EGMR, 20.02.2003 – 47316/99 – verankertes Recht auf Achtung ihres Eigentums sei verletzt worden. Sie behauptet ferner, nicht in den Genuss eines fairen Verfahrens nach Artikel 6 Abs. 1 der Konvention gelangt zu sein.

September 3, 2017

EGMR, 20.02.2003 – 47316/99

In der Rechtssache
hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Dritte Sektion) als Kammer
durch die folgenden Richter:
Herrn I. Cabral Barreto, Präsident,
Herrn G. Ress, Herrn L. Caflisch, Herrn P. Kûris, Herrn J. Hedigan, Frau M. Tsatsa-Nikolovska; Herrn K. Traja, sowie
dem Kanzler der Sektion, Herrn V. Berger,
nach Beratung in nicht öffentlicher Sitzung am 25. April 2002 und am 30. Januar 2003
das folgende Urteil erlassen,
das an diesem letztgenannten Tag angenommen worden ist:

Tenor:

Aus diesen Gründen entscheidet der Gerichtshof einstimmig,

  1. 1.

    dass Artikel 1 des Protokolls Nr. 1 nicht verletzt worden ist;

  2. 2.

    dass Artikel 6 Abs. 1 der Konvention nicht verletzt worden ist

Gründe

Verfahren

1.

Dem Fall liegt eine gegen die Bundesrepublik Deutschland gerichtete Beschwerde (Nr. 47316/99) zu Grunde, die die schweizerische Staatsangehörige Evamarie Forrer-Niedenthal („die Beschwerdeführerin“) bei dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte („der Gerichtshof“) auf Grund des Artikels 34 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten („die Konvention“) am 15. Dezember 1998 erhoben hatte.

 

2.

Die Beschwerdeführerin wird vor dem Gerichtshof von Rechtsanwalt Udo Heidrich aus Zürich vertreten. Die deutsche Regierung („die Regierung“) wurde von ihrem Verfahrensbevollmächtigten, Herrn K. Stoltenberg, Ministerialdirigent im Bundesministerium der Justiz, vertreten.

3.

Die Beschwerdeführerin behauptet, ihr in Artikel 1 des Protokolls Nr. 1 verankertes Recht auf Achtung ihres Eigentums sei verletzt worden. Sie behauptet ferner, nicht in den Genuss eines fairen Verfahrens nach Artikel 6 Abs. 1 der Konvention gelangt zu sein.

4.

Die Beschwerde ist der Dritten Sektion des Gerichtshofs zugewiesen worden (Artikel 52 Abs. 1 der Verfahrensordnung). In dieser Sektion ist die für die Prüfung der Rechtssache vorgesehene Kammer (Artikel 27 Abs. 1 der Konvention) gemäß Artikel 26 Abs. 1 der Verfahrensordnung gebildet worden.

5.

Am 1. November 2001 hat der Gerichtshof die Zusammensetzung seiner Sektionen (Artikel 25 Abs. 1 der Verfahrensordnung) geändert. Diese Beschwerde ist der so umgebildeten Dritten Sektion zugewiesen worden (Artikel 52 Abs. 1).

6.

Mit Entscheidung vom 25. April 2002 hat die Kammer die Beschwerde für zulässig erklärt.

7.

Sowohl die Beschwerdeführerin als auch die Regierung haben schriftliche Stellungnahmen zur Begründetheit der Rechtssache vorgelegt (Artikel 59 Abs. 1 der Verfahrensordnung). Da die Kammer nach Beratung mit den Parteien beschlossen hat, dass kein Anlass besteht, eine mündliche Verhandlung über die Begründetheit der Sache durchzuführen (Artikel 59 Abs. 3 in fine der Verfahrensordnung), hat jede Partei schriftliche Anmerkungen zu der Stellungnahme der anderen Partei vorgelegt. Die schweizerische Regierung, die vom Kanzler über die Möglichkeit unterrichtet wurde, am Verfahren teilzunehmen (Artikel 36 Abs. 1 der Konvention und 61 der Verfahrensordnung), hat kein Interesse daran bekundet, davon Gebrauch zu machen.

Sachverhalt

I. Die Umstände des Falles

A. Die Entstehung der Sache

8.

