VG Hamburg 21 K 5172/20

April 8, 2022

VG Hamburg 21 K 5172/20

Soweit der Kläger die Klage zurückgenommen hat, wird das Verfahren eingestellt.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Die Kosten des Verfahrens trägt der Kläger.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Der Kläger kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe der festzusetzenden Kosten abwenden, falls nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe des zu vollstreckenden Betrages leistet.

Tatbestand
Randnummer1
Der Kläger begehrt die Gewährung von Beihilfeleistungen für eine Bewegungstherapie.

Randnummer2
Der Kläger war in der Zeit von 1985 bis 2015 im Schuldienst der Beklagten tätig und befindet sich nunmehr im Ruhestand. Er kann Beihilfe zu einem Bemessungssatz von 70% beanspruchen.

Randnummer3
Mit Antrag vom 18. Oktober 2019 beantragte der Kläger bei der Beklagten Beihilfe zu seinen Aufwendungen in Höhe von insgesamt 1205,72 Euro. Dem Antrag fügte er eine Heilmittelverordnung der Ärztin Dr. med. A. vom 2. September 2019 über eine „LSVT-BIG“ Therapie bei (Bl. 4 d. Sachakte). Die zunächst dort aufgeführte Verordnung von „Krankengymnastik ZNS Doppelbehandlung“ wurde gestrichen. Als Diagnose wird unter anderem „Primäres Parkinson-Syndrom mit fehlender oder geringer Beeinträchtigung und ohne (Angabe einer) Wirkungsfluktuation; Bewegungsstörungen von Extremitäten, Rumpf- und Kopfmuskulatur“ angegeben. Daneben fügte der Kläger eine „Empfangsbestätigung durch den Versicherten“ bei (Bl. 5 d. Sachakte), in der er bestätigte, im Zeitraum zwischen dem 2. September 2019 und dem 17. September 2019 die „LSVT-BIG“-Therapie in der B-Praxis erhalten zu haben. Weiter fügte er eine Rechnung derselben Praxis für Leistungen in dem o.g. Zeitraum über einen Betrag von 550,00 Euro bei (Bl. 6 d. Sachakte).

Randnummer4
Mit Bescheid vom 7. November 2019 bewilligte die Beklagte eine Beihilfe in Höhe von 826,51 Euro und lehnte eine Beihilfefähigkeit im Übrigen hinsichtlich der am 16. Oktober 2019 erfolgten Heilbehandlung in Höhe von 550,00 Euro ab. Zur Begründung führte sie aus, bei der „LSVT-BIG-Therapie“ handele es sich um Aufwendungen, die dem Grunde nach nicht notwendig und der Höhe nach nicht angemessen und daher gemäß § 80 Abs. 4 Satz 1 HmbBG von der Beihilfefähigkeit ausgeschlossen seien.

Randnummer5
Gegen diesen Bescheid legte der Kläger am 13. November 2019, bei der Beklagten am 15. November 2019 eingegangen, Widerspruch ein. Zur Begründung führte er im Wesentlichen aus, die Begründung der Beklagten sei nicht nachvollziehbar, denn seine Krankenkasse habe die Behandlungskosten erstattet. Mit Schreiben vom 12. Februar 2020 legte der Kläger bei der Beklagten ein als neurologischer Befundbericht bezeichnetes Schreiben seiner behandelnden Ärztin Dr. med. A. vom 2. Februar 2020 vor, in welchem diese die LSVT-BIG-Therapie erläutert (Bl. 13 der Sachakte). Weiter führte der Kläger aus, aus dem Umstand, dass die erbrachten Leistungen keine Aufnahme in die Liste der Höchstbeträge gemäß § 9 Abs. 3 HmbBeihVO gefunden hätten, könne nicht abgeleitet werden, dass die im Streit stehenden Leistungen nicht beihilfefähig seien. Es treffe zu, dass die erbrachten Leistungen bislang nicht in den Heilmittelkatalog entsprechend der Heilmittelrichtlinie aufgenommen worden seien. Diese allerdings könne Geltung nur für gesetzlich versicherte Patienten beanspruchen und ohne ihre ausdrückliche Aufnahme in die Beihilferegelungen keinen Maßstab für Einschränkungen der Leistungspflicht im Rahmen der Beihilfe darstellen. Insbesondere könne aus der fehlenden Aufnahme in den Heilmittelkatalog kein Rückschluss auf die medizinische Notwendigkeit oder die Wirksamkeit der Therapie gezogen werden. Aus der Stellungnahme der behandelnden Ärztin vom 2. Februar 2020 sei die medizinische Notwendigkeit der Verordnung und die Wirksamkeit der Therapie zu entnehmen. Auch aus der S3-Richtlinie für das Parkinson-Syndrom (Stand 2014) könne bereits eine Empfehlung für die LSVT-BIG Therapie entnommen werden. Jedenfalls bestehe hinsichtlich der Wirksamkeit eine Überlegenheit gegenüber therapeutischen Vergleichsgruppen. Da den Regelungen in § 80 HmbBG und § 9 HmbBeihVO keine Beschränkung über die Kriterien der medizinischen Notwendigkeit, der ärztlichen Verordnung und der Leistungserbringung durch Angehörige der Medizinalberufe hinaus zu entnehmen sei, fehle es an einer rechtlichen Grundlage für die Ablehnung der beanspruchten Beihilfeleistung.

Randnummer6
Mit Widerspruchsbescheid vom 11. November 2020 wies die Beklagte den Widerspruch des Klägers zurück. Zur Begründung führte sie aus, die begehrte Aufwendung sei nicht beihilfefähig, denn § 9 Abs. 3 HmbBeihVO, welcher die Vorschrift des § 80 Abs. 4 HmbBG näher konkretisiere, stehe der Beihilfefähigkeit entgegen. Nach dieser Vorschrift sei die oberste Dienstbehörde berechtigt, durch Höchstsätze und Höchstgrenzen die Beihilfefähigkeit für Aufwendungen nach § 9 Abs. 1 HmbBeihVO zu begrenzen. Unstreitig sei, dass die in Rede stehende Leistung keine Aufnahme in die Auflistung der Anlage „Höchstbeträge für beihilfefähige Aufwendungen für Heilbehandlungen“ gefunden habe. Daraus könne jedoch nicht im Umkehrschluss gefolgert werden, dass nicht in der Liste enthaltene Therapien vollumfänglich beihilfefähig seien. Vielmehr verhalte es sich umgekehrt so, dass Therapien, die nicht in die Liste aufgenommen worden seien, auch nicht beihilfefähig seien. Dabei sei vor allem zu beachten, dass das Leistungsverzeichnis sehr umfassend und detailreich ausgestaltet sei. Dies bedeute im Umkehrschluss, dass alle weiteren Therapien, die nicht Teil der Auflistung seien, auch nicht beihilfefähig sein sollten. Zur Vornahme einer solchen Begrenzung sei die oberste Dienstbehörde auch berechtigt.

Randnummer7
Auch die Übernahme der Kosten durch die private Krankenversicherung lasse keine Rückschlüsse auf die Gewährung von Beihilfen zu. Die Leistung der privaten Krankenversicherung sei für das Beihilferecht unerheblich, denn der Umfang der Leistungen hänge vom rein privatrechtlichen Versicherungsvertrag und den Versicherungsbedingungen ab. Für die weitere Begründung wird auf den Widerspruchsbescheid Bezug genommen (Bl. 19 ff. d. A.).

Randnummer8
Der Kläger hat am 14. Dezember 2020 Klage erhoben. Zur Begründung wiederholt er sein Vorbringen aus dem Verwaltungsverfahren und trägt ergänzend vor, die LSVT-BIG-Therapie sei eine Heilbehandlung im Sinne von § 9 HmbBeihVO. Die Therapie beinhalte das Erlernen von Bewegungsübungen, welche die Gang- und Gleichgewichtsstörungen des Betroffenen verbessern sollen. Schwerpunkt der Therapie sei das Einüben großräumiger Bewegungen, die anschließend durch intensives Training im häuslichen Umfeld fortgeführt werden sollten. Die Therapieform sei zwar noch nicht in den Heilmittelkatalog der gesetzlichen Krankenkassen aufgenommen worden, jedoch würden die Kosten bei gesonderter Beantragung selbst von diesen zum Teil erstattet. Insbesondere würden die Kosten wegen des erwiesenen Nutzens von den privaten Krankenversicherungen erstattet, wie es auch im Fall des Klägers zu 30% geschehen sei.

