SG für das Saarland, Urteil vom 28.06.2021 – S 19 P 147/20

Juli 27, 2021

SG für das Saarland, Urteil vom 28.06.2021 – S 19 P 147/20

1. Die auf § 150a Abs. 9 SGB XI beruhende Richtlinie über die Gewährung eines Bonus für Pflegekräfte im Saarland (Corona-Pflegebonusrichtlinie) ist der richterlichen Auslegung und Interpretation nicht zugänglich.

2. Die gerichtliche Prüfung ist darauf gerichtet, wie der Richtliniengeber die Richtlinie in ständiger Praxis handhabt und ob bei der Anwendung im Einzelfall eine willkürliche Ungleichbehandlung gemäß Art. 3 GG vorliegt.

3. Eine Hauswirtschafterin in einer vollstationären Pflegeeinrichtung ist als tatsächlich in der Pflege Tätige gemäß Nr. 2 Satz 2 der Corona-Pflegebonusrichtlinie anzusehen, wenn sie wesentlich mit pflegerischen Tätigkeiten befasst ist. Das ist zu bejahen, wenn das Anreichen von Flüssigkeit und Nahrung an die an einer fortgeschrittenen Demenz leidenden Bewohner der Pflegeeinrichtung weitaus zeitintensiver ist als die hauswirtschaftlichen Aufgaben.

Tenor
1. Der Bescheid des Beklagten vom 24. September 2020 wird aufgehoben.

2. Der Beklagte wird verurteilt, der Klägerin den saarländischen Pflegebonus gemäß den Bestimmungen in der Richtlinie über die Gewährung eines Bonus für Pflegekräfte im Saarland (Corona-Pflegebonusrichtlinie) vom 3. Juni 2020 zu gewähren.

3. Der Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten der Klägerin zu tragen.

Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Beklagte der Klägerin den saarländischen Pflegebonus gemäß der Richtlinie über die Gewährung eines Bonus für Pflegekräfte im Saarland (Corona-Pflegebonusrichtlinie) vom 3. Juni 2020 in der Fassung vom 15. Juni 2020 (infolge: Richtlinie) zu gewähren hat.

Die Klägerin, geboren 1959, arbeitet als Angestellte in der stationären Alten- und G. Residenz GmbH Seniorenheim in F. als Hauswirtschafterin. Der wöchentliche Umfang ihrer Arbeitszeit beträgt mehr als 25 Stunden.

Mit einem am 30. Juli 2020 beim Beklagten eingegangenen Antrag begehrte sie die Gewährung des saarländischen Corona-Pflegebonus. Sie führte zu ihrer Tätigkeit aus, sie bereite für die Bewohner täglich die Speisen für Frühstück und Mittagessen zu und verteile die Tabletts mit dem Essen an die Bewohner. Je nach Krankheitsbild reiche sie den Bewohnern das Essen komplett oder teilweise an; sie überwache die Aufnahme von Nahrung und Flüssigkeit.

Mit Bescheid vom 24. September 2020 lehnte der Beklagte den Antrag der Klägerin auf Gewährung des saarländischen Pflegebonus ab, da nach Prüfung der eingereichten Unterlagen festzustellen sei, dass die Klägerin nicht zu dem begünstigten Personenkreis gehöre.

Dagegen hat sich die Klage um 7. Oktober 2020, am 12. Oktober 2020 bei den Sozialgerichten für das Saarland eingegangen, gerichtet.

Die Klägerin trägt ergänzend vor:

Sie arbeite seit über 20 Jahren im sozialen Dienst und in der Hauswirtschaft im Wohnbereich für Demenzkranke. Sie stehe im unmittelbaren Kontakt mit den Bewohnern. Nachdem in den letzten Monaten durch die Pandemie bedingt keine hausinternen Veranstaltungen mehr stattfänden, sei sie zusätzlich gefordert gewesen, da die Bewohner verstärkt Zuwendung und Beschäftigung bei ihr suchten.