Die Beschwerdeführerin ist Rechtsnachfolgerin ihrer Großmutter als Erbin in einer ungeteilten Erbengemeinschaft, die ein in Halle in der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (DDR) belegenes Grundstück besaß, auf dem sich die Gebäude eines pharmazeutischen Unternehmens befanden. Die Großmutter der Beschwerdeführerin hatte die DDR 1946 verlassen und sich in Bayern niedergelassen.

9.

Mit notariellem Vertrag vom 13. November 1959 war die in Liquidation befindliche Gesellschaft für 180.650 DDR-Mark an das im Eigentum der DDR stehende Institut für Zucker- und Stärkeindustrie Halle-Trotha verkauft und ihr Grundstück am 25. Mai 1960 als „Eigentum des Volkes“ in das Grundbuch eingetragen worden, obwohl zwei Mitglieder der Erbengemeinschaft, darunter die Großmutter der Beschwerdeführerin, bei dem Verkauf nicht ordnungsgemäß vertreten waren.

10.

Nach der deutschen Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 ging die Rechtsträgerschaft an dem Grundbesitz auf das Institut für Zucker- und Stärkeindustrie, das sich inzwischen im Besitz der Bundesrepublik Deutschland (BRD) befand, über.

B. Die Verfahren vor den Gerichten der Bundesrepublik Deutschland

1. Das Verfahren zum Erlass einer einstweiligen Verfügung vor den Zivilgerichten

11.

Im Juni 1993 legte die Beschwerdeführerin, da sie den Verkauf für nichtig erachtete, vor dem Amtsgericht Halle wegen der unrichtigen Eintragung in das Grundbuch Widerspruch ein.

12.

Mit Urteil vom 22. Oktober 1993 gab das Amtsgericht ihrem Antrag statt.

13.

Mit Urteil vom 22. April 1994 wies das Landgericht Halle den Widerspruch in der Berufungsinstanz mit der Begründung zurück, dass das Eigentum durch Ersitzung auf die DDR und dann nach der Wiedervereinigung auf die Bundesrepublik Deutschland übergegangen sei.

2. Das Verfahren vor dem Verwaltungsgericht Berlin

14.

Mit Beschluss vom 23. Oktober 1995 wies das Verwaltungsgericht Berlin den Widerspruch der Beschwerdeführerin gegen eine Entscheidung der zuständigen Verwaltung, das fragliche Grundstück vorrangig Personen zuzuweisen, die sich verpflichteten, gewisse Investitionen zu tätigen (Investitionsvorrangsbescheid), zurück. Das Gericht war auch der Meinung, dass die Beschwerdeführerin ihr Eigentum durch Ersitzung verloren habe.

3. Das Verfahren in der Hauptsache vor den Zivilgerichten

a. Das Urteil des Landgerichts Halle vom 29. Juni 1995

15.

Mit Urteil vom 29. Juni 1995 wies das Landgericht Halle die Klage der Beschwerdeführerin auf Herausgabe der aus der Nutzung ihres Unternehmens seit dem 3. Oktober 1990 gezogenen Früchte aus den gleichen Gründen wie in seinem Urteil vom 22. April 1994 ab.

b. Das Urteil des Oberlandesgerichts Naumburg vom 30. Januar 1996

16.

Mit Urteil vom 30. Januar 1996 wies das Oberlandesgericht Naumburg die Berufung der Beschwerdeführerin zurück, indem es sich auf die gleichen Gründe stützte.

c. Das Urteil des Bundesgerichtshofs vom 10. Oktober 1997

17.

Mit Urteil vom 10. Oktober 1997 erklärte der Bundesgerichtshof hingegen, nachdem er eine mündliche Verhandlung abgehalten hatte, dass die Beschwerdeführerin entgegen den Ausführungen in den vorangegangenen Gerichtsentscheidungen ihr Miteigentum nicht durch Ersitzung verloren habe, indem er auf sein einschlägiges Grundsatzurteil vom 29. März 1996 Bezug nahm. Nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch der DDR konnte Volkseigentum nämlich nicht durch Ersitzung begründet werden.

Jedoch waren dem Bundesgerichtshof zufolge etwaige Fehler beim Ankauf im vorliegenden Fall durch Artikel 237 § 1 des Einführungsgesetzes zum Bürgerlichen Gesetzbuch (EGBGB) i.d.F. des Gesetzes zur Absicherung der Wohnraummodernisierung (Wohnraummodernisierungssicherungsgesetz – siehe unten einschlägiges innerstaatliches Recht und einschlägige innerstaatliche Praxis) vom 17. Juli 1997 geheilt. Entscheidend sei in der Tat nicht gewesen, ob der Ankauf formell korrekt abgelaufen ist, sondern ob er nach dem Recht der DDR möglich war. Diese Vorschrift erfasse daher auch Sachverhalte, in denen der Ankauf mit Mängeln in der Vertretung behaftet sei.