Randnummer9
Es werde davon ausgegangen, dass der medizinische Nutzen der Bewegungstherapie von der Beklagten nicht in Abrede gestellt werde. Vorsorglich werde auf die Anwendungsempfehlung der S3-Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Neurologie zum idiopathischen Parkinson-Syndrom (Stand 12. März 2015) verwiesen. Die Therapieform sei zwar nicht in der auf Grundlage von § 9 Abs. 3 Ziff. 2 HmbBeihVO ergangenen Durchführungsverordnung enthalten. Nach dem Wortlaut ihrer Ermächtigungsgrundlage habe diese allerdings auch nur den Sinn und Zweck, Höchstsätze und Höchstgrenzen für bestimmte therapeutische Leistungen festzulegen. Dies verleihe nicht die Entscheidungskompetenz darüber, ob bestimmte therapeutische Leistungen überhaupt einer Beihilfefähigkeit unterlägen oder nicht. Die Ermächtigungsgrundlage gebe ausschließlich die Möglichkeit der Mengenbegrenzung, nicht aber des Ausschlusses bestimmter therapeutischer Leistungen von der Beihilfefähigkeit. Insbesondere könne aus dem Umstand, dass die streitgegenständliche Therapieform keinen Eingang in die Regelung zur Mengenbegrenzung gefunden habe, nicht der Schluss gezogen werden, dass es eine nicht beihilfefähige Therapieform wäre. Die Beantwortung dieser Frage entscheide sich allein nach den Regelungen in § 9 Abs. 1 und 2 der HmbBeihVO. Die darin geforderten Voraussetzungen für die hier streitgegenständliche Therapieform seien erfüllt.

Randnummer10
Es handele sich bei der LSVT-BIG-Therapie auch um eine wissenschaftlich allgemein anerkannte Behandlungsmethode; zudem seien die Regelungen in § 9 HmbBeihVO als lex specialis anzusehen. § 2 HmbBeihVO befasse sich mit der Beihilfefähigkeit von Aufwendungen für ärztliche, psychotherapeutische und zahnärztliche Leistungen. Aufwendungen für solche Leistungen seien nur beihilfefähig, wenn es sich um wissenschaftlich allgemein anerkannte Behandlungsmethoden handele. Die Voraussetzungen für die Beihilfefähigkeit von Heilbehandlungen seien demgegenüber in § 9 HmbBeihVO geregelt. Bei Heilbehandlungen könne eine wissenschaftlich allgemein anerkannte Behandlungsmethode nicht als Voraussetzung angesehen werden, weil es gerade für Heilbehandlungen entsprechende Untersuchungen nicht immer gebe. Daher seien die Voraussetzungen für die Erstattung von Aufwendungen bei Heilbehandlungen in § 9 HmbBeihVO abschließend geregelt, ohne dass auf § 2 Abs. 12 HmbBeihVO Rückgriff zu nehmen wäre. Sämtliche Voraussetzungen, die § 9 an die Erstattungsfähigkeit der Aufwendungen stelle, lägen vor. Insbesondere habe eine entsprechende ärztliche Verordnung vorgelegen und die Behandlung sei von einer hierfür qualifizierten Person ausgeführt worden. Dass die Behandlungsmethode nicht oder noch nicht in den Heilmittelkatalog der gesetzlichen Krankenversicherungen aufgenommen worden sei, besage nichts darüber, ob es sich um eine wissenschaftlich allgemein anerkannte Behandlungsmethode handele. Den Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherungen und damit dem Leistungsumfang nach dem Heilmittelkatalog liege das Wirtschaftlichkeitsgebot des § 12 SGB V zugrunde. Die HmbBeihVO nehme weder auf das vorgenannte Wirtschaftlichkeitsgebot noch auf den danach ausgerichteten Heilmittelkatalog Bezug. Daher könne dessen Leistungsumfang auch kein Kriterium für die Erstattungsfähigkeit von Aufwendungen für Heilbehandlungen sein.

Randnummer11
Ferner sei hinsichtlich der wissenschaftlichen Anerkennung darauf hinzuweisen, dass die streitgegenständliche Therapieform auch zum Leistungsumfang der Praxis für Physiotherapie am Universitätsklinikum Eppendorf (UKE) Hamburg gehöre. Auch wenn die Beklagte den Hinweis auf die Anwendung der streitgegenständlichen Behandlungsmethode am UKE als unerheblich bewertet habe, soll trotzdem erklärt werden, dass diese Behandlungsmethode auch an einer der in Deutschland führenden Zentren zur Behandlung der Parkinsonkrankheit, der Paracelsus-Elena-Klinik in Kassel, Anwendung finde.

Randnummer12
Im Hinblick auf die Rechtsprechung des OVG Münster zur wissenschaftlichen Anerkennung werde darauf hingewiesen, dass Heilmittel sicher nicht in dem Umfang in die wissenschaftliche Forschung eingingen wie medikamentöse Behandlungen oder apparativ gestützte Untersuchungs- und Behandlungsmethoden. Trotzdem werde auf einige Studien hingewiesen: In einer am 14. Dezember 2020 veröffentlichen Studie von Mitarbeitern der Universitäten Marburg und Köln sei bestätigt worden, dass die LSVT-BIG-Therapie, ebenso wie eine intensive individuelle Physiotherapie, geeignet sei, die behindernden motorischen Dysfunktionen und auch die nicht motorischen Symptome zu verbessern. Dabei sei festgestellt worden, dass die LSVT-BIG-Therapie einer konventionellen Physiotherapie überlegen sei. Die dieser Studie zugrundeliegenden Methoden entsprächen den Anforderungen, die an wissenschaftliche Studien zu stellen seien. Allein aus dieser Studie und den darin zitierten Quellen könne der Schluss gezogen werden, dass die streitgegenständliche Behandlungsmethode als allgemein wissenschaftlich anerkannt zu bewerten sei. In einer am 6. November 2021 veröffentlichten Einzelfallstudie von Yuicchi Hirakawa aus Japan sei festgestellt worden, dass bei einer mittelgradig erkrankten 63-jährigen Patientin die Verbesserungen der Symptomatik in Bezug auf Gehfähigkeit und Gehgeschwindigkeit für ein Jahr nachhaltig habe verbessert werden können. In einer am 13. Juli 2020 im Journal of Neuro Engineering and Rehabilitation veröffentlichen Studie seien Untersuchungen mit Hilfe von Körpersensoren an 34 Probanden durchgeführt worden, bei denen u.a. die Gehgeschwindigkeit und die Aufstehgeschwindigkeit gemessen worden seien. Von den Probanden seien 20 Parkinson-Patienten gewesen. Von diesen hätten zwölf Personen an einer LSVT-BIG-Therapie teilgenommen und acht Personen nicht. 14 Teilnehmer seien gesunde Kontrollpersonen gewesen. Die Studie habe zunächst die Eignung einer Messung mit Körpersensoren und zudem eine signifikante Verbesserung bei der Gehgeschwindigkeit und der Aufstehgeschwindigkeit über einen Zeitraum von vier Wochen bei den Probanden ergeben, die sich einer LSVT-BIG-Therapie unterzogen hätten gegenüber der nicht therapierten Kontrollgruppe. Weitere wissenschaftliche Untersuchungen, die die Wirksamkeit und Eignung der LSVT-BIG-Therapie bei der Behandlung von Parkinson-Patienten belegten, gebe es von Tatsuya Ueno u.a. vom 1. Februar 2017(https://www.hindawi.com/ journals/ pd/ 2017/ 8130140/) oder von Kang-Hyun Park u.a. vom 1. August 2019 (https:// ko-reascience.or.kr/journal/SGJOBA/v8n1.page).

Randnummer13
Soweit der Kläger zunächst die Verpflichtung der Beklagten zur Bewilligung von Beihilfeleistungen in Höhe von 550,00 Euro beantragt hat, hat er die Klage hinsichtlich des 385,00 Euro übersteigenden Betrages mit Schriftsatz vom 5. Februar 2021 zurückgenommen.

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Der Kläger beantragt schriftsätzlich nunmehr,

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die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des Bescheides vom 7. November 2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. November 2020 zu verpflichten, dem Kläger weitere Beihilfe in Höhe von 385,00 Euro für Heilbehandlungen zu gewähren, die ihm im September 2019 entstanden sind.