In der mündlichen Verhandlung befragt, hat die Klägerin ergänzend dazu ausgeführt, in dem Wohnbereich für Demenzkranke, in welchem sie tätig sei, seien 23 Bewohner zu betreuen. Es handle sich um eine geschlossene Station, d. h. dort lebten Menschen mit fortgeschrittener Demenzerkrankung. In der Regel bräuchten zehn der Bewohner regelmäßige Hilfe durch Anreichen. Auch die, die alleine essen können, litten oft unter Schluckstörungen. Zwei Mitarbeiter stünden dafür grundsätzlich zur Verfügung, in Spitzenzeiten aber oft nur eine. Das Anreichen dauere wesentlich länger als das Zubereiten und Herrichten der Mahlzeiten.

Die Klägerin beantragt,

1. den Bescheid des Beklagten vom 24. September 2020 aufzuheben;

2. den Beklagten zu verurteilen, ihr, der Klägerin, den saarländischen Pflegebonus gemäß den Bestimmungen in der Richtlinie über die Gewährung eines Bonus für Pflegekräfte im Saarland (Corona-Pflegebonusrichtlinie) vom 3. Juni 2020 zu gewähren.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er trägt im Wesentlichen vor:

Bei dem Pflegebonus handele es sich um eine freiwillige Leistung des Landes. Die Zuwendung erfolge auf der Grundlage der einschlägigen Förderrichtlinien im billigen Ermessen der Behörde und im Rahmen der verfügbaren Haushaltsmittel. Das Gericht sei somit grundsätzlich an den Zuwendungszweck gebunden, wie ihn der Zuwendungsgeber verstehe. Da Richtlinien keine Rechtsnormen seien, unterlägen sie grundsätzlich keiner richterlichen Interpretation. Für die gerichtliche Prüfung einer Förderung sei deshalb entscheidend, wie die Behörde des zuständigen Rechtsträgers die Verwaltungsvorschrift im maßgeblichen Zeitpunkt in ständiger Praxis gehandhabt habe und in welchem Umfang sie infolgedessen durch den Gleichbehandlungsgrundsatz gebunden sei. Eine Überprüfung habe sich darauf zu beschränken, ob aufgrund der einschlägigen Förderrichtlinien überhaupt eine Verteilung öffentlicher Mittel vorgenommen werden könne und bejahendenfalls, ob eine mögliche willkürliche Ungleichbehandlung potentieller Förderungsempfänger eröffnet sei. Willkür sei nur dann anzunehmen, wenn sich ein vernünftiger, aus der Natur der Sache ergebender oder sonst wie sachlich einleuchtender Grund für die gesetzliche Differenzierung oder Ungleichbehandlung nicht finden lasse.

Die Klägerin sei vorliegend nicht Begünstigte, da sie lediglich einer hauswirtschaftlichen Tätigkeit nachgehe. Es sei weder willkürlich, noch werde gegen den Gleichheitsgrundsatz verstoßen, wenn er, der Beklagte, die Klägerin nicht als Begünstigte ansehe, zumal die Förderpraxis vorsehe, dass die Tätigkeit einer Hauswirtschafterin nicht die Bewilligung des Pflegebonus auslösen könne.

Die Kammer hat am 23. Juni 2021 die Pflegedienstleiterin der G. Residenz GmbH in F., Frau Fl., telefonisch befragt. Über das Gespräch ist ein Vermerk angelegt worden, der den Beteiligten vor dem Termin zur Kenntnis gereicht wurde.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Verfahrensganges wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Verwaltungsakte der Beklagten, die beigezogen war, Bezug genommen.

Gründe
I.

Die Klage ist zulässig und begründet.

Die nach §§ 54 Abs. 1 Satz 1 1. Alternative, Abs. 4 SGG erhobene kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage setzt für ihre Begründetheit voraus, dass die Klägerin durch einen rechtswidrigen Verwaltungsakt beschwert, mithin in ihren rechtlich geschützten Interessen beeinträchtigt ist, und dass der angefochtene Verwaltungsakt eine Leistung betrifft, auf die ein Rechtsanspruch besteht.

