BGH, IV ZR 205/15
Anfechtung wechselbezüglicher Verfügungen des erstversterbenden Ehegatten durch einen Dritten
Die Anfechtung wechselbezüglicher Verfügungen des erstversterbenden Ehegatten durch einen Dritten wird nicht in entsprechender Anwendung von § 2285 BGB beschränkt.
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des 19. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 19. März 2015 aufgehoben. Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand
Die Klägerin begehrt die Feststellung ihrer Alleinerbenstellung nach ihrer verstorbenen Mutter.
Die Klägerin und die Beklagte sind die beiden leiblichen Töchter des Ehepaares M. . Die Eltern der Parteien errichteten am 7. April 1977 ein handschriftliches gemeinschaftliches Testament, in dem sie sich gegenseitig als Erben einsetzten. Sie bestimmten die Klägerin zur Erbin des zuletzt versterbenden Ehegatten, enterbten die Beklagte und entzogen ihr den Pflichtteil.
Der Vater der Parteien verfasste außerdem im Jahr 1985 ein Einzeltestament, in dem er seine Ehefrau als Alleinerbin einsetzte. Nach seinem Tod im Jahr 1995 lag dem Nachlassgericht nur dieses von der Mutter abgelieferte Einzeltestament vor.
Die Mutter verstarb am 22. Januar 2012. Das Nachlassgericht erteilte einen Erbschein, der die Parteien je zur Hälfte als ihre Erben auswies.
Nachdem die Klägerin am 15. Juli 2013 das gemeinschaftliche Testament im Tresor des Elternhauses gefunden hatte, lieferte sie es beim Nachlassgericht ab und beantragte die Erteilung eines Erbscheins als Alleinerbin der Mutter. Die Beklagte erklärte daraufhin mit Schreiben vom 27. Juli 2013 gegenüber dem Nachlassgericht die Anfechtung des Testaments wegen eines Motivirrtums ihrer Eltern. Diese seien damals wütend auf sie gewesen, weil sie entgegen deren Wunsch Sozialpädagogik statt Medizin studiert und ihre Eltern außerdem erfolgreich auf Unterhaltsleistung verklagt habe. Bereits etwa ein Jahr später hätten sich ihre Eltern jedoch wieder mit ihr versöhnt.
Das Landgericht hat der Feststellungsklage stattgegeben. Das Oberlandesgericht hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Dagegen richtet sich deren Revision, mit der sie weiter die Abweisung der Klage erstrebt.
Entscheidungsgründe
Die Revision führt zur Aufhebung des Berufungsurteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.
Das Berufungsgericht, dessen Urteil unter anderem in ZEV 2015, 476 (mit Anmerkung Weidlich) abgedruckt ist, hat ausgeführt, die Klägerin sei aufgrund des gemeinschaftlichen Testaments vom 7. April 1977 Alleinerbin der Mutter geworden, da das Testament weder wirksam widerrufen noch angefochten worden sei. Die Verfügungen der Ehegatten zur Schlusserbeneinsetzung der Klägerin seien wechselbezüglich im Sinne des § 2270 Abs. 1 BGB. Die Beklagte habe die Verfügung der Mutter zur Schlusserbeneinsetzung gemäß § 2285 BGB analog nicht anfechten können, da die Mutter als letztverstorbener Ehegatte ihr Recht zur Selbstanfechtung der wechselbezüglichen Verfügung bereits durch Fristablauf verloren gehabt habe. Die Jahresfrist des § 2283 BGB habe mit dem Tod des Vaters zu laufen begonnen, da die Mutter nach dem Vortrag der Beklagten zu diesem Zeitpunkt bereits Kenntnis von dem behaupteten Motivirrtum gehabt habe. Den Fragen, ob ein Motivirrtum vorgelegen habe und ob der Vater ggf. einen Widerruf seiner wechselbezüglichen Verfügung trotz Erkennens dieses Irrtums bewusst unterlassen habe, müsse nicht nachgegangen werden. Entgegen der in der Literatur überwiegend vertretenen Ansicht sei auch eine Anfechtung der wechselbezüglichen Verfügung des erstversterbenden Ehegatten durch einen Dritten gemäß § 2285 BGB analog ausgeschlossen. Andernfalls würde man der Beklagten ein Recht einräumen, das zum Nachteil des überlebenden Ehegatten zu dem gleichen Ergebnis führte wie das Recht zum Widerruf, von dem der Vater aber trotz Kenntnis des „Anfechtungsgrundes“ keinen Gebrauch gemacht habe. Hätte der Vater zu Lebzeiten seine wechselbezügliche Verfügung widerrufen, hätte die Mutter darauf durch eine eigene letztwillige Verfügung angemessen reagieren können. Wenn man nun der Beklagten nach dem Tod der Eltern ein Anfechtungsrecht hinsichtlich der wechselbezüglichen Verfügung des erstverstorbenen Vaters zubilligte, verletzte man die durch § 2271 Abs. 1 BGB geschützten Interessen der Mutter.