Randnummer16
Die Beklagte beantrag schriftsätzlich,

Randnummer17
die Klage abzuweisen

Randnummer18
und bezieht sich zur Begründung auf den Widerspruchsbescheid vom 11. November 2020 und trägt ergänzend vor, im Heilmittelkatalog (Stand 2021) seien bei der Diagnosegruppe Parkinson als vorrangige Heilmittel „Krankengymnastik“ und als ergänzende Heilmittel „Wärmetherapie, Kältetherapie, Elektrotherapie und Elektrostimulation“ aufgeführt. Eine klassische Krankengymnastik habe beim Kläger nicht stattgefunden. Diese Einschätzung finde sich auch auf der ärztlichen Verordnung wieder. Hier sei zunächst Krankengymnastik verordnet, dann aber durchgestrichen und durch „LSVT-BIG“ ersetzt worden.

Randnummer19
Aus beihilferechtlicher Sicht handele es sich um eine wissenschaftlich nicht allgemein anerkannte Behandlungsmethode, die gemäß § 2 Abs. 12 HmbBeihVO nicht beihilfefähig sei. Die Studienlage sei nicht ausreichend, um die LSVT-BIG-Therapie als wissenschaftlich allgemein anerkannte Behandlungsmethode zu betrachten. Eine Anwendungsempfehlung sei der S3-Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Neurologie zum idiopathischen Parkinson-Syndrom (Stand 2016) nicht zu entnehmen. Vorrangig setze sich diese Leitlinie mit der medikamentösen Behandlung von Parkinson auseinander. Zwar spreche die Leitlinie auch von „positiven Aspekten“ der Physiotherapien und auch davon, dass das Therapieverfahren „LSVT-BIG“ spezifisch für die Verbesserungen der Bewegungsamplituden bei IPS-bedingter Bradykinese entwickelt worden sei. Auf die Studienlage bei „LSVT-BIG“ gehe die Leitlinie jedoch nicht ein. Vielmehr werde unter anderem auf kommende Studien verwiesen. Entgegen der Annahme des Klägers handele es sich bei § 2 Abs. 12 HmbBeihVO um eine grundsätzliche Regelung, die alle Arten von Aufwendungen betreffe, mithin auch Heilbehandlungen im Sinne des § 9 HmbBeihVO. Die Vorschrift des § 2 HmbBeihVO konkretisiere die übergeordnete, allgemeine Norm des § 80 Abs. 4 HmbBG. Hierzu sei der Verordnungsgeber in § 80 Abs. 12 HmbBG ausdrücklich legitimiert worden. Würde man der Auffassung des Klägers folgen und sähe § 9 HmbBeihVO als lex spezialis an, hätte dies zur Folge, dass beispielsweise eine Heilbehandlung auch dann beihilfefähig wäre, wenn dem Beamten beispielsweise Heilfürsorge zustünde (§ 2 Abs. 6 HmbBeihVO) oder ein Anspruch auf Sach- und Dienstleistungen gegenüber der GKV bestünde (§ 2 Abs. 4 HmbBeihVO). Eine Beihilfe sei jedoch auch in diesen Fällen ausdrücklich von vornherein ausgeschlossen. Soweit der Kläger auf das Wirtschaftlichkeitsgebot des § 12 SGB V im Zusammenhang mit dem Heilmittelkatalog der GKV Bezug nehme, sei festzustellen, dass auch ein Anspruch auf Beihilfe nicht unbegrenzt bestehe. Fiskalische Interessen an der Vermeidung nicht gerechtfertigter Ausgabenaufwendungen lägen im öffentlichen Interesse. Da die Beihilferegelung eine den durchschnittlichen Verhältnissen angepasste Regelung sei, müsse bei ihr in Kauf genommen werden, dass nicht in jedem Fall eine volle Deckung der Aufwendungen erreicht werde. Der Beihilfeberechtigte habe nach dem hergebrachten Grundsatz der Fürsorgepflicht des Dienstherrn keinen selbstständigen Anspruch auf Ersatz aller seiner Aufwendungen für Krankheiten etc. Auch dürften die Beihilfevorschriften eine generalisierende, typisierende und pauschalisierende Regelung treffen. Eine Beihilfe sei somit ihrem Wesen nach eine Hilfeleistung, die neben der zumutbaren Eigenbelastung des Beihilfeberechtigten nur ergänzend in angemessenem Umfang einzugreifen habe, um in einem durch die Fürsorgepflicht gebotenen Maße die wirtschaftliche Lage des Beihilfeberechtigten durch Zuschüsse aus öffentlichen Mitteln zu erleichtern.

Randnummer20
Ein Angebot der streitgegenständlichen Therapieform in der Praxis für Physiotherapie am UKE Hamburg rechtfertige für sich allein gesehen keinen Kostenübernahmeanspruch gegenüber der Beihilfe.

Randnummer21
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren einverstanden erklärt.

Randnummer22
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Sachakte der Beklagten Bezug genommen, die bei der Entscheidung vorgelegen haben.

Entscheidungsgründe
I.

Randnummer23
Die Entscheidung ergeht im Einverständnis der Beteiligten gemäß § 101 Abs. 2 VwGO im schriftlichen Verfahren.

II.

Randnummer24
Soweit der Kläger die Klage durch Reduzierung seiner Klageforderung zurückgenommen hat, wird das Verfahren gemäß § 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO eingestellt.

III.

Randnummer25
Die Klage hat keinen Erfolg.

Randnummer26
Die als Verpflichtungsklage gemäß § 42 Abs. 1 Alt. 2 VwGO statthafte und auch im Übrigen zulässige Klage ist unbegründet. Die Ablehnung der Bewilligung einer (weiteren) Beihilfe mit Bescheid vom 7. November 2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. November 2020 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (vgl. § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Der Kläger hat keinen Anspruch auf Gewährung der Beihilfe hinsichtlich der streitgegenständlichen LSVT-BIG-Therapie in Höhe von 385,- Euro. Die Aufwendungen sind nicht nach § 80 des Hamburgischen Beamtengesetzes (HmbBG) in Verbindung mit der Hamburgischen Verordnung über die Gewährung von Beihilfen in Krankheits-, Pflege-, Geburts- und Todesfällen beihilfefähig (Hamburgische Beihilfeverordnung – HmbBeihVO) (dazu 1.). Ein Anspruch auf die Gewährung von Beihilfe zu diesen Aufwendungen ergibt sich auch nicht aus dem Verfassungsrecht (dazu 2.).

Randnummer27
1. Die Voraussetzungen des § 80 Abs. 4 Satz 1 HmbBG in Verbindung mit § 9 HmbBeihVO liegen nicht vor. Danach sind Aufwendungen beihilfefähig, wenn sie dem Grunde nach notwendig und der Höhe nach angemessen sind. Welche Aufwendungen danach unter welchen genauen Voraussetzungen beihilfefähig sind, hat der Senat durch die HmbBeihVO auf Grundlage des § 80 Abs. 12 HmbBG geregelt. Gemäß § 9 Abs. 1 Satz 1 HmbBeihVO sind Aufwendungen für aus Anlass einer Krankheit ärztlich oder zahnärztlich schriftlich angeordnete Inhalationen, Krankengymnastiken und Bewegungsübungen, Massagen, Packungen, Hydrotherapien, Bäder, Kälte- und Wärmebehandlungen, Elektrotherapien, Lichttherapien, logopädische Behandlungen, Beschäftigungstherapien (Ergotherapien) und podologische Behandlungen und die dabei verbrauchten Stoffe beihilfefähig. Gemäß Absatz 3 der Vorschrift kann die oberste Dienstbehörde die Beihilfefähigkeit für Aufwendungen nach Absatz 1 für bestimmte therapeutische Leistungen vom Vorliegen von Indikationen abhängig machen (Nr. 1) und durch Höchstsätze und Höchstgrenzen für die Behandlungsanzahl je Krankheitsfall für bestimmte therapeutische Leistungen begrenzen (Nr. 2).

