OLG Köln, Beschluss vom 08.02.2019 – 5 U 47/18

Oktober 10, 2021

OLG Köln, Beschluss vom 08.02.2019 – 5 U 47/18

Die Berufung des Klägers gegen das am 07.03.2018 verkündete Urteil der 11. Zivilkammer des Landgerichts Aachen – 11 O 231/17 – wird zurückgewiesen.

Die Kosten des Berufungsverfahrens trägt der Kläger.

Das angefochtene Urteil und dieser Beschluss sind vorläufig vollstreckbar.

Gründe
I.

Der Kläger nimmt den Beklagten auf Gewährung von Einsicht in eine als „Patientenakte“ bezeichnete Unterlage in Anspruch.

Der Kläger war bei der NATO als Techniker beschäftigt. Seit dem 28.01.2015 war er langfristig arbeitsunfähig erkrankt. Er beantragte die Einleitung eines Invaliditätsverfahrens nach den Regeln der „NATO Civilian Personnel Regulations“ (NCPR). Der Beklagte, der ein Institut für Psychsosomatik und Psychotraumatologie in Aachen betreibt, war Mitglied des Invaliditätsausschusses, der über den Antrag des Klägers zu befinden hatte. Er führte mit dem Kläger ein ausführliches Gespräch über den Hintergrund seiner psychischen Erkrankung, erstellte eine Diagnose und macht das daraus resultierende Gutachten den beiden anderen Mitgliedern des Ausschusses zugänglich.

Der Beklagte hat sich mit der Klageerwiderung auf die Unzulässigkeit der Klage berufen.

Wegen der Einzelheiten des streitigen und unstreitigen Vorbringens der Parteien und der tatsächlichen Feststellungen des Landgerichts wird auf die Ausführungen im angefochtenen Urteil Bezug genommen.

Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Dem Kläger stehe gegen den Beklagten aus keinem rechtlichen Gesichtspunkt ein Anspruch auf Herausgabe der im Rahmen des Invaliditätsverfahrens erstellten Unterlagen zu.

Ein Anspruch ergebe sich nicht aus § 630g BGB. Es fehle an einer medizinischen Behandlung im Sinne dieser Vorschrift. Zwar könne auch ein medizinisches Gutachten typische Elemente einer ärztlichen Behandlung wie Anamnese, Diagnose und Prognose enthalten. Es unterscheide sich aber in seiner Zielrichtung von einer ärztlichen Heilbehandlung. Während die medizinische Behandlung der Linderung des psychischen oder physischen Leids des Patienten oder der Behebung der Leidensursache diene, sei das Gutachten des Beklagten auf die Feststellung des status quo gerichtet gewesen. Es habe lediglich die finanziellen Interessen des Klägers betroffen und nicht dazu gedient, die psychischen oder physischen Leiden des Klägers zu lindern oder dessen Ursache zu beheben.

Ein Einsichtsrecht bestehe auch nicht nach § 810 BGB. Das Gutachten des Beklagten und die diesem zugrunde liegenden Aufzeichnungen seien nicht allein im Interesse des Klägers, sondern auch im Interesse der NATO erstellt worden. Darüber hinaus scheide ein Anspruch nach § 810 BGB aus, weil die Sondervorschriften der NCPR eine abschließende Regelung enthielten. Des Weiteren habe der Kläger ein rechtliches Interesse an der Einsichtnahme nicht schlüssig dargelegt. Aus diesem Grunde könne der Kläger auch nach § 242 BGB eine Herausgabe der Unterlagen nicht verlangen.

Einem Anspruch aus § 34 Abs. 1 BDSG stehe die in Art. 13.2 des Annex IV der NCPR geregelte Pflicht zur Geheimhaltung entgegen. Die Geheimhaltungspflicht beziehe sich nicht nur auf die Entscheidung, sondern erfasse auch die von den Mitgliedern erstellten Unterlagen.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Ausführungen in der angefochtenen Entscheidung Bezug genommen.

