Als „hinterlassen“ i.S. des § 2309 Alt. 2 BGB gelten nicht letztwillige oder lebzeitige Zuwendungen des Erblassers an den näheren, trotz Erb- und Pflichtteilsverzichts zum gewillkürten Alleinerben bestimmten Abkömmling, wenn dieser und der entferntere Abkömmling demselben, allein bedachten Stamm gesetzlicher Erben angehören.
Tenor
Auf die Rechtsmittel der Klägerin wird das Urteil des 27. Zivilsenats des Oberlandesgerichts München – Zivilsenate in Augsburg – vom 13. Oktober 2010 aufgehoben und das Endurteil des Landgerichts Augsburg vom 15. Juni 2007 geändert.
Das Teil-Versäumnisurteil des Landgerichts Augsburg vom 15. März 2006 wird aufrechterhalten, soweit die Beklagte verurteilt worden ist, Auskunft über den Bestand des Nachlasses des am 20. Februar 2005 verstorbenen S. Sch. zu erteilen durch Vorlage eines durch einen Notar erstellten Nachlassverzeichnisses, das auch ausgleichungspflichtige Zuwendungen nach §§ 2050 ff. BGB enthält, insbesondere ergänzungspflichtige Zuwendungen nach §§ 2325 ff. BGB.
Im Übrigen wird die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand
Die Klägerin macht gegen die Beklagte, ihre Mutter, Pflichtteilsansprüche nach deren am 20. Februar 2005 verstorbenem Vater (Erblasser) in Höhe der Hälfte des Nachlasswertes geltend.
Der Erblasser und die Mutter der Beklagten errichteten am 23. November 1987 ein gemeinschaftliches Testament in notarieller Form, mit dem sie sich gegenseitig zum alleinigen und ausschließlichen Erben einsetzten und in Ziff. III. ihre Enkelkinder zu Schlusserben bestimmten. Dem Überlebenden des Erstversterbenden wurde das Recht vorbehalten,
„…, über seine Beerbung neue von Ziffer III. dieser Urkunde abweichende Bestimmungen zu treffen; er darf dabei aber letztwillig immer nur solche Personen bedenken, die zum Kreis unserer gemeinschaftlichen Abkömmlinge oder deren Abkömmlinge gehören.“
Am selben Tag verzichtete die Beklagte gegenüber ihren Eltern allein für ihre Person, nicht aber für ihre Abkömmlinge auf das ihr zustehende gesetzliche Erb- und Pflichtteilsrecht.
Nach dem Tod seiner Ehefrau setzte der Erblasser mit notariellem Testament vom 17. Oktober 2000 die Beklagte zu seiner alleinigen und ausschließlichen Erbin ein und bestimmte die Klägerin zur Ersatzerbin. Die Parteien sind die einzigen Abkömmlinge des Erblassers und seiner vorverstorbenen Ehefrau.
Mit der Klage verlangt die Klägerin von der Beklagten Zahlung in Höhe von 85.000 € nebst Zinsen sowie Auskunft über den Bestand des Nachlasses und Einholung eines Wertermittlungsgutachtens bezüglich dem Nachlass zugehörigen Grundvermögens. Die Parteien streiten darüber, ob § 2309 BGB einer Pflichtteilsberechtigung der Klägerin entgegensteht.
Die Klage hatte in den Vorinstanzen keinen Erfolg. Mit der Revision verfolgt die Klägerin ihr Klagebegehren weiter.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des Berufungsurteils und zur teilweisen Aufrechterhaltung des Teil-Versäumnisurteils des Landgerichts Augsburg vom 15. März 2006, im Übrigen zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.