Randnummer28
Der Kläger ist als pensionierter Landesbeamter im Dienst der Beklagten gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2, Abs. 9 Satz 1 und 2 Nr. 2 HmbBG beihilfeberechtigt mit einem Bemessungssatz von 70%. Seine Aufwendungen für die LSVT-BIG-Therapie gemäß der streitgegenständlichen Rechnung sind jedoch von dem Ausschluss nach § 2 Abs. 12 Satz 1 HmbBeihVO erfasst und daher nicht beihilfefähig (hierzu a.). Auch die Voraussetzungen der Ausnahmevorschriften nach § 2 Abs. 12 Satz 2 HmbBeihVO (hierzu b.) und § 80 Abs. 9 Satz 11 HmbBG (hierzu c.) sind nicht erfüllt. Vor diesem Hintergrund kommt es nicht mehr darauf an, ob – wie der Kläger vorträgt – § 9 Abs. 3 HmbBeihVO dahingehend zu verstehen ist, dass die nicht in der Durchführungsverordnung über die Höchstsätze und Höchstgrenzen für die Behandlungsanzahl je Krankheitsfall für bestimmte therapeutische Leistungen enthaltenen Heilbehandlungen in vollem Umfang beihilfefähig sind.

Randnummer29
a. Der Beihilfefähigkeit der streitgegenständlichen Aufwendungen des Klägers für die LSVT-BIG-Therapie steht § 2 Abs. 12 Satz 1 HmbBeihVO entgegen.

Randnummer30
Gemäß § 80 Abs. 4 Satz 1 HmbBG sind Aufwendungen beihilfefähig, wenn sie dem Grunde nach notwendig und soweit sie der Höhe nach angemessen sind. Das Nähere hat der Senat auf der Grundlage des § 80 Abs. 12 HmbBG durch die Hamburgische Beihilfeverordnung geregelt. Nach § 2 Abs. 12 Satz 1 HmbBeihVO nicht beihilfefähig sind Aufwendungen für wissenschaftlich nicht allgemein anerkannte Behandlungsmethoden. Für die wissenschaftliche Anerkennung ist ebenfalls auf den Zeitpunkt des Entstehens der Aufwendungen abzustellen (vgl. OVG Münster, Beschl. v. 14.2.2007, 1 A 1048/05, juris, Rn. 31; VG Köln, Urt. v. 14.11.2008, 19 K 4691/06, juris, Rn. 27 ff.). Dass die Vorschrift entgegen der Rechtsauffassung des Klägers eine grundsätzliche Regelung ist, die § 80 Abs. 4 HmbBG konkretisiert und alle Arten von Aufwendungen, darunter auch die Aufwendungen für Heilbehandlungen im Sinne des § 9 HmbBeihVO betrifft, ergibt sich bereits aus der Systematik der HmbBeihVO, denn die Verordnungsgeberin hat die Vorschrift des § 2 HmbBeihVO im „Abschnitt I – Allgemeine Vorschriften“ verortet und damit deutlich gemacht, dass die Vorschrift alle folgenden, insbesondere die unter „Abschnitt II – Aufwendungen im Krankheitsfall“ verorteten Vorschriften, beschränkt. Auch der Wortlaut von § 2 Abs. 12 HmbBeihVO sowie von § 9 HmbBeihVO geben keinerlei Hinweise darauf, dass der Gesetzgeber § 9 HmbBeihVO als lex specialis zu § 2 Abs. 12 HmbBeihVO vorsehen wollte. Dass es gerade für Heilbehandlungen im Sinne von § 9 HmbBeihVO Untersuchungen zu deren Wirksamkeit nicht immer gibt, wie der Kläger vorträgt, führt nicht zu einem anderen Ergebnis. Denn Sinn und Zweck der Vorschrift des § 2 Abs. 12 HmbBeihVO dürfte gerade der Ausschluss von Beihilfeleistungen für nicht erwiesen wirksame und anerkannte Heilbehandlungen sein, um die öffentlichen Mittel nicht für Behandlungen aufzuwenden, die keine positiven Auswirkungen auf den Gesundheitszustand des jeweils Betroffenen haben.

Randnummer31
Die Behandlung mit der LSVT-BIG-Therapie war im Zeitpunkt des Entstehens der Aufwendungen im Jahr 2019 keine wissenschaftlich allgemein anerkannte Behandlungsmethode für die Erkrankungen des Klägers.

Randnummer32
Eine Behandlungsmethode ist wissenschaftlich allgemein anerkannt, wenn sie von der herrschenden oder doch überwiegenden Meinung in der medizinischen Wissenschaft für eine Behandlung der Krankheit als wirksam und geeignet angesehen wird. Um „anerkannt“ zu sein, muss einer Behandlungsmethode von dritter Seite – also von anderen als dem/den Urheber(n) – attestiert werden, zur Heilung einer Krankheit oder zur Linderung von Leidensfolgen geeignet zu sein und wirksam eingesetzt werden zu können. Um „wissenschaftlich“ anerkannt zu sein, müssen Beurteilungen von solchen Personen vorliegen, die an Hochschulen und an anderen Forschungseinrichtungen als Wissenschaftler in der jeweiligen medizinischen Fachrichtung tätig sind. Für die Allgemeinheit der Anerkennung schließlich muss die Therapieform zwar nicht ausnahmslos, aber doch überwiegend in den fachlichen Beurteilungen als geeignet und wirksam eingeschätzt werden. Somit ist eine Behandlungsmethode dann „wissenschaftlich nicht allgemein anerkannt“, wenn eine Einschätzung ihrer Wirksamkeit und Geeignetheit durch die in der jeweiligen medizinischen Fachrichtung tätigen Wissenschaftler nicht vorliegt oder wenn die überwiegende Mehrheit der mit der Methode befassten Wissenschaftler die Erfolgsaussichten als ausgeschlossen oder jedenfalls gering beurteilt (vgl. BVerwG, Urt. v. 29.6.1995, 2 C 15/94, juris, Rn. 16; OVG Münster, Beschl. v. 14.2.2007, 1 A 1048/05, juris, Rn. 38; OVG Hamburg, Beschl. v. 23.10.2008, 1 Bf 357/08, n.v., BA S. 4; VGH Mannheim, Urt. v. 14.7.2010, 11 S 2730/09, juris, Rn. 32, jeweils m.w.N.). Die zur Beurteilung herangezogenen Äußerungen müssen zuverlässig und wissenschaftlich nachprüfbar sein. Grundlage können daher nur solche klinischen Studien sein, die wissenschaftlichen Standards genügen und deshalb einen hohen Evidenzgrad aufweisen. Dies setzt voraus, dass die beschriebenen Wirkungen unter gleichen Bedingungen, d.h. bei gleichem Studiendesign, jederzeit wiederholbar („verifizierbar“) sind. Insoweit bedarf es grundsätzlich der Einbeziehung einer adäquaten Kontrollgruppe, die entweder standardisiert behandelt wird oder – bei Fehlen eines allgemein akzeptierten Standards – mit einem Placebo behandelt wird bzw. unbehandelt bleibt. Die – bezogen auf die relevanten Zielkriterien ausreichend vielen – Patienten müssen den Therapien zufällig zugeordnet werden, um die Strukturgleichheit der Gruppen zu gewährleisten (Randomisierung). Um eine systematische Verzerrung des Studienergebnisses etwa durch Placebo-Effekte zu vermeiden, sollte die Gruppenzugehörigkeit der Patienten weder diesen noch den behandelnden Ärzten noch – idealerweise – den Auswertern bekannt sein (doppelte bzw. dreifache Verblindung – OVG Münster, Urt. v. 19.10.2017, 1 A 1712/14, juris, Rn. 54 f. m.w.N.). Entgegen der Rechtsauffassung des Klägers sind diese Anforderungen auch für Heilmittel und nicht nur für Arzneimittel maßgeblich, denn weder aus § 2 Abs. 12 Satz 1 HmbBeihVO noch aus der Rechtsprechung betreffend die allgemeine wissenschaftliche Anerkennung im Rahmen der Beihilfe ergeben sich Anhaltspunkte dafür, dass eine Differenzierung vorzunehmen wäre.

Randnummer33
Nach diesen Maßstäben ist eine allgemeine wissenschaftliche Anerkennung der Behandlung mit der streitgegenständlichen LSVT-BIG-Therapie zur Überzeugung des Gerichts für die Erkrankungen des Klägers im maßgeblichen Zeitraum im Jahr 2019 nicht gegeben. Diese ergibt sich nicht bereits aus dem vom Kläger vorgelegten Schreiben der behandelnden Ärztin Dr. med. A. vom 2. Februar 2020 mit der Überschrift „Neurologischer Befundbericht über o.gen. Patienten/in“ (Bl. 38 d. A.). In diesem Schreiben führt die Unterzeichnerin unter anderem aus, die LSVT-BIG-Therapie im Rahmen der Parkinson-Erkrankung sei eine wissenschaftlich begründete, auf das Krankheitsbild der akinetischen mit Rigor assoziierten Bewegungsabläufe zugeschnittene Form der Physiotherapie. Das Schreiben benennt jedoch lediglich die wissenschaftliche Begründung der Therapieform und zitiert keine wissenschaftlichen Wirksamkeitsnachweise.