Der Bundesgerichtshof vertrat die Auffassung, dass im vorliegenden Fall die von der Beschwerdeführerin geltend gemachten Mängel vermeidbar gewesen wären, dass sie unbeachtlich seien und keiner weiteren Aufklärung mehr bedürften.

Ferner sei die Eigentumsposition des Veräußerers des fraglichen Grundstücks, das damals in Volkseigentum überführt worden sei, so geschmälert gewesen, dass ihre Realisierung vor der Wiedervereinigung ausgeschlossen und auch nachher nicht sicher zu erwarten gewesen sei.

Der Bundesgerichtshof fügte hinzu, dass Artikel 237 § 1 EGBGB nicht verfassungswidrig sei und dass, wenn der Gesetzgeber in dieser vereinigungsbedingten, von allgemeiner Rechtsunsicherheit gekennzeichneten Sondersituation den vorgefundenen tatsächlichen Bestand für schützenswerter halten würde als die Eigentumsposition, der entschädigungslose Verlust von Eigentum ausnahmsweise durch Gründe des öffentlichen Interesses unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit gerechtfertigt sei.

Der Bundesgerichtshof kam ebenfalls zu der Schlussfolgerung, dass ein Verstoß gegen den Gleichheitssatz nicht vorliege, da der Regelungsbereich dieser Bestimmung mit der entsprechenden Rechtslage in den alten Bundesländern nicht vergleichbar sei.

d. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 3. Juli 1998

18.

Mit Beschluss vom 3. Juli 1998 entschied das Bundesverfassungsgericht durch eine mit drei Richtern besetzte Kammer, die Verfassungsbeschwerde der Beschwerdeführerin nicht zur Entscheidung anzunehmen, weil sie keine grundsätzliche verfassungsrechtliche Fragen aufwerfe und keine hinreichende Aussicht auf Erfolg habe.

Das Bundesverfassungsgericht war der Meinung, dass es sich im vorliegenden Fall nicht um eine Legalenteignung im Verständnis des Artikels 14 Abs. 3 des Grundgesetzes handele, die schon wegen der fehlenden Entschädigungsregelung verfassungsrechtlich unzulässig wäre.

Dem Bundesverfassungsgericht zufolge ist diese Bestimmung nicht anwendbar, wenn der Gesetzgeber im Zuge der Neugestaltung eines Rechtsgebiets einige Rechte abschafft, für die es im neuen Recht keine Entsprechung gibt. Dies gelte ebenfalls für Regelungen, die formale Mängel bei der Eigentumsübertragung rückwirkend heilten und damit bestehende Eigentumsrechte entzögen.

Das Bundesverfassungsgericht fügte hinzu, dass im vorliegenden Fall Artikel 237 § 1 EGBGB nicht die Merkmale einer Enteignung erfülle, sondern eine Norm darstelle, die der Berufung auf Mängel beim Eigentumsübergang für die Zukunft die Grundlage entziehe. Der Gesetzgeber habe sich nach dem Beitritt der Deutschen Demokratischen Republik zur Bundesrepublik Deutschland damit konfrontiert gesehen, dass in der DDR die Einhaltung von Verfahrensvorschriften beim Erwerb von „Volkseigentum“ nicht dieselbe Bedeutung hatte wie bei Eigentumsübertragungen in der Bundesrepublik. Infolgedessen sei es damals in einer Vielzahl von Fällen zu faktischem Volkseigentum gekommen, dessen Bestand nach dem Recht der DDR in formeller Hinsicht zweifelhaft hätte sein können, das indessen in der Rechtswirklichkeit nie in Frage gestellt worden sei. Die spätere Anfechtung dieser Eigentumsübertragungen habe in den neuen Bundesländern zu zahlreichen Rechtsstreitigkeiten mit ungewissem Ausgang und zur Verunsicherung der Bevölkerung geführt.