Mit der Berufung verfolgt der Kläger seinen erstinstanzlichen Klageantrag weiter. Das Landgericht habe Bedeutung und Tragweite der Vorschrift des § 630g BGB verkannt. Die Vorschrift normiere einfachgesetzlich die Gewährleistung des verfassungsrechtlichen Rechts auf informationelle Selbstbestimmung, welches den Zugang zu den Daten untersuchter Person garantiere. Dies gelte insbesondere für Informationen, welche die psychische Verfassung betreffe. Zu Unrecht sei das Landgericht davon ausgegangen, dass allein „finanzielle Interessen des Klägers“ betroffen seien. Abgesehen davon erfordere der Anspruch nach § 630g BGB weder nach Wortlaut noch nach seiner Entstehungsgeschichte noch nach seinem Sinn und Zweck ein bestimmtes Interesse. Es erschließe sich nicht, warum eine medizinische Untersuchung – soweit sie nur den status quo ermittle – keine Untersuchung im Sinne der Vorschrift darstelle. Der Kläger benötige das Gutachten, um seine Interessen gegenüber der NATO weiter verfolgen zu können. Es verbiete sich, den Anspruch auf Einsicht nach der „Zielrichtung“ der ärztlichen Untersuchung zu beurteilen. Das Bundesverfassungsgericht habe mit Beschluss vom 9.01.2006 (2 BvR 443/02) ausgeführt, dass der Zweck der Untersuchung nicht nur in der ärztlichen Heilbehandlung, sondern auch in der Wiedererlangung der Freiheit bzw. in der Vorbereitung des Strafvollzugs bestehen könne. Es sei fehlerhaft, eine Vorschrift des NATO-Personalstatuts NCPR heranzuziehen, um eine gesetzliche Regelung des deutschen Rechts auszulegen. Das Landgericht habe nicht in Betracht gezogen, dass anstelle einer vollumfänglichen Einsichtnahme in die Unterlagen, Teile der Akte, denen therapeutische Gründe oder Rechte Dritter entgegenständen, geschwärzt hätten werden können. Geheimschutzrechte Dritter im NATO-Invaliditätsverfahren hätten insofern gewahrt werden können.

Die Vorschrift des § 630g BGB sei zumindest analog anwendbar. Die medizinische Begutachtung sei mit der Untersuchung zu Heilzwecken strukturell vergleichbar, denn in beiden Fällen werde medizinisches Fachwissen zu Ermittlung von Erkenntnissen über die Person des untersuchten Patienten dokumentiert, analysiert und gegebenenfalls weiterverarbeitet. Beiden Tätigkeiten seien gemein, dass sie eine ärztliche Kunstfertigkeit erforderten und von einer gewissen Unsicherheit und Fehleranfälligkeit geprägt seien. Es sei nicht ersichtlich, dass der Gesetzgeber die Gutachtenerstellung als Ausnahme von der Einsicht habe statuieren wollen. Die grundrechtliche Betroffenheit des begutachteten Patienten zu der zu Heilzwecken untersuchten Person sei vergleichbar. Der Kläger verweist auf eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 7.11.2013 (III ZR 54/13). Dort sei in einem „Gutachten-Fall“ ein Recht auf Einsichtnahme in ärztliche Aufzeichnungen aus Vertrag und dem allgemeinem Persönlichkeitsrecht anerkannt worden. Dass es sich nicht um eine Behandlung im üblichen Sinne gehandelt habe, habe dem Einsichtsrecht nicht entgegengestanden.

Das Landgericht habe rechtsfehlerhaft einen Anspruch aus § 810 BGB verneint. Der Anspruch setze weder nach Wortlaut noch nach Sinn und Zweck voraus, dass die Unterlage, in die Einsicht begehrt werde, allein im Interesse des Anspruchsstellers erstellt worden sei. Es reiche aus, dass die Urkunde jedenfalls auch dem Interesse des Anspruchsstellers diene. § 810 BGB sei auch nicht ausgeschlossen, weil die NCPR verdrängende Sondervorschriften enthielten. Zum einem beinhalte das NATO-Zivilpersonalstatut keine Vorschriften, die das Einsichtnahmerecht eines Patienten in die Dokumentation seines Arztes regele. Zum anderen stünden Spezialregelungen der Anwendbarkeit nicht entgegen. Ein rechtliches Interesse habe er dargelegt. Er benötige die Unterlagen, um die daraus zu gewinnenden Erkenntnisse in das Invaliditätsverfahren einzuführen. Es bestehe nach den Regularien der NATO gemäß Art. 62.3 NCPR iVm Art. 6.8.4 (b) Annex IX NCPR die Möglichkeit einer Überprüfung früherer Entscheidungen innerhalb von 5 Jahren nach dem Datum der Entscheidung. Darüber hinaus könne er ein rechtliches Interesse daraus ableiten, dass sein behandelnder Arzt die fehlerhafte Entscheidung des „Invalidity Boards“ offenbart habe. Das „Invalidity Board“ habe eine andere Definition der „dauerhaften Erwerbsunfähigkeit“ als sonst üblich zu Grunde gelegt. Es stehe zur Befürchtung, dass wegen der Fokussierung auf eine falsche Definition, ein nicht ordnungsgemäßes Ergebnis getroffen worden sei. Der Kläger behauptet, er habe im Nachhinein erfahren, dass anderen Personen mit ähnlichen Diagnosen eine dauerhafte Erwerbsunfähigkeit zugestanden worden sei. Es bestünden danach erhebliche Zweifel an der Qualität des Gutachtens, die nur durch eine Einsichtnahme auszuräumen bzw. zu bestätigen seien. Erst nach Einsichtnahme könne er entscheiden, ob er das Invaliditätsverfahren wieder aufnehmen wolle.