Randnummer34
Geeignete wissenschaftliche Studien, aus denen sich eine überwiegende positive Beurteilung der Wirksamkeit einer Behandlung mit der LSVT-BIG-Therapie für die Parkinson-Erkrankung des Klägers ergeben könnte, hat der Kläger weder im Gerichts- noch im vorangegangenen Verwaltungsverfahren hinreichend substantiiert angeführt und es ist auch für das Gericht nicht zu erkennen, dass eine ausreichende Studienlage gegeben ist. Soweit der Kläger auf die Anwendungsempfehlung der S3-Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Neurologie zum idiopathischen Parkinson-Syndrom verweist, kann dies den Nachweis einer allgemeinen wissenschaftlichen Anerkennung nicht erbringen. Zum einen handelt es sich dabei nicht um eine wissenschaftliche Studie, zum anderen beschäftigt sich die Leitlinie vorrangig mit der Diagnostik und der medikamentösen Behandlung der Parkinson-Erkrankung; mit der LSVT-BIG-Therapie beschäftigt sich die Leitlinie nur in einzelnen Ansätzen (vgl. S3-Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Neurologie [DGN] zum idiopathischen Parkinson-Syndrom, Langversion, Stand 2016, https://dgn.org/wp-content/uploads/2013/01/030010_LL_langfassung_ips_2016.pdf, zuletzt abgerufen am 23.3.2022 bzw. Kurzversion, ebenfalls Stand 2016, https://dgn.org/wp-content/uploads/2013/01/030010_LL_kurzfassung_ips_2016.pdf, zuletzt abgerufen am 23.3.2022). Auf die Studienlage gehen weder die Kurz- noch die Langversion im Detail ein. In der Kurzversion wird zur LSVT-BIG-Therapie unter dem Punkt „Physiotherapie im Vergleich zu medizinischer Standardtherapie bzw. Placebo“ allein ausgeführt:

Randnummer35
„Während Physiotherapie lange Zeit weitgehend empirisch angewendet wurde, haben methodisch hochwertige Studien in den letzten Jahren die Grundlage für eine Bewertung nach wissenschaftlichen Gesichtspunkten geschaffen.

Randnummer36
In einer Metanalyse von 29 Studien fand das Cochrane-Institut 2012 signifikante Verbesserungen von Gehgeschwindigkeit, Gangblockaden, „timed-up and go“, Gleichgewicht und den Skalenwerten des UPDRS III nach physiotherapeutischer Intervention. Für Sturzhäufigkeit und Lebensqualität fanden sich keine signifikanten Besserungen. In neueren Studien wurde allerdings eine geringere Inzidenz von Stürzen nach Tai-Chi und eine Besserung der Lebensqualität (gemessen mit der Parkinson’s Disease Questionnaire 39 (PDQ-39-Skala) beschrieben.

Randnummer37
Physiotherapie sollte in der Frühphase des IPS darauf ausgerichtet sein, der zunehmenden Bewegungsverarmung entgegenzuwirken. Besonders geeignet sind Trainingsverfahren, bei denen großamplitudige Bewegungen, Bewegungsrhythmus, und Schnelligkeit geübt werden. Nordic Walking und andere sportliche Aktivitäten können hierfür eingesetzt werden. Das Therapieverfahren LSVT-BIG wurde spezifisch für die Verbesserung der Bewegungsamplituden bei IPS-bedingter Bradykinese entwickelt. In fortgeschrittenen Stadien des IPS ist Physiotherapie auf manifeste Störungen ausgerichtet, die nicht oder nur unzureichend durch die medikamentöse Einstellung beeinflusst werden. Empfehlenswerte Techniken sind z.B. das Training posturaler Reflexe („Schubstraining“) oder das Erlernen von Techniken zur Überwindung von Gangblockaden. Zudem ist die Anleitung von Betreuungsperso- nen vor allem im fortgeschritten Stadium sinnvoll, insbesondere zur Verwendung von Hilfsmittels (u. a. Mobilitätshilfen) und der Hilfestellung bei Transfers/Mobilität. Ziel sollte es sein, eine größtmögliche Sicherheit für Betroffene und Betreuungspersonen zu schaffen. Auch in schwersten Krankheitsstadien ist physiotherapeutische Behandlung, z.B. zur Verbesserung von Transfers und Vermeidung von Kontrakturen empfehlenswert.

Randnummer38
Eine vergleichende Bewertung einzelner physiotherapeutischer Techniken ist problematisch, da die vorliegenden Studien mit heterogenen Populationen, Zielparametern und Nachbeobachtungszeiträumen durchgeführt und die Ergebnisse meist nicht von mehreren unabhängigen Studiengruppen reproduziert wurden. Die methodische Problematik eines sehr breiten und weiter wachsenden Spektrums an Behandlungsansätzen beinhaltet allerdings auch einen Vorteil für den klinischen Alltag: Anstelle eines „eine-Größe-für-alle“-Ansatzes, kann der Therapeut auf ein „Menü“ klinisch geprüfter Techniken zugreifen und ein den Bedürfnissen, Interessen und Präferenzen des Betroffenen angepasstes Programm auswählen.

Randnummer39
Für kommende Studien besteht die Herausforderung, die positiven Effekte von Physiotherapie auf quantitative Messungen und klinische Skalen durch Patienten-relevante Parameter (insbesondere Instrumente zur Erfassung der Lebensqualität wie PDQ-39) zu untermauern.“

Randnummer40
Die Langversion der Leitlinie führt unter dem Punkt „Von der Evidenz zur Empfehlung“ Ähnliches aus:

Randnummer41
„Die Zahl an RCTs zur Wirksamkeit von Physiotherapie ist in den letzten Jahren rasant gestiegen. Trotz der im Vergleich zu älteren Studien oft besseren methodischen Qualität ist die Beurteilung auch weiterhin durch heterogene Behandlungsansätze und Erfolgskriterien erschwert. Klinisch bedeutsame Unterschiede in der Wirksamkeit verschiedener physiotherapeutischer Behandlungsverfahren lassen aus dem indirekten Vergleich der Studien zu Physiotherapie vs. keine Intervention nicht ableiten. In den Studien in denen verschiedene Physiotherapie-Verfahren einander gegenübergestellt wurden, wurden Vorteile für Tai-Chi, LSVT-BIG, Aerobes Training, Exzentrisches Ergometertraining, Laufbandtraining, Robotic Stepper Device und Video-basierte Instruktion gegenüber den jeweiligen Vergleichsinterventionen beschrieben (Tab. 53). Eine im Vergleich zu einer Kontrollgruppe messbare Retention von Therapie-Effekten 3–6 Monate nach Beendigung der Intervention konnte für multidisziplinäre Interventionen (Frazzitta 2012, Tickle-Degnen 2010), LSVT-BIG (Ebersbach 2010), QiGong (Schmitz-Hubsch 2006), Tai-Chi (Li 2012), Training von Bewegungsstrategien (Morris 2009) sowie für Laufband- bzw. geräteassistiertes Gehtraining (Carda 2012) gezeigt werden.