Die Klägerin sei infolge des Erb- und Pflichtteilsrechtsverzichts der Beklagten an deren Stelle zur gesetzlichen Erbin berufen gewesen und von dem Erblasser wirksam enterbt worden. Den deswegen ihr an sich gemäß § 2303 BGB zustehenden Pflichtteilsanspruch habe sie nach § 2309 Alt. 2 BGB verloren. Der darin geregelte Ausschluss des entfernteren Abkömmlings „im Falle der gesetzlichen Erbfolge“ beziehe sich nicht auf die konkrete Situation, sondern auf die abstrakte Erbenstellung des näheren Abkömmlings, hier der Beklagten, die gemäß § 1924 Abs. 2 BGB die Klägerin grundsätzlich von der gesetzlichen Erbfolge verdränge. Infolge der Annahme der Erbschaft durch die Beklagte sei die „Vorversterbensfiktion“ des § 2346 Abs. 1 BGB gegenstandslos geworden.
„Ist für einen Abkömmling des Erblassers der Pflichttheilsanspruch begründet oder in Folge einer Zuwendung ausgeschlossen, so steht den Abkömmlingen dieses Abkömmlinges sowie den Eltern des Erblassers ein Pflichttheilsrecht nicht zu.“
Anlass für diese Regelung waren die Vorversterbensfiktion des § 1972 BGB-E, der zufolge der gesetzliche Erbe hinsichtlich der gesetzlichen Erbfolge unter anderem bei Ausschluss von der Erbschaft durch Erbverzicht als vor dem Erblasser gestorben anzusehen sein sollte (für den Erbverzicht § 2346 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 1 BGB), sowie die Vererb- und Übertragbarkeit des Pflichtteilsanspruchs nach § 1992 Abs. 2 BGB-E (§ 2317 Abs. 2 BGB). Im Hinblick auf letztere sollte verhindert werden, dass „demselben Stamme … zweimal ein Pflichttheil gewährt“ und „die auf dem Nachlasse ruhende Last, entgegen dem Zwecke des Pflichttheilsinstitutes, vervielfacht“ wird (Motive V 401, 402; vgl. Senatsurteil aaO m.w.N.; RGZ aaO 196; MünchKomm-BGB/Lange aaO Rn. 1; Staudinger/Ferid/Cieslar aaO Rn. 4; Kipp/Coing, Erbrecht 14. Bearb. § 9 Ziff. I 1 d; Bestelmeyer aaO 1124 f.; Kramm aaO S. 56 f., 58 f.; Kroppenberg aaO; Maenner, Das Recht 1920, 134, 135; Mayer aaO). § 1983 BGB-E verneinte übereinstimmend für alle in § 1972 BGB-E genannten Gründe eines Ausscheidens des näheren Berechtigten ein Pflichtteilsrecht des nachrückenden Abkömmlings, falls der ausgeschiedene gesetzliche Erbe „wegen seines gesetzlichen Erbrechtes befriedigt ist, sei es durch den ihm erworbenen Pflichttheilsanspruch, sei es durch die ihm zum Zwecke seiner Befriedigung wegen des Pflichttheiles gemachten Zuwendungen“ (Motive V 402; Protokolle V 512). Im weiteren Beratungsverlauf wurde § 2023 BGB-E unter bewusster Durchbrechung des Grundsatzes der Eigenständigkeit der Pflichtteilsrechte der Abkömmlinge durch § 2214 BGB-E (§ 2349 BGB) ersetzt; die die gesetzliche Erbfolge unmittelbar betreffenden Auswirkungen eines Erbverzichts wurden, unabhängig von etwaigen Zuwendungen des Erblassers und vorbehaltlich anderweitiger Regelungen im Verzichtsvertrag, wegen der „Bedürfnisse des Lebens“ auf die Abkömmlinge des Verzichtenden erstreckt (Protokolle V 607). Ihnen sprach § 1983 BGB-E ungeachtet des Grundes ihres Einrückens in die gesetzliche Erbenstellung ein Pflichtteilsrecht unverändert ab, falls der ausgeschiedene nähere Erbe „wegen seines Pflichttheilsrechts in dem Pflichttheilsanspruch oder in den ihm gemachten Zuwendungen seine Befriedigung erhalten hat“ (Protokolle V 512; vgl. Protokolle V 606).