Dem Bundesverfassungsgericht zufolge ist es Zweck des Artikels 237 § 1 EGBGB, für diesen Bereich Rechtssicherheit im Sinne eines Bestandsschutzes und mit ihr Rechtsfrieden zu schaffen. Zur Erreichung dieser im öffentlichen Interesse liegenden Zwecke sei diese Norm geeignet und auch erforderlich gewesen. Der damit verbundene Entzug einer formalen Eigentumsposition sei zumutbar gewesen, da die früheren Eigentümer keine Rechtsposition innegehabt hätten, die so schützenswert gewesen wäre, dass sie die Bedeutung des mit der Bestandsschutzregelung verfolgten Zwecks hätte überwiegen können. In der Zeit des Bestehens der DDR hätten sie davon ausgehen müssen, dass die Überführung in Volkseigentum endgültig war, und auch nach der Wiedervereinigung hätten sie keine gesicherte Rechtsposition gehabt und nicht darauf vertrauen können, dass sie ihr Eigentum zurückerhalten würden.

II. Einschlägiges innerstaatliches Recht und einschlägige innerstaatliche Praxis

A. Der Staatsvertrag über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik

19.

Der Staatsvertrag über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik vom 18. Mai 1990 nimmt in Artikel 1 auf die soziale Marktwirtschaft sowie den Schutz des Eigentumsrechts Bezug.

B. Die Gemeinsame Erklärung der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik zur Regelung offener Vermögensfragen

20.

Im Verlauf der Verhandlungen über die deutsche Wiedervereinigung zwischen den Regierungen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR und den vier Besatzungsmächten (Frankreich, Vereinigtes Königreich, die Vereinigten Staaten von Amerika und die Sowjetunion) haben die beiden deutschen Regierungen am 15. Juni 1990 eine Gemeinsame Erklärung zur Regelung offener Vermögensfragen formuliert, die Bestandteil des Einigungsvertrags vom 31. August 1990 wurde.

21.

In dieser Erklärung haben die beiden deutschen Regierungen angegeben, dass bei der Suche nach einer Lösung der streitigen Vermögensfragen unter Berücksichtigung der Grundsätze der Rechtssicherheit und Rechtseindeutigkeit sowie des Schutzes des Eigentumsrechts ein sozial verträglicher Ausgleich der unterschiedlichen Interessen zu schaffen sei.

22.

Diese Erklärung sieht in Nr. 3 vor, dass zur Zeit der DDR enteignetes Grundvermögen grundsätzlich zurückzugeben ist. Ist eine Rückübertragung praktisch nicht möglich oder haben Dritte diese Grundstücke in redlicher Weise erworben, sind die ehemaligen Eigentümer zu entschädigen. Hingegen können die Enteignungen, die zwischen 1945 und 1949 in der ehemaligen sowjetischen Besatzungszone vorgenommen wurden, nicht rückgängig gemacht werden.

C. Das Gesetz zur Regelung offener Vermögensfragen

23.

Am 29. September 1990 trat das Gesetz vom 23. September 1990 zur Regelung offener Vermögensfragen (Vermögensgesetz) in Kraft, das ebenfalls Bestandteil des Einigungsvertrags werden sollte. Letzterem zufolge sollte das Vermögensgesetz in dem vereinigten Deutschland nach der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten am 3. Oktober 1990 fortgelten. Ziel dieses Gesetzes war die sozialverträgliche Regelung von Streitigkeiten in Bezug auf im Gebiet der DDR belegene Vermögenswerte, um den Rechtsfrieden in Deutschland dauerhaft sicherzustellen

24.

Das Vermögensgesetz sieht für Personen, die zur Zeit der DDR Opfer rechtsstaatswidriger Enteignungen geworden sind, grundsätzlich einen Rückübertragungsanspruch vor, es sei denn, die Rückgabe ist von der Natur der Sache her nicht möglich oder Dritte haben in redlicher Weise an dem Vermögenswert Eigentum erworben (§ 4 Abs. 2 des Vermögensgesetzes). In diesem letzten Fall haben die früheren Eigentümer Anspruch auf Entschädigung nach dem Gesetz über die Entschädigung nach dem Gesetz zur Regelung offener Vermögensfragen vom 27. September 1994.

D. Das Gesetz zur Absicherung der Wohnraummodernisierung

25.

1997 verabschiedete die Bundesrepublik Deutschland ein neues Gesetz zur Regelung einer anderen Art von Vermögenskonflikt, der nach der deutschen Wiedervereinigung aufgetreten ist und sich auf die Überführung von Eigentum in „Volkseigentum“ zur Zeit des Bestehens der DDR durch einen Rechtsakt bezieht.

26.