Randnummer42
Auf eine Auflistung der einzelnen Methoden bezüglich ihrer Evidenzen wird daher verzichtet, da die Studien mit heterogenen Populationen, Zielparametern und Nachbeobachtungszeiträumen durchgeführt und die Ergebnisse meist nicht von mehreren unabhängigen Studiengruppen reproduziert wurden. Die methodische Problematik eines sehr breiten und weiterwachsenden Spektrums an Behandlungsansätzen beinhaltet allerdings auch einen Vorteil für den klinischen Alltag: Anstelle eines „eine-Größe-für-alle“-Ansatzes, kann der Therapeut auf ein „Menü“ klinisch geprüfter Techniken zugreifen und ein den Bedürfnissen, Interessen und Präferenzen des Betroffenen angepasstes Programm auswählen.“

Randnummer43
Für kommende Studien besteht die Herausforderung, die positiven Effekte von Physiotherapie auf quantitative Messungen und klinische Skalen durch Patienten-relevante Parameter (insbesondere Instrumente zur Erfassung der Lebensqualität wie PDQ-39) zu untermauern. Außerdem ist anhand der aktuellen Studienlage für viele Behandlungsverfahren keine Beurteilung der Wirksamkeit und Sicherheit in fortgeschrittenen Krankheitsstadien (untersucht wurden meist Patienten in Hoehn & Yahr – Stadien I-III) und bei Multimorbidität (einschließlich kognitiver Defizite/Demenz) möglich.“

Randnummer44
Bereits daraus ergibt sich, dass noch keine ausreichende Studienlage zur Wirksamkeit der LSVT-BIG-Therapie vorhanden ist und dass die DGN gerade keine Empfehlung für diese Therapie zur (unterstützenden) Behandlung der Parkinson-Krankheit ausspricht. Es wird zwar unter „Empfehlung 51“ (S. 201 der Langfassung) ausgeführt, dass Patienten mit IPS (idiopathischem Parkinson-Syndrom) Zugang zu physiotherapeutischer Behandlung haben sollen, eine spezielle Empfehlung für eine LSVT-BIG-Therapie ist darin jedoch nicht zu sehen.

Randnummer45
Soweit die Langversion auf eine Studie von Ebersbach aus dem Jahr 2010 (Ebersbach G, Ebersbach A, Edler D, Kaufhold O, Kusch M, Kupsch A, Wissel J. Comparing exercise in Parkinson’s disease – the Berlin LSVT(R)BIG study. Mov Disord. 2010;25(12):1902-8.) zu LSVT-BIG vs. Nordic-Walking vs. Hausübungen verweist und dazu ausführt, „LSVT-BIG wirksam, keine Veränderungen in den Vergleichsgruppen“ (S. 198 der Leitlinie), ist zu berücksichtigen, dass dies die einzige, dort aufgeführte Studie betreffend die LSVT-BIG-Therapie ist und dass die Leitlinie selbst, wie bereits ausgeführt, auf das Fehlen von Reproduktionen der Studien und auf die Heterogenität der Parameter verweist.

Randnummer46
Diese Studie hat zwar Eingang in die Datenbank der Cochrane-Library einschließlich des von Cochrane geführten Registers randomisierter und quasi-randomisierter kontrollierter Studien gefunden, kann jedoch nach den genannten Maßstäben nicht als Grundlage für eine positive Einschätzung der Wirksamkeit und Geeignetheit einer neuen Behandlungsmethode herangezogen werden. Unter dem Namen Cochrane wirkt nach eigener Darstellung ein weltweites Netzwerk von Wissenschaftlern und Ärzten mit dem Ziel, den Zugang zu erreichbarer, verlässlicher Gesundheitsinformation zu schaffen, um informierte Entscheidungen zu ermöglichen (vgl. Cochrane Deutschland, online: https://www.cochrane.de/de/ueber-uns und https://www.cochrane.de/de/zielsetzung). Cochrane Deutschland ist eine zentrale Einrichtung des Universitätsklinikums Freiburg und wird vom Bundesministerium für Gesundheit gefördert (vgl. Cochrane Deutschland, https://www.cochrane.de/de/cochrane-deutschland). Die Datensammlung der Cochrane-Library ermöglicht einen Überblick über den Stand der Forschung bei der Anwendung einzelner Medikamente oder Präparate und ermöglicht Recherchen zur Frage, inwieweit die Behandlungsmethode anerkannt ist. Dabei sagt die einzelne Nennung nichts über die Anerkennung selbst aus, vielmehr kann auf eine allgemeine wissenschaftliche Anerkennung erst nach der Bewertung der Einträge in der Cochrane-Library geschlossen werden (vgl. VGH München, Beschl. v. 14.6.2010, 14 ZB 10.104, juris, Rn. 3; VG Hamburg, Urt. v. 31.1.2019, 21 K 4009/17, n.v. UA S. 11). Die Cochrane-Library umfasst unter anderem eine Datenbank mit bibliografischen Angaben zu Veröffentlichungen von randomisierten und quasi-randomisierten kontrollierten Studien (Cochrane Central Register of Controlled Trials, CENTRAL, vgl. Cochrane Library, online: https://www.cochranelibrary.com/about/about-cochrane-library). Die genannte Studie erfüllt bereits deshalb nicht die dargestellten Kriterien, weil es an der doppelten Verblindung fehlt. Hinzu kommt, dass die Studie mit lediglich 60 Patienten mit leichten oder mittelschweren Formen der Parkinson-Erkrankung durchgeführt wurde, welche in drei Gruppen aufgeteilt wurden, von denen eine die LSVT-BIG-Therapie erhielt, eine andere Gruppe ein Nordic-Walking-Training durchführte, während die dritte Gruppe häusliche Trainings ohne Begleitung durchführte. Eine doppelte Verblindung wurde auch nicht in der Studie desselben Urhebers „Amplitude-oriented exercise in Parkinson’s disease: a randomized study comparing LSVT-BIG and a short training protocol“ (Georg Ebersbach, Ute Grust, Almut Ebersbach, Brigitte Wegner, Florin Gandor & Andrea A. Kühn), veröffentlicht im Journal of Neural Transmission, Volume 122 (2015), S. 253–256 durchgeführt, an der 42 Patienten teilnahmen, von denen 34 die Studie beendeten. In beiden Studien ist lediglich dem Untersuchenden nicht bekannt, ob die zu untersuchenden Personen die LSVT-BIG-Therapie erhalten haben, nicht jedoch zusätzlich den Patienten selbst (jeweils unter „Discussion“ wird ausgeführt: „In the present prospective controlled, rater-blinded study“). Zudem vergleicht diese Studie nicht die Wirksamkeit der LSVT-BIG-Therapie mit anderen Therapieansätzen oder einer Placebo-Therapie, sondern differenziert lediglich zwischen einer Gruppe, welche das Standard-Protokoll dieser Therapie erhält und einer weiteren Gruppe, die ebenfalls mit der LSVT-BIG-Therapie behandelt wird, allerdings mit einem kürzen Programm („the aim of the current study was therefore to compare the effects of the LSVT-BIG standard protocol with a shorter protocol comprising of 10 (5/week for 2 weeks) sessions“).

Randnummer47
Auch unter Berücksichtigung der weiteren vom Kläger zitierten Studien ergibt sich kein anderes Ergebnis. Insbesondere handelt es sich bei dem als Studie zitierten Report „Short-term effect and its retention of LSVT® BIG on QOL improvement: 1-year follow-up in a patient with Parkinson’s disease“ lediglich um eine Fallbeschreibung einer 63-jährigen Patientin, in der zudem auf fehlende Langzeitstudien hingewiesen wird: „There are no reports regarding the long-term retention of effects of Lee Silverman Voice Treatment® BIG (LSVT® BIG) on improvements in quality of life (QOL) among patients with Parkinson’s disease (PD).“ Soweit der Kläger darüber hinaus auf eine am 13. Juli 2020 im Journal of NeuroEngineering and Rehabilitation veröffentliche Studie verweist, fehlt es ungeachtet dessen, dass die Studie nach dem hier maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt veröffentlicht wurde, an substantiierten Anhaltspunkten dazu, dass ausgehend von lediglich zwölf Personen, die an einer LSVT-BIG-Therapie teilgenommen haben, statistisch valide Ergebnisse haben ermittelt werden können.

Randnummer48
Dass es anderen Studien gibt, aus denen eine allgemeine wissenschaftliche Anerkennung der streitgegenständlichen Heilbehandlung hervorgeht, wurde nicht vorgetragen und ist auch nicht ersichtlich. In der Cochrane-Library werden neben den zwei bereits genannten Studien insgesamt acht weitere Studien aufgeführt, in denen die LSVT-BIG-Therapie im Zusammenhang mit einer Parkinson-Erkrankung betrachtet wird. Die japanische Studie „LSVT-BIG Improves UPDRS III Scores at 4 Weeks in Parkinson’s Disease Patients with Wearing Off: A Prospective, Open-Label Study, von Tatsuya Ueno, Megumi Sasaki, Haruo Nishijima, Yukihisa Funamizu, Tomoya Kon, Rie Haga, Akira Arai, Chieko Suzuki, Jinichi Nunomura, Masayuki Baba und Masahiko Tomiyama, veröffentlicht im Hindawi Journal 2017 erfüllt ebenfalls nicht die dargestellten Kriterien, weil es an der doppelten Verblindung fehlt. Es wird dort ausgeführt, dass dem untersuchenden Neurologen bekannt war, ob die untersuchte Person Studienteilnehmer ist („The evaluating neurologist was not blinded to the subject’s participation in this study.“). Hinzu kommt, dass diese Studie an lediglich acht Patienten durchgeführt wurde. Auf die so geschwächte Aussagekraft der Studie weist diese selbst hin („Generalization of our findings is limited by the open-label study design and sample size“).

