenfalls keine ernsthafte und endgültige Erfüllungsverweigerung dem Grunde nach. Der Haftpflichtversicherer verweist hier auf das Verhalten der Rettungsassistenten und bezieht sich des Weiteren auf das Gutachten eines SV3, wonach unterstellte Behandlungsfehler nicht kausal für das Beschwerdebild des Klägers geworden seien. Den Äußerungen in diesem Schreiben, nach Durchsicht der Unterlagen könne eine Haftung des Versicherungsnehmers nicht festgestellt werden bzw. man könne mangels haftungsrechtlichen Tatbestandes nicht in eine Regulierung eintreten, ist angesichts der an eine Erfüllungsverweigerung zu stellenden strengen Anforderungen nicht der Erklärungswert beizumessen, es handele sich um das letzte Wort des Haftpflichtversicherers.

Die Voraussetzungen des § 286 Abs. 2 Nr. 4 BGB, wonach aus besonderen Gründen unter Abwägung der beiderseitigen Interessen der sofortige Eintritt des Verzuges gerechtfertigt ist, liegen ersichtlich nicht vor.

c. Der Antrag auf Feststellung, dass die Beklagten gesamtschuldnerisch verpflichtet seien, dem Kläger bereits entstandene und künftig noch entstehende materielle Schäden sowie alle zukünftigen immateriellen Schäden aus den Behandlungen am 17. und 18.8.2002 vorbehaltlich eines gesetzlichen Forderungsübergangs zu ersetzen, ist nach § 256 Abs. 1 ZPO zulässig und bis auf eine redaktionelle Einschränkung zum immateriellen Schaden auch begründet.

1. Ein Feststellungsinteresse hinsichtlich bereits entstandener materieller Schäden folgt daraus, dass sich der Schaden zur Zeit der Klageerhebung noch in der Entwicklung befand (vgl. Zöller/Greger, ZPO, 31. Aufl. 2016, § 256 Rn 7a). Für die Feststellung künftiger Schadensfolgen genügt im Falle der Verletzung eines absoluten Rechtsgutes die Möglichkeit eines Schadenseintritts (vgl. BGH, Urteil vom 9.1.2007, VI ZR 133/06, juris Rn 5), die hier zweifellos gegeben ist.

2. Der Feststellungsantrag ist begründet. Es liegt ein haftungsrechtlich relevanter Eingriff in ein deliktsrechtlich absolut geschütztes Rechtsgut vor, der zu den für die Zukunft befürchteten Schäden führen kann (vgl. BGH, a. a. O., Rn 6; BGH, Urteil vom 16.1.2001, VI ZR 381/99, juris Rn 8, NJW 2001, 1431 ff). Aus der von dem Sachverständigen SV1 in seinem Gutachten vom 16.3.2015 beschriebenen, schwersten körperlichen und geistigen Behinderung des Klägers folgt ohne weiteres, dass mit dem Eintritt von Spätschäden wenigstens zu rechnen ist (vgl. BGH, Urteil vom 9.1.2007, a. a. O., Rn 12).

Der Feststellungsausspruch bedarf jedoch im Hinblick darauf, dass der zugesprochene Schmerzensgeldbetrag die angemessene Entschädigung für den immateriellen Gesamtschaden darstellt, einer einschränkenden Modifikation dahin, dass die Beklagten gesamtschuldnerisch haftend verpflichtet sind, dem Kläger alle zukünftigen immateriellen Schäden aus den Behandlungen vom 17. und 18.8.2002 zu ersetzen, die bei der ursprünglichen Bemessung noch nicht eingetreten waren und mit deren Eintritt nicht oder nicht ernstlich zu rechnen war (BGH, Urteil vom 20.1.2015, VI ZR 27/14, juris Rn 8; Zöller/Vollkommer, a. a. O., Vor § 322 Rn 49).

B. Die Kostenentscheidung hat ihre Grundlage in den §§ 97 Abs. 1, 92 Abs. 1 ZPO. Die Voraussetzungen des § 92 Abs. 2 Ziff. 1 ZPO, wonach das Gericht der einen Partei die gesamten Prozesskosten auferlegen kann, wenn die Zuvielforderung der anderen Partei verhältnismäßig geringfügig war und keine oder nur geringfügig höhere Kosten veranlasst hat, liegen hinsichtlich der Teilabweisung von Zinsen nicht vor. Zwar werden im Umfange der Teilabweisung des Zinsanspruchs durch die Zuvielforderung keine besonderen Kosten verursacht, denn der Streitwert wird durch Nebenforderungen gemäß § 43 Abs. 1 GKG nicht erhöht. Die Voraussetzungen des § 92 Abs. 2 Ziff. 1 ZPO müssen jedoch kumulativ vorliegen. Die Zuvielforderung von Zinsen, die im vorliegenden Fall mehr als 10% des Hauptanspruchs ausmacht (105.362,27 €; vgl. Zöller/Herget, ZPO, 31. Aufl. 2016, § 92 Rn 11), ist nicht mehr verhältnismäßig geringfügig mit der Folge einer entsprechenden Kostenteilung (fiktiver Streitwert erster Instanz: 914.686,69 €, nämlich Hauptforderung in Höhe von 560.000.- €, Zinsen vom 24.5.2005 bis zum 11.5.2016, außergerichtliche Kosten; fiktiver Streitwert zweiter Instanz: 315.886,67 €, abgewiesene Zinsen 105.886,67 €).

Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf den §§ 708 Ziff. 10 Satz 1, 711 ZPO.

Die Revision wird nicht zugelassen, weil die gesetzlichen Voraussetzungen hierfür nicht vorliegen, § 543 Abs. 2 ZPO.

Der Streitwert für den zweiten Rechtszug entspricht dem Interesse der Beklagten an einer Herabsetzung des Schmerzensgeldes von 560.000.- € auf 350.000.- €.

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