Mit dem überarbeiteten Wortlaut des § 2309 BGB ist der Gesetzgeber auch für den Fall des verzichtsbedingten Aufrückens eines entfernteren Abkömmlings in die gesetzliche Erb- und Pflichtteilsfolge nicht von dem Prinzip abgekehrt, Doppelbegünstigungen des Stammes des ausgeschiedenen, nach §§ 1924 Abs. 2, 1930 BGB grundsätzlich vorrangigen Berechtigten sowie Vervielfältigungen der auf dem Nachlass liegenden Pflichtteilslast auszuschließen. Für die Abkömmlinge des Erblassers bedeutet dies, dass „demselben Stamm nicht zwei Pflichtteile, aber auch nicht [ein] Pflichtteil neben einer Zuwendung“ gewährt werden dürfen bzw. darf (Erman/Schlüter, BGB 13. Aufl. § 2309 Rn. 1; Kipp/Coing, Erbrecht 14. Bearb. § 9 Ziff. I. 1. d); vgl. Heisel in HK-PflichtteilsR § 2309 Rn. 1; Planck/Greiff, BGB Bd. V 4. Aufl. § 2309 Anm. I. 4.; Kramm, Entstehung und Beseitigung der Rechtswirkungen eines Erbverzichts; Kroppenberg, JZ 2011, 1177, 1178; Muscheler, Erbrecht Bd. II Rn. 4102).
(1) Die Erbfolge nach dem Vater bzw. Großvater der Parteien wird von diesem Normzweck nicht erfasst. Gehören der trotz Erb- und Pflichtteilsverzichts zum gewillkürten Alleinerben bestimmte nähere Abkömmling und der entferntere Pflichtteilsberechtigte dem einzigen Stamm gesetzlicher Erben an, berühren die Zuwendungen des Erblassers an den näheren Berechtigten einschließlich der Erbeinsetzung lediglich ihr auf diesen Stamm beschränktes Innenverhältnis. Bleiben solche Zuwendungen bei der Geltendmachung von Pflichtteilsansprüchen unberücksichtigt, droht dem Nachlass keine unbillige Vervielfältigung der Pflichtteilslast. Es besteht keine Gefahr, dass der Stamm zum Nachteil weiterer Beteiligter einen höheren Pflichtteil erhalten könnte.
(2) Schuldner der Pflichtteilsansprüche des entfernteren Berechtigten ist der nähere Abkömmling als gewillkürter Erbe. Er profitiert von der Entlastung des Nachlasses durch § 2309 BGB. Darüber hinaus ist er Empfänger derjenigen den Nachlass mindernden Leistungen des Erblassers, deren Zuordnung zu § 2309 Alt. 2 BGB in Frage steht. Wäre eine solche Zuordnung zu bejahen und könnte der gewillkürte Erbe dem seinem Stamm angehörenden entfernteren Abkömmling dies mit pflichtteilsreduzierender Wirkung entgegenhalten, verringerte sich die auf dem Nachlass ruhende Pflichtteilslast allein zu seinen Gunsten; er wäre insoweit, ohne dass der Normzweck dies erforderte, mehrfach begünstigt.
(3) Die Testierfreiheit des Erblassers gebietet keine abweichende Beurteilung. Sie ist ein wesentliches Element der von Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG als Individualgrundrecht und als Rechtsinstitut verfassungsrechtlich geschützten Erbrechtsgarantie (BVerfGE 67, 329, 340 f.; 91, 346, 358). Ihr Inhalt und ihre Schranken werden gesetzlich bestimmt. Durch das Pflichtteilsrecht, das dem aufgrund Verfügung von Todes wegen von der Erbfolge ausgeschlossenen Abkömmling, Elternteil oder Ehegatten des Erblassers eine Mindestbeteiligung am Nachlass gewähren soll, wird sie in verfassungskonformer Weise beschränkt (vgl. BVerfGE aaO 341 bzw. 359 f.; Muscheler, Erbrecht Bd. II Rn. 3022; ähnlich Schlitt in Schlitt/Müller, Handbuch Pflichtteilsrecht § 1 Rn. 2, 5). Auch wenn der auf die Person des näheren Abkömmlings bezogene Erb- und Pflichtteilsverzicht den Erblasser in die Lage versetzen soll, über seinen Nachlass frei und durch das Pflichtteilsrecht des Verzichtenden ungehindert zu verfügen (vgl. Ebbecke, LZ 1919, 505, 510), ist diese Freiheit unter den vorstehend genannten Voraussetzungen durch den originär dem entfernteren Abkömmling entstandenen Pflichtteilsanspruch wiederum eingeschränkt.