Artikel 237 § 1 EGBGB i.d.F. des Wohnraummodernisierungssicherungsgesetzes vom 17. Juli 1997 lautet wie folgt:

„Fehler bei dem Ankauf, der Enteignung oder der sonstigen Überführung eines Grundstückes oder selbstständigen Gebäudeeigentums sind nur zu beachten, wenn das Grundstück oder selbstständige Gebäudeeigentum nach den allgemeinen Rechtsvorschriften, Verfahrensgrundsätzen und der ordnungsgemäßen Verwaltungspraxis, die im Zeitpunkt der Überführung in Volkseigentum hierfür maßgeblich waren, nicht wirksam in Volkseigentum hätte überführt werden können oder wenn die mögliche Überführung in Volkseigentum mit rechtsstaatlichen Grundsätzen schlechthin unvereinbar war.“

Rügen

27.

Die Beschwerdeführerin behauptet, dass sie Opfer einer rückwirkenden und entschädigungslosen Enteignung geworden sei, die ihr in Artikel 1 des Protokolls Nr. 1 verankertes Recht auf Achtung ihres Eigentums verletzt habe. Sie beschwert sich ebenfalls darüber, nicht in den Genuss eines fairen Verfahrens gemäß Artikel 6 Abs. 1 der Konvention gelangt zu sein, da die Bundesrepublik Deutschland die in der DDR vorhandene Rechtslage rückwirkend und zu ihrem Nachteil geändert habe.

Rechtliche Würdigung

I. Die behauptete Verletzung des Artikels 1 des Protokolls Nr. 1

28.

Die Beschwerdeführerin behauptet, ihre rückwirkende und entschädigungslose Enteignung habe ihr in Artikel 1 des Protokolls Nr. 1 verankertes Recht auf Achtung ihres Eigentums verletzt, der wie folgt lautet:

„Jede natürliche oder juristische Person hat ein Recht auf Achtung ihres Eigentums. Niemandem darf sein Eigentum entzogen werden, es sei denn, dass das öffentliche Interesse es verlangt und nur unter den durch Gesetz und durch die allgemeinen Grundsätze des Völkerrechts vorgesehenen Bedingungen.

Absatz 1 beeinträchtigt jedoch nicht das Recht des Staates, diejenigen Gesetze anzuwenden, die er für die Regelung der Benutzung des Eigentums im Einklang mit dem Allgemeininteresse oder zur Sicherung der Zahlung der Steuern oder sonstiger Abgaben oder von Geldstrafen für erforderlich hält.“

A. Vorbringen der Parteien

1. Die Regierung

29.

Die Regierung behauptet insbesondere, dass die Beschwerdeführerin zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Einigungsvertrags kein „vorhandenes Eigentum“ und auch keinen Entschädigungsanspruch gehabt habe, da das fragliche Eigentum der Erbengemeinschaft verloren gegangen sei, als das Grundstück durch den im Jahre 1960 getätigten Verkauf in Volkseigentum überging. Hilfsweise behauptet sie, dass ein Eingriff, selbst wenn es ihn gegeben hätte, von Artikel 237 § 1 EGBGB vorgesehen gewesen wäre, ein Ziel von allgemeinem Interesse verfolgt hätte und dem verfolgten legitimen Ziel angemessen gewesen wäre. Es sei tatsächlich rechtmäßig gewesen, der Beschwerdeführerin ein rein formales Recht zu verwehren, zumal ihr Vermögenswert de facto in „Volkseigentum“ übergegangen sei. Die Regierung erinnert daran, dass die Staaten in der Sozial- und Wirtschaftsgesetzgebung einen weiten Ermessensspielraum haben, und stellt in diesem Zusammenhang die Besonderheiten der deutschen Wiedervereinigung heraus. Artikel 237 § 1 EGBGB habe keine Enteignung bedeutet, sondern die Neuregelung eines Rechtsgebiets, bei dem sich der Gesetzgeber aus wirtschaftspolitischen Gründen entschieden habe, die zur Zeit der DDR geschlossenen Kaufverträge – in Bezug auf das in „Volkseigentum“ überführte Eigentum -, auch wenn nicht alle geltenden formalen Vorschriften damals eingehalten worden seien, als wirksam zu behandeln, unter der Voraussetzung, dass der Eigentumstransfer nach den allgemeinen Grundsätzen des Rechts der DDR wirksam war. Außerdem habe die Erbengemeinschaft damals für den Verkauf ihres Vermögensgegenstands einen Preis erhalten, der nicht unangemessen zu sein schien. Schließlich sei der Bundesgerichtshof gehalten gewesen, diese neue Vorschrift anzuwenden, was er in einer Weise getan habe, die nicht als willkürlich angesehen werden könne.