Der Kläger beantragt,

unter Abänderung des am 7.03.2018 verkündeten Urteils des Landgerichts Aachen – 11 O 231/17, den Beklagten zu verurteilen, ihm dadurch Einsichtnahme in die Patientenakte zu gewähren, dass er die Akte (soweit elektronisch vorliegend) per Email an den Prozessbevollmächtigten übersendet bzw. Zug um Zug (soweit die Akte nur physisch vorliegt) gegen Portoersatz und Kostenersatz in Höhe von 0,50 EURO pro Seite an den Kläger herausgibt.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Der Beklagte tritt dem Vorbringen des Klägers im Einzelnen entgegen. Das Landgericht habe zutreffend eine „Behandlung“ verneint. Der Kläger sei zu keinem Zeitpunkt sein Patient gewesen. Es gehe dem Kläger weder um die Erkenntnis über seinen Gesundheitszustand noch um eine mögliche Heilbehandlung. Seine Intention bestehe darin, die Neueinsetzung in das durch die Entscheidung 2016/1076 bereits abgeschlossene Invaliditätsverfahren zu erwirken, das die Anfechtung der ablehnenden Entscheidung vom 18. September 2015 zurückgewiesen habe.

Das streitgegenständliche Gutachten sei kein geeignetes Mittel, um eine Änderung des NATO Invaliditätsverfahren zu erzielen. Es sei lediglich eine interne Arbeitsgrundlage gewesen und stelle keine der Behandlung wesensgleiche Information dar. Ein Einsichtsrecht bestehe weder unmittelbar noch nach § 630g BGB analog. Der Kläger habe über die Mitteilung des Ergebnisses der Entscheidung des Invaliditätsausschusses hinaus kein Auskunftsrecht über interne Vorgänge zur Entscheidungsfindung, zu denen auch das streitgegenständliche Gutachten gehöre. Es sei sachlich nicht richtig, dass die NATO Administration die Herausgabe verweigere, sie habe selbst keinen Zugriff auf das Gutachten erlangt.

Er habe den Kläger nicht behandelt, sondern nur dessen Gesundheitszustand begutachtet. Mit der Geheimhaltungsvorschrift 13/2 ix) zu Art. 13.2 des Annex IV der NATO Zivilpersonalvorschriften (NCPR) werde kein niedrigeres Rechtsschutzniveau auf das deutsche Recht übertragen. Es solle lediglich der Meinungsaustausch der Mitglieder des Ausschusses gefördert werden.

Der Kläger habe ein rechtliches Interesse nicht hinreichend dargelegt. Es gehe ihm weder um Informationen über seinen Gesundheitszustand, noch seien das Gutachten und die zu Grunde liegenden Aufzeichnungen des Beklagten integraler Bestandteil der Entscheidung oder der Begründung des Invaliditätsausschusses. Das Tribunal habe sowohl im Urteil 2016/1076 als auch im Verfahren 2017/1113 die Herausgabe abgelehnt und damit für den Verfahrensausgang nicht für erheblich erachtet.

Im Übrigen sei der diesbezügliche Vortrag zum rechtlichen Interesse verspätet, weil der Kläger in der Vorinstanz unstreitig gestellt habe, dass seine Ansprüche gegen die NATO auf Invaliditätsrente bestandskräftig abgewiesen worden seien. Es sei dem Kläger möglich gewesen, darauf hinzuweisen, dass die Entscheidung innerhalb von fünf Jahren überprüft werden könne. Die Definition der dauerhaften Erwerbsunfähigkeit sei nicht Gegenstand des streitgegenständlichen Gutachtens. Die Argumentation über eine vermeintlich falsche Definition stehe in keinem Zusammenhang mit seinem begehrten Einsichtsanspruch.