Das Gericht halte außerdem dafür, dass die Eltern durch die Beibehaltung des Testaments eine Bestätigung vorgenommen hätten oder der behauptete Motivirrtum nicht kausal geworden sei. Auch aus diesem Grund sei eine Anfechtung nicht möglich.
Im vorliegenden Fall war die Jahresfrist des § 2283 Abs. 1 BGB für eine Selbstanfechtung durch die Mutter zur Zeit des Erbfalls bereits abgelaufen, da sie nach dem Beklagtenvortrag den behaupteten Motivirrtum als Anfechtungsgrund bereits bei ihrer Versöhnung mit der Beklagten etwa ein Jahr nach Verfassen des gemeinschaftlichen Testaments erkannt hatte, so dass die Anfechtungsfrist mit dem Tod des Vaters im Jahr 1995 als frühestmöglichem Anfechtungszeitpunkt zu laufen begonnen hätte.
Dieser besondere Schutz des Willens des Erblassers durch die Beschränkung der Drittanfechtung nach § 2285 BGB folgt aus der Bindung des Vertragserblassers an seine eigene Verfügung, der er bereits zu Lebzeiten unterliegt. § 2285 BGB bringt den allgemeinen Gedanken zum Ausdruck, dass stets der Wille des Erblassers dafür maßgebend bleibt, ob ein Dritter seinerseits den Bestand der letztwilligen Verfügung angreifen darf oder nicht (RGZ 77, 165, 170). Wenn sich der gebundene Erblasser durch Bestätigung seiner Verfügung oder Verstreichenlassen der Anfechtungsfrist dafür entscheidet, die anfechtbare Verfügung trotz Kenntnis des Anfechtungsgrundes gelten zu lassen, sollen an diese Entscheidung auch seine (potentiellen) Erben gebunden sein und nicht auf Grund eines eigenen Anfechtungsrechts eine dem Willen des Erblassers nicht entsprechende Korrektur seiner Nachlassregelung vornehmen können (MünchKomm-BGB/Musielak, aaO § 2285 Rn. 1; vgl. auch Mayer aaO § 2285 Rn. 7).
Dagegen ist der erstversterbende Ehegatte beim gemeinschaftlichen Testament nicht an seine wechselbezüglichen Verfügungen gebunden und auf ein Anfechtungsrecht beschränkt. Zu Lebzeiten beider Ehegatten kann jeder von ihnen seine wechselbezüglichen Verfügungen gemäß § 2271 Abs. 1 BGB widerrufen und hat dabei nur die Vorschriften über Form und Zugang der Widerrufserklärung nach § 2271 Abs. 1 Satz 1 BGB i.V.m. § 2296 BGB zu beachten. Anders als die Anfechtung erfordert der Widerruf weder einen Grund noch besteht für ihn eine dem § 2283 Abs. 1 BGB vergleichbare Frist. Das Anfechtungsrecht eines Dritten reicht von vornherein nicht über dieses Recht des Erblassers, sich von seiner Verfügung zu lösen, hinaus, ohne dass es dazu einer Beschränkung der Drittanfechtung durch § 2285 BGB bedarf. Das Widerrufsrecht des erstversterbenden Ehegatten kann auch nicht „zur Zeit des Erbfalls“ im Sinne von § 2285 BGB bereits erloschen sein, sondern es erlischt mit seinem Tod. Eine uneingeschränkte analoge Anwendung von § 2285 BGB auf das Erlöschen des Widerrufsrechts durch den Erbfall hätte daher zur Folge, dass eine Anfechtung durch Dritte immer und unabhängig davon ausgeschlossen wäre, ob der Erblasser Kenntnis von Tatsachen hatte, die ein Anfechtungsrecht begründen. Damit wäre es nicht mehr möglich, dem wahren Willen des Erblassers Geltung zu verschaffen. Für einen solch umfassenden Ausschluss der Drittanfechtung bei wechselbezüglichen Verfügungen im gemeinschaftlichen Testament lässt sich dem Gesetz jedoch nichts entnehmen.