Randnummer49
Einfach verblindet sind auch die in der Cochrane-Library zu findenden Studien „Comparing computer-aided therapy with conventional physiotherapy in Parkinson‘s disease: an equivalence study“ von M. Unterreiner, C. Biedermann, R. El‐Fahem, M. John, S. Klose, C. T. Haas und T, Wachter, veröffentlicht in „Neurology Asia“, 2019, S. 309‐315 (hier wird die Studie als „controlled, rater‐blinded study“ beschrieben) sowie „Development and Research of an Individualized Intelligent Platform for Rehabilitaion in Parkinson’s Disease“ des Taipei Veterans General Hospital, Taiwan (hier wird ausgeführt: „Single blind data collection will be used.“). Die Studie „Neuronal plasticity of network topography in parkinson disease through LSVT-BIG therapy“ der Universität Köln wurde ausweislich der International Clinical Trials Registry Platform der World Health Organisation (WHO), auf die die Cochrane-Library verweist, vollständig offen durchgeführt und erfüllt deshalb ebenfalls nicht die vorgenannten Kriterien. Offen durchgeführt wurden auch die Studien „The Effects of Telerehabilitation-based Exercise Trainings on Gait and Balance in Parkinson’s Patients“ der Yeditepe University aus dem Jahr 2021 (vgl. die Studiendetails unter https://clinicaltrials.gov/ct2/show/NCT04694872, verlinkt durch die Cochrane-Library, abgerufen am 23.3.2022) sowie die Studie „Effects of Lee Silverman Voice Treatment BIG and conventional physiotherapy on non-motor and motor symptoms in Parkinson’s disease: a randomized controlled study comparing three exercise models“ von F. Schaible, F. Maier, T.M. Buchwitz, F. Schwartz, M. Hoock, E. Schonau, M. Libuda, A. Hordt, T. van Eimeren, L. Timmermann und C. Eggers (vgl. die in dem Register „International Clinical Trials Registry Platform“ der WHO enthaltenen Studiendetails: „Masking: Open (masking not used). Diese beiden Studien wurden zudem nach dem maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt, dem Entstehen der Aufwendungen im Jahr 2019, durchgeführt.

Randnummer50
Die – soweit erkennbar – einzige in der Cochrane-Library aufgeführte Studie, welche randomisiert und doppelt verblindet durchgeführt wurde und auch im Übrigen den dargestellten Anforderungen genügt, ist die Studie „Effect of Exercise on Motor and Nonmotor Symptoms of Parkinson’s Disease“ von Khashayar Dashtipour, Eric Johnson, Camellia Kani, Kayvan Kani, Ehsan Hadi, Mark Ghamsary, Shant Pezeshkian and Jack J. Chen, veröffentlicht im Hindawi Journal, Volume 2015. Unabhängig von der Methodik und den Ergebnissen der Studie kann von einer derart geringen Anzahl an klinischen Studien nicht darauf geschlossen werden, dass die „LSVT-BIG“-allgemein anerkannt, also überwiegend in den fachlichen Beurteilungen als geeignet und wirksam eingeschätzt wird. Darüber hinaus kommt auch diese Studie nicht zu einer eindeutigen Bestätigung der Wirksamkeit der Therapie, vielmehr weist sie unter dem Punkt „Discussion“ noch auf Unsicherheiten hin: „There are bodies of evidence that support impact of the exercise on the brain with increasing synaptogenesis and neurotrophic factors [29, 30]. This trial was not able to detect the difference between the two groups but showed that our general exercise protocol was as effective as LSVT BIG therapy which may prove beneficial for patients unable to access outpatient LSVT BIG therapy. […] In the present study, our findings suggest that LSVT BIG therapy could be effective on controlling nonmotor symptoms of PD such as depression, anxiety, and fatigue. In a previous trial [22] comparing the efficacy of LSVT BIG therapy and exercise, a bias was detected in favor of LSVT BIG therapy. LSVT BIG therapy was conducted in a one-to-one fashion but exercise was applied in a group session. In the current study, to avoid this error, we designed a general exercise protocol that incorporated a one-to-one interaction between patients and their therapists.“ Darüber hinaus weist die Studie darauf hin, dass weitere Studien mit mehr Patienten in verschiedenen Stadien der Krankheit notwendig sind, um eine gesicherte Aussage treffen zu können: „Larger studies with more patients at different stages of the disease with multiple therapeutic arms are needed. The new trials would not only improve our understanding about the impact of exercise on neurodegenerative disorders, but also help us to improve our skills in managing patients with PD with multiple complications.“

Randnummer51
Die in der Cochrane-Library zur LSVT-BIG-Therapie enthaltene Review „Physiotherapy for Parkinson’s disease: a comparison of techniques“ von Claire L. Tomlinson, Clare P. Herd, Carl E. Clarke, Charmaine Meek, Smitaa Patel, Rebecca Stowe, Katherine H.O. Deane, Laila Shah, Catherine M. Sackley, Keith Wheatley und Natalie Ives aus dem Jahr 2014, die sich mit der Studienlage befasst, führt ebenfalls zu keinem anderen Ergebnis. Die Verfasser nehmen zwar Bezug auf die in den Leitlinien der DGN bezeichneten Studie von Ebersbach (2010), setzen sich mit dieser aber nicht inhaltlich vertieft auseinander und kommen nicht zu einer eigenen, wissenschaftlich fundiert begründeten Aussage zu den Studienergebnissen. Überdies spricht die Tatsache, dass lediglich eine Review betreffend die Studien zur LSVT-BIG-Therapie zu finden ist, ebenfalls gegen eine allgemeine wissenschaftliche Anerkennung, denn daraus lässt sich erkennen, dass noch keine breite wissenschaftliche Diskussion der zur Verfügung stehenden Ergebnisse stattgefunden hat, die denklogisch Voraussetzung für eine allgemeine wissenschaftliche Anerkennung wäre.

Randnummer52
Auch daraus, dass – wie der Kläger vorträgt – das UKE und die Paracelsus-Elena-Klinik in Kassel die Therapie anwenden, folgt nichts anderes. Denn seitens der Kliniken besteht keine Verpflichtung, ausschließlich wissenschaftlich anerkannte Therapien anzubieten, vielmehr besteht die Möglichkeit, auch experimentelle Therapien durchzuführen. Aus dem bloßen Angebot der Therapie ist auch nicht ersichtlich, ob und ggf. in welchem Umfang die jeweilige Klinik die wissenschaftliche Anerkennung bewertet hat.

Randnummer53
Bei diesem Sach- und Streitstand fehlt es nach Auffassung des Gerichts auch an hinreichend substantiierten Anhaltspunkten für eine allgemeine wissenschaftliche Anerkennung, hinsichtlich derer eine Beweiserhebung durch ein Sachverständigengutachten veranlasst wäre.

Randnummer54
b. Auch die Voraussetzungen für die Gewährung von Beihilfe im Rahmen einer Ausnahmeentscheidung gemäß § 2 Abs. 12 Satz 2 HmbBeihVO liegen nicht vor.

Randnummer55
Nach dieser Vorschrift kann die oberste Dienstbehörde in begründeten Ausnahmefällen auch Aufwendungen für wissenschaftlich noch nicht allgemein anerkannte Behandlungsmethoden als beihilfefähig erklären, wenn es sich um eine schwerwiegende oder lebensbedrohende Erkrankung handelt, wissenschaftlich allgemein anerkannte Behandlungsmethoden ohne Erfolg angewendet worden sind und eine begründete Aussicht auf eine baldige wissenschaftlich allgemeine Anerkennung der Behandlungsmethode besteht.