Wegen aller weiteren Einzelheiten des Vorbringens der Parteien im Berufungsverfahren wird auf die im Berufungsrechtszug gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen verwiesen.

II.

Die Berufung war gemäß § 522 Abs. 2 ZPO durch Beschluss zurückzuweisen, denn sie hat nach einstimmiger Überzeugung des Senats offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg. Die Rechtssache hat auch keine grundsätzliche Bedeutung. Weder die Fortbildung des Rechts noch die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erfordern eine Entscheidung des Senats aufgrund mündlicher Verhandlung, die auch sonst nicht geboten ist.

Zur Begründung wird auf den Beschluss des Senats vom 21.12.2018 (Bl. 226 ff. d.A.) Bezug genommen, § 522 Abs. 2 S. 3 ZPO. Die Einwände des Klägers in seiner Stellungnahme vom 21.01.2019 zu den Hinweisen des Senats führen auch nach nochmaliger Überprüfung der Sach- und Rechtslage nicht zu einer anderen Beurteilung. Es bleibt dabei, dass die Klage unzulässig ist, weil die deutsche Gerichtsbarkeit nicht gegeben ist, § 20 GVG.

Dass die NCPR keine Vorschriften dazu enthalten, in welcher Weise der im Invaliditätsverfahren untersuchende Arzt seine Unterlagen zu erstellen und aufzubewahren hat und dass die NCPR auch keine Geheimhaltung der Unterlagen regeln, ändert nichts daran, dass das Invaliditätsverfahren durch die Vorschriften der NCPR abschließend geregelt wird und der durch den Kläger geltend gemachte Anspruch auf Einsicht in Unterlagen, welche der medizinischen Beurteilung des geltend gemachten Invaliditätsanspruchs und der Vorbereitung der Entscheidung des Invaliditätsausschusses dienten, mit dem Verfahren untrennbar im Zusammenhang steht. Der Beklagte stand als untersuchender Arzt entgegen der Auffassung des Klägers nicht außerhalb des Systems der NATO und des Tribunals, sondern er wurde in seiner Eigenschaft als Mitglied des Invaliditätsausschusses tätig.

Ob die durch den Beklagten erstellten Unterlagen der Geheimhaltung unterliegen, hat der Senat nicht zu entscheiden. Eine inhaltliche Prüfung des Anspruchs auf Einsicht in die Unterlagen ist dem Senat aufgrund der Unzulässigkeit der Klage verwehrt.

Ohne Erfolg beruft sich der Kläger schließlich auf Art. 6 EMRK, denn es besteht ein ausreichender Rechtsschutz.

Die Immunität für zwischenstaatliche Organisationen oder deren Verbände verstößt jedenfalls dann nicht gegen das durch Art. 6 Abs. 1 EMRK gewährte Recht auf Anrufung eines Gerichts, wenn andere angemessene Möglichkeiten des Rechtsschutzes (z.B. eine Beschwerdeinstanz der Organisation) zur Verfügung stehen (vgl. Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Urteil vom 18. Februar 1999 – 26083/94 -, juris; vgl. Zöller/Lückemann, 32. Aufl. 2018, § 20 GVG, Rn. 5). Dies ist der Fall. Vorliegend existiert ein Beschwerdeverfahren, das vor dem Verwaltungstribunal durchzuführen ist. Das Verwaltungstribunal besteht aus fünf Mitgliedern unterschiedlicher Mitgliedstaaten und Nationalitäten, die zu den Gründungsstaaten der NATO gehören. Die Unabhängigkeit des Gerichts wird dadurch gewährleistet, dass die Mitglieder des Tribunals keine Mitarbeiter der NATO sein oder dem Nordatlantikrat angehören dürfen (Annex IX Art.6, 6.1.1 NCPR). Von den Mitgliedern des Tribunals wird Unparteilichkeit gefordert (Code of Judicial Conduct of the NATO Administrative Tribunal). Das Verfahren sieht Anhörungen vor und endet mit einer zu begründenden Entscheidung, die wiederum innerhalb von fünf Jahren angegriffen werden kann. Dass sich das Tribunal nicht zur Entscheidung über das unmittelbar mit dem Invaliditätsverfahren im Zusammenhang stehende Einsichtsrecht des Klägers berufen fühlt, kann – wie bereits im Hinweisbeschluss ausgeführt – die Zuständigkeit der nationalen Gerichte nicht begründen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf §§ 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO.

Streitwert: 13.440 EUR

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