Dies entspricht der in §§ 2349 Halbsatz 2, 2351 BGB zum Ausdruck gebrachten gesetzgeberischen Wertung. Resultiert die Pflichtteilsberechtigung des entfernteren Abkömmlings aus einem Erb- und Pflichtteilsverzicht des näheren, steht sie allenfalls über einen – zweiseitigen – Aufhebungsvertrag i.S. der §§ 2351, 2348 BGB zur Disposition des Erblassers und des Verzichtenden. Dabei braucht die Frage nicht entschieden zu werden, ob ein solcher Vertrag der Zustimmung des Berechtigten bedarf, falls durch den Verzicht zu seinen Gunsten ein Anwartschaftsrecht auf den Pflichtteil entstanden sein sollte (vgl. MünchKomm-BGB/Frank, 3. Aufl. § 2309 Rn. 14; Planck/Greiff, BGB Bd. V 4. Aufl. § 2309 Anm. II 1; Staudinger/Ferid/Cieslar, BGB 12. Aufl. § 2309 Rn. 51; Muscheler aaO Bd. I Rn. 2405, 2418). Die einseitige testamentarische Verfügung des Erblassers vom 17. Oktober 2000 kann einen Aufhebungsvertrag nicht ersetzen. Ohnehin hat der Erblasser ausdrücklich erklärt, er wolle „weitere Bestimmungen“ – als die Einsetzungen der Beklagten zur Erbin und der Klägerin zur Ersatzerbin – „nicht treffen“. Dies legt nahe, dass er den Erbverzichtsvertrag vom 23. November 1987 fortbestehen lassen wollte (vgl. BGH, Beschluss vom 13. Juli 1959 – V ZB 4/59, BGHZ 30, 261, 267).
III. Auf die Revision der Klägerin ist das Berufungsurteil somit aufzuheben und die Beklagte in Änderung des landgerichtlichen Endurteils zur Erteilung von Auskunft zu verurteilen (§§ 562 Abs. 1, 563 Abs. 3 ZPO).
In der Klageschrift hat die Klägerin mit dem Antrag zu Ziff. II. 2. eine Verurteilung der Beklagten zur Ermittlung des Wertes des zum Nachlass gehörenden Grundbesitzes durch Sachverständigengutachten begehrt. Mit dem Teil-Versäumnisurteil vom 15. März 2006 ist die Beklagte insoweit antragsgemäß verurteilt worden. Gegen das die Klage abweisende Endurteil des Landgerichts hat die Klägerin Berufung eingelegt, den Antrag auf Verurteilung der Beklagten zur Einholung eines Wertgutachtens jedoch weder in der Berufungsbegründung angekündigt noch in der mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht gestellt. Eine auf den rechtshängigen Wertermittlungsanspruch bezogene prozessuale Erklärung der Klägerin ist nicht entbehrlich. Dieser auf § 2314 Abs. 1 Satz 2 BGB gestützte Anspruch ist von dem Anspruch des Pflichtteilsberechtigten auf Auskunftserteilung gemäß § 2314 Abs. 1 Satz 1 BGB zu unterscheiden. Beide Ansprüche haben unterschiedliche Gegenstände. Die Wertermittlung durch Gutachten stellt kein unselbständiges Mittel zur Erfüllung des Auskunftsanspruchs dar (Senatsurteil vom 9. November 1983 – IVa ZR 151/82, BGHZ 89, 24, 28). Das Berufungsgericht wird der Klägerin Gelegenheit geben müssen, eine den Wertermittlungsanspruch betreffende prozessuale Erklärung abzugeben.
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