Der Bescheid des Beklagten vom 24. September 2020 ist rechtswidrig; er verletzt die Klägerin in ihren Rechten.

Die Klägerin hat gegen den Beklagten Anspruch auf Gewährung des Coronapflegebonus gemäß Ziffer 2. und 3. der Richtlinie.

Die Klägerin war ohne Zweifel zum 1. März 2020 in einer begünstigungsfähigen Einrichtung, nämlich der G. Seniorenresidenz GmbH in F., tätig gewesen. Die Klägerin arbeitet über 25 Stunden pro Woche. Den erforderlichen Antrag hat sie in der Frist der Ziffer 1. der Richtlinie gestellt. Auch die weiteren Voraussetzungen nach Ziffer 2. liegen vor.

Entgegen der Auffassung des Beklagten ist die Klägerin als tatsächlich in der Pflege Tätige im Sinne von Ziffer 2 Satz 2 der Richtlinie zu betrachten, weil ihre ausgeübte berufliche Tätigkeit der Pflege entspricht und mit dieser vergleichbar ist.

Ziffer 2. der Richtlinie lautet wie folgt:

Begünstigte im Sinne dieser Richtlinie sind Pflegende in stationären Alten- und Pflegeeinrichtungen sowie ambulanten Pflegediensten. Ebenso begünstigt sind tatsächlich in der Pflege Tätige, deren ausgeübte berufliche Tätigkeit der Pflege entspricht und mit dieser vergleichbar ist, sowie in der professionellen Betreuung und Aktivierung Tätige in diesen Einrichtungen und ambulanten Pflegediensten. Das Beschäftigungsverhältnis muss am 1. März 2020 bestanden haben und nach seiner vertraglichen Bestimmung überwiegend im Saarland ausgeübt werden. Personen, bei denen nicht zu erwarten ist, dass sie im Antragszeitraum nach Nr. 5.1 in ihrer beruflichen Tätigkeit von der Corona-Pandemie betroffen sind oder zukünftig sein können, insbesondere Beschäftigte, die zum 1. März 2020 in Altersteilzeit in der Freistellungsphase ohne Bezüge beurlaubt sind oder wegen Kurzarbeit oder besonderer Gefährdungsbeurteilung (Vulnerabilität) von der beruflichen Tätigkeit oder Pflege oder zusätzlichen Betreuung oder Aktivierung befreit waren, sowie Personen, die zu diesem Zeitpunkt eine Zeitrente erhalten, sind nicht Begünstigte.

Die Kammer verkennt nicht, worauf der Beklagte zutreffend verweist, dass eine Richtlinie wie die vorliegende nicht – wie Gesetze oder Verordnungen – gerichtlich ausgelegt werden dürfen. Da Richtlinien keine Rechtsnormen sind, unterliegen sie grundsätzlich keiner richterlichen Interpretation. Für die gerichtliche Prüfung ist daher entscheidend, wie der Beklagte die Richtlinie in ständiger Praxis gehandhabt hat und ob auf Grundlage der Richtlinie überhaupt eine Verteilung der Fördermittel vorgenommen werden konnte.

Dazu trägt der Beklagte vor, die Klägerin sei nicht als Begünstigte anzusehen, da die Förderpraxis vorsehe, dass ihre Tätigkeit einer Hauswirtschafterin keinen Pflegebonus auslöse.

Die Ermittlungen der Kammer haben indes ergeben, dass die Klägerin nicht nur einer reinen Hauswirtschaftstätigkeit nachgeht, sondern im Wohnbereich für Demenzkranke in einem als prägend zu betrachtenden Umfang mit Pflegetätigkeit, insbesondere dem Anreichen, befasst ist.

Dies zugrunde legend ist die Klägerin wie eine tatsächlich in der Pflege Tätige zu betrachten.

Die Annahme des Beklagten, die Klägerin sei ausschließlich mit Tätigkeiten der Hauswirtschaft befasst, hat sich weder durch die Befragung der Pflegedienstleiterin Fl. vom 23. Juni 2021 bestätigt, noch durch die Anhörung der Klägerin.