Randnummer56
Diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt. Es fehlt jedenfalls daran, dass wissenschaftlich allgemein anerkannte Behandlungsmethoden beim Kläger ohne Erfolg angewendet worden wären. Dies hat der Kläger weder vorgetragen noch sind Anhaltspunkte hierfür sonst ersichtlich. Insbesondere ist nicht ersichtlich, dass eine Krankengymnastik, die ausweislich der S3-Leitlinie der DGN im Falle einer Parkinson-Erkrankung wie der des Klägers für Bewegungsstörungen empfohlen wird, wenn eine medikamentöse Therapie an ihre Grenzen stößt (Langversion, S. 221), bei dem Kläger überhaupt stattgefunden hat. In der von dem Kläger vorgelegten Heilmittelverordnung seiner behandelnden Ärztin Dr. med. A. vom 2. September 2019 (Bl. 4 d. Sachakte) war zunächst eine „Krankengymnastik ZNS Doppelbehandlung“ aufgeführt, dies jedoch wieder gestrichen und durch „LSVT-BIG“ ersetzt worden. Dies spricht dafür, dass eine Krankengymnastik nicht verordnet worden ist.

Randnummer57
c. Dem Kläger kann auch keine Beihilfe nach der Ausnahmevorschrift des § 80 Abs. 9 Satz 11 HmbBG gewährt werden.

Randnummer58
Nach dieser Vorschrift kann die oberste Dienstbehörde in besonderen Ausnahmefällen, die nur bei Anlegung strenger Maßstäbe anzunehmen sind, Beihilfe unter anderen als den im Hamburgischen Beamtengesetz und in der Hamburgischen Beihilfeverordnung geregelten Voraussetzungen gewähren. Eine Beihilfefähigkeit kann danach in seltenen Fällen in Betracht kommen, in denen sich – atypischerweise – die Verweigerung der Beihilfeleistung aufgrund besonderer Fallumstände als grob fürsorgepflichtwidrig (Art. 33 Abs. 5 GG) darstellen würde. Dies kann etwa der Fall sein, wenn eine Maßnahme von existenzieller Bedeutung für den Betroffenen oder notwendig ist, um wesentliche Verrichtungen des täglichen Lebens erledigen zu können, oder sonst im Einzelfall Umstände vorliegen, bei denen es sich aufdrängt, dass der Fürsorgegrundsatz zur ausnahmsweisen Anerkennung der Beihilfefähigkeit führt (OVG Hamburg, Urt. v. 15.4.2016, 5 Bf 82/15, juris, Rn. 58 f. m.w.N.). Die verfassungsrechtliche Fürsorgepflicht ist wegen des Zusammenhangs mit der sich ebenfalls aus Art. 33 Abs. 5 GG ergebenden Alimentationspflicht des Dienstherrn etwa auch verletzt, wenn der Beihilfeberechtigte infolge eines für bestimmte krankheitsbedingte Aufwendungen vorgesehenen Leistungsausschlusses oder einer Leistungsbegrenzung mit erheblichen finanziellen Kosten belastet bleibt, die er durch die Regelalimentation und eine zumutbare Eigenvorsorge nicht bewältigen kann (vgl. BVerwG, Urt. v. 26.3.2015, 5 C 8/14, juris, Rn. 36, 39, m.w.N.).

Randnummer59
Solche besonderen Fallumstände sind bei dem Kläger nicht gegeben. Es fehlt schon an einer seltenen, atypischen Sachverhaltsgestaltung: Bei der Parkinson-Erkrankung des Klägers handelt es sich keineswegs um seltene Beschwerden. Gegenteiliges hat der Kläger auch nicht vorgetragen. Ebenso ist nicht hinreichend substantiiert vorgetragen, dass eine reguläre Krankengymnastik nicht ausreichend wäre, damit der Kläger wesentliche Verrichtungen des täglichen Lebens erledigen oder die Anwendung der LSVT-BIG-Therapie aus sonstigen Gründen für den Kläger eine existenzielle Bedeutung hätte. Auch ist weder vorgetragen noch ersichtlich, dass der Betrag von 385 Euro für den Kläger aus finanziellen Gründen existenzbedrohend wäre.

Randnummer60
2. Ein Anspruch auf Anerkennung der Beihilfefähigkeit der Aufwendungen ergibt sich auch nicht aus Verfassungsrecht, insbesondere weder aus dem durch Art. 33 Abs. 5 GG verbürgten beamtenrechtlichen Fürsorgegrundsatz (hierzu a.) noch aus dem Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit gemäß Art. 2 Abs. 2 GG (hierzu b.).

Randnummer61
a. Eine Beihilfefähigkeit besteht nicht auf unmittelbarer Grundlage der durch Art. 33 Abs. 5 GG verbürgten beamtenrechtlichen Fürsorgepflicht des Dienstherrn.

Randnummer62
Nach der Rechtsprechung insbesondere des Bundesverwaltungsgerichts ist der Ausschluss der Beihilfefähigkeit von Aufwendungen für wissenschaftlich nicht allgemein anerkannte Behandlungsmethoden grundsätzlich – von Sonderfällen abgesehen – mit der durch Art. 33 Abs. 5 GG gewährleisteten Fürsorgepflicht des Dienstherrn, wie sie für den Bereich der Krankenvorsorge durch die Beihilferegelungen konkretisiert wird, vereinbar (vgl. BVerwG, Urt. v. 29.6.1995, 2 C 15/94, juris, Rn. 18; Beschl. v. 22.8.2007, 2 B 37/07, juris, Rn. 4). Allerdings kann das von der Fürsorgepflicht getragene Gebot, eine Beihilfe zu dem Grunde nach notwendigen Aufwendungen zu leisten, den Dienstherrn in Ausnahmefällen dazu verpflichten, die Kosten einer wissenschaftlich nicht allgemein anerkannten Behandlungsmethode zu erstatten, nämlich dann, wenn sich eine wissenschaftlich allgemein anerkannte Methode für die Behandlung einer bestimmten Krankheit noch nicht herausgebildet hat, wenn im Einzelfall – z.B. wegen einer Gegenindikation – das anerkannte Heilverfahren nicht angewendet werden darf oder wenn ein solches bereits ohne Erfolg eingesetzt worden ist (vgl. BVerwG, Urt. v. 29.6.1995, a.a.O., Rn. 20). Unter diesen Voraussetzungen kann sich auch die Behandlung mit einer Heilmethode als notwendig erweisen und beihilfefähig sein, die nicht dem allgemeinen Stand der medizinischen Wissenschaft entspricht, aber nach ernst zu nehmender Auffassung Aussicht auf Erfolg bietet (vgl. BVerwG, Urt. v. 29.6.1995, a.a.O., Rn. 20 f.; Urt. v. 18.6.1998, 2 C 24/97, juris, Rn. 12; Beschl. v. 19.1.2011, 2 B 76/10, juris, Rn. 7; Beschl. v. 20.10.2011, 2 B 63/11, juris, Rn. 9). Die Fürsorgepflicht führt mithin bei noch nicht wissenschaftlich anerkannten Methoden grundsätzlich nur zu einer Beihilfefähigkeit im Rahmen von § 2 Abs. 12 Satz 2 HmbBeihVO, dessen Voraussetzungen hier indes nicht vorliegen.

Randnummer63
b. Auch aus dem Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 GG) lässt sich eine Beihilfefähigkeit nicht ableiten. Das Bundesverfassungsgericht hat für das Recht der gesetzlichen Krankenkassen entschieden, dass ein solcher Leistungsanspruch auf Behandlung mit einer wissenschaftlich nicht gesicherten Behandlungsmethode nur besteht, wenn für eine lebensbedrohliche Erkrankung keine andere medizinische Behandlungsmethode existiert (vgl. BVerfG, Beschl. v. 6.12.2005, 1 BvR 347/98, BVerfGE 115, 25, juris, Rn. 65, 64; Kammerbeschl. v. 26.2.2013, 1 BvR 2045/12, juris, Rn. 11 f.; vgl. auch VGH Mannheim, Urt. v. 14.7.2010, 11 S 2730/09, juris, Rn. 45). Ein entsprechender Grundsatz ist durch das Bundesverwaltungsgericht für das Beihilferecht aufgestellt worden (Urt. v. 29.6.1995, 2 C 15/94, juris, Rn. 20 f.; Beschl. v. 22.8.2007, 2 B 37/07, juris, Rn. 6). Vorliegend existieren jedenfalls mit der regulären Krankengymnastik und weiteren, auch medikamentösen Therapieansätzen andere medizinische Behandlungsmethoden.

IV.

Randnummer64
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1, 155 Abs. 2 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 VwGO in Verbindung mit §§ 708 Nr. 11, 711, 709 S. 2 ZPO.

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