Auch der Verweis des Berufungsgerichts auf den Schutz des Ehegatten durch die Empfangsbedürftigkeit des Widerrufs gemäß § 2271 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 2296 Abs. 2 Satz 1 BGB (ebenso BayObLG ZEV 2004, 152, 153) vermag eine Beschränkung der Drittanfechtung nicht zu begründen. Bei einem Widerruf zu Lebzeiten beider Ehegatten wird der andere Ehegatte durch den Zugang der Widerrufserklärung in die Lage versetzt, darauf durch eine neue letztwillige Verfügung zu reagieren. Im Regelfall wird er diese Möglichkeit auch bei einer Drittanfechtung nach dem ersten Erbfall haben, da die fristgebundene (§ 2082 BGB) Anfechtung noch zu seinen Lebzeiten erfolgen und das Nachlassgericht ihm die Anfechtungserklärung mitteilen wird, § 2081 Abs. 2 Satz 1 BGB. Die Begründung des Berufungsgerichts für eine Analogie bezieht sich daher allein auf den hier vorliegenden Sonderfall, in dem das gemeinschaftliche Testament dem Nachlassgericht nach dem ersten Erbfall nicht vorlag und daher eine Drittanfechtung nicht zu Lebzeiten des letztverstorbenen Ehegatten erfolgen konnte. Doch ein allgemeiner Grundsatz, dass die Ehegatten auf den Bestand der eigenen wechselbezüglichen Verfügungen nach ihrem Tod vertrauen können, besteht beim gemeinschaftlichen Testament nicht. Das Interesse eines Ehegatten an der Wirksamkeit der eigenen Verfügungen tritt auch in anderen Konstellationen unabhängig davon zurück, ob er noch mit einer neuen Verfügung auf eine Veränderung reagieren kann (vgl. Weidlich, ZEV 2015, 480, 481; BeckOGK/Braun, aaO Rn. 145.1). So kann auch das Recht des überlebenden Ehegatten, sich durch Ausschlagung gemäß § 2271 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 2 BGB von dem gemeinschaftlichen Testament zu lösen, nicht abbedungen werden (Senatsurteil vom 12. Januar 2011 – IV ZR 230/09, NJW 2011, 1353 Rn. 11). Hebt er anschließend die eigenen Verfügungen auf, hat dies gemäß § 2270 Abs. 1 BGB grundsätzlich die Unwirksamkeit der damit wechselbezüglich verbundenen Verfügungen des erstversterbenden Ehegatten zur Folge (Senatsurteil aaO Rn. 15).
Zwar kann ein bewusstes Bestehenlassen der letztwilligen Verfügung dafür sprechen, dass der behauptete Irrtum nicht ursächlich für die Verfügung war oder sie jedenfalls zur Zeit des Erbfalles dem Willen des Erblassers entsprach und eine Anfechtung daher ausgeschlossen ist (BayObLG NJW-RR 1995, 1096, 1098; MünchKomm-BGB/Musielak aaO § 2271 Rn. 43; Mayer aaO § 2271 Rn. 91; Palandt/Weidlich aaO § 2078 Rn. 9). Dies setzt aber voraus, dass der Erblasser die Verfügung tatsächlich bewusst beibehält, sich also im Wissen um den Inhalt dieser Verfügung und in Kenntnis des Irrtums dafür entscheidet, daran festzuhalten, und er nicht nur aus Nachlässigkeit, Passivität oder aus sonstigen anderen Gründen eine Abänderung unterlässt (vgl. BayObLG NJW-RR 2002, 367, 370; Staudinger/Otte, BGB Bearbeitung 2013 § 2078 Rn. 30; MünchKomm-BGB/Leipold, 6. Aufl. § 2078 Rn. 50). Das Berufungsgericht hat jedoch ausdrücklich offengelassen, ob der Vater den Widerruf seiner wechselbezüglichen Verfügung trotz Erkennens des behaupteten Motivirrtums bewusst unterließ. Damit fehlt es aber auch an der Feststellung, dass er das Testament bewusst bestehen ließ. Ohne solche Feststellungen zum Willen des Erblassers kann allein aus dem Umstand, dass das Testament weiter existierte, nicht geschlossen werden, der Erblasser habe das Testament bestätigt oder der behauptete Motivirrtum sei nicht kausal für seine Verfügung gewesen.
III. Die angefochtene Entscheidung erweist sich auch nicht aus anderen Gründen als richtig.
Die Mutter der Parteien verfügte in dem gemeinschaftlichen Testament neben der Schlusserbeneinsetzung der Klägerin die Enterbung der Beklagten. Es steht jedoch nicht fest, dass auch im Falle einer Unwirksamkeit der Schlusserbeneinsetzung die Enterbung der Beklagten fortbestünde und daher die gesetzliche Erbfolge zugunsten der Klägerin einträte. Vielmehr deutet das Berufungsgericht an, dass seiner Ansicht nach eine wirksame Anfechtung der Schlusserbeneinsetzung auch die gleichzeitig verfügte Enterbung der Beklagten durch die Mutter entfallen ließe, ohne aber ausdrückliche Feststellungen zum Willen der Erblasserin zu treffen. Dies hätte es im Falle einer wirksamen Anfechtung der Schlusserbeneinsetzung nachzuholen. Andernfalls wäre zu prüfen, ob die Beklagte auch ihre – gemäß § 2270 Abs. 3 BGB nicht wechselbezügliche – Enterbung durch die Mutter wirksam angefochten hat.
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