Die Pflegedienstleiterin Fl. hat bekundet, die Tätigkeit der Klägerin erschöpfe sich nicht nur in Hauswirtschaft, sondern beinhalte auch pflegerische Tätigkeit. Dabei nannte sie das Anreichen von Essen und Trinken sowie die Begleitung der Bewohner zu Toilettengängen.

Nach dem prozentualen Verhältnis von Tätigkeiten der Pflege und der Hauswirtschaft befragt, hat Frau Fl. die Pflegetätigkeit mit ungefähr 40 % bewertet. Den Vorhalt der Kammervorsitzenden, ob in bestimmten Wohnbereichen, etwa im Demenzbereich, ein Anreichen öfter erforderlich sei, hat sie bestätigt.

Die Erklärungen der Klägerin in der mündlichen Verhandlung sind in der Gesamtschau der Ermittlungen der Kammer nur so zu interpretieren, dass sie auf der geschlossenen Demenzstation mit Anreichen von Nahrung und Flüssigkeit wesentlich länger befasst ist als mit dem Zubereiten und Herrichten der Mahlzeiten. Die Ausführungen der Klägerin waren für die Kammer, die seit mehr als zehn Jahren für Angelegenheiten der sozialen Pflegeversicherung zuständig ist, in jeder Weise nachvollziehbar. Die Herausforderung, gerade bei Demenzkranken im fortgeschrittenen Stadium, besteht nämlich darin, letztlich dafür Sorge zu tragen, dass vor Eintreten des Sättigungsgefühls, was in der Regel nach 20 Minuten der Fall ist, ausreichend Nahrung und Flüssigkeit aufgenommen wurde. Dies stellt gerade bei demenzkranken Menschen, die die selbstständige Nahrungsaufnahme nicht mehr leisten und die Verrichtung nicht mehr zuordnen können, eine überaus Mühe und Zeit bindende Anstrengung für die Pflegenden dar. Dies in einer Besetzung von zwei Mitarbeitern bei zehn Bewohnern im oben genannten Zeitfenster zu leisten, ist selbst bei großer Erfahrung als ambitioniert zu betrachten, wenn man sich den Grundsätzen der aktivierenden Pflege verpflichtet sieht. Deshalb hatte die Kammer keinen Zweifel, dass dieser Teil der Tätigkeit der Klägerin der prägende und wesentliche darstellt, sodass sie wie eine in der Pflege Tätige zu betrachten ist. Sie ist damit Begünstigte im Sinne der Richtlinie.

Bei dieser Sachlage war der angefochtene Bescheid aufzuheben und dem Antrag der Klägerin auf Gewährung des Coronapflegebonus gemäß Ziffer 3. der Richtlinie zu entsprechen.

II.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG, der nach der ständigen Rechtsprechung der Kammer in Fällen wie diesen Anwendung findet (Beschluss der Kammer vom 17. Dezember 2020, S 19 P 136/20; dem zustimmend Schlegle/Voelzke/Klein, juris PK, Kommentar zum SGB XI, § 150a SGB XI Anmerkung 44.6; a.A. Krome, Anmerkung zu VG Saarlouis vom 12. August 2020, ohne nähere Begründung).

Auf anliegende Rechtsmittelbelehrung wird Bezug genommen.

Da die Wertgrenze des § 144 Abs. 1 SGG nicht erreicht wird und keine wiederkehrenden oder laufenden Leistungen für mehr als ein Jahr streitbefangen sind, ist die Berufung nicht statthaft.

Gründe, sie zuzulassen, bestehen nicht. Eine grundsätzliche Bedeutung vermag die Kammer bei dem streitigen Coronapflegebonus, der eine einmalige Leistung darstellt, nicht zu erkennen. Denn die Corona-Pflegebonusrichtlinie ist gemäß Ziffer 12. bereits am 31. Dezember 2020 außer Kraft getreten.

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