2. Die Beschwerdeführerin

30.

Die Beschwerdeführerin ist der Meinung, dass sie seit den ersten demokratischen Wahlen in der DDR am 18. März 1990 einen Anspruch auf Rückgabe ihres Eigentums auf Grund des Artikels 356 des Bürgerlichen Gesetzbuchs der DDR habe. Dies gehe auch aus den Bestimmungen des Staatsvertrags über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik und der Gemeinsamen Erklärung der Regierungen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik zur Regelung offener Vermögensfragen hervor. Es habe kein Zweifel bestanden, dass der Schutz sozialistischen Eigentums keinen Bestand mehr habe und die Bundesrepublik Deutschland sich daher heute aus politischen, moralischen oder öffentlich-rechtlichen Gründen nicht auf irgendeinen Schutz des „Volkeigentums“ berufen könne. Die Beschwerdeführerin fügt hinzu, dass selbst nach dem Recht der DDR die damalige Eigentumsübertragung unwirksam gewesen wäre und dass die Zahlung eines angemessenen Kaufpreises nichts daran ändern würde, da sich der Betrag auf einem Konto ihrer Großmutter befände, das eingefroren gewesen und der Vermögensgegenstand dreißig Jahre lang in der DDR genutzt worden sei. Die Mängel, mit denen der damalige Verkauf behaftet sei, d.h. keine geeignete Vertretung ihrer Großmutter und deren Schwester, seien keine reinen Formfehler, sondern stellten eine eklatante Verletzung des Vertragsrechts dar, über das sich die deutschen Gerichte zum Nachteil der Beschwerdeführerin hinweggesetzt hätten. Artikel 237 § 1 EGBGB stelle folglich einen unverhältnismäßigen Eingriff in ihr Eigentumsrecht dar, indem er Berechtigte schütze, die damals das streitgegenständliche Grundstück bösgläubig erworben hätten, und keine Entschädigung für die Beschwerdeführerin vorsehe.

B. Entscheidung des Gerichtshofs

31.

Der Gerichtshof ruft in Erinnerung, dass Artikel 1 des Protokolls Nr. 1, der im Wesentlichen das Recht auf Eigentum garantiert, drei unterschiedliche Vorschriften enthält (James u.a. ./. Vereinigtes Königreich, Urteil vom 21. Februar 1986, Serie A, Band 98-B, S. 29-30, Nr. 37): die erste Vorschrift in Absatz 1 erster Satz ist allgemeiner Art und bestimmt den Grundsatz der Achtung des Eigentums; die zweite Vorschrift in Absatz 1 zweiter Satz betrifft den Eigentumsentzug, der bestimmten Bedingungen unterstellt wird; die dritte Vorschrift in Absatz 2 gibt den Vertragsstaaten die Befugnis, unter anderem die Benutzung des Eigentums im Einklang mit dem Allgemeininteresse zu regeln. Die zweite und die dritte Vorschrift, die besondere Beispiele von Beeinträchtigungen des Eigentumsrechts behandeln, sind im Lichte des in der ersten Vorschrift verankerten Grundsatzes auszulegen (s. insbesondere Iatridis ./. Griechenland [GC], Nr. 31107/96, Nr. 55, CEDH 1999-II).

1. Das Vorliegen eines Eingriffs

32.

Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs hat der Begriff „Eigentum“ in Artikel 1 des Protokolls Nr. 1 eine eigenständige Bedeutung, die sich nicht auf das Eigentum an körperlichen Gegenständen beschränkt: bestimmte andere Rechte und Interessen, die Aktiva darstellen, können ebenfalls als „Eigentumsrechte“ gelten und somit als „Eigentum“ im Sinne dieser Bestimmung (s. insbesondere Gasus Dosier- und Fördertechnik GmbH ./. Niederlande, Urteil vom 23. Februar 1995, Serie A, Band 306-B, S. 46, Nr. 53, die vorgenannte Sache Iatridis, Nr. 54, und Wittek ./. Deutschland, Nr. 37290/97, Nr. 42, CEDH 2002).

33.

Der Gerichtshof betont, dass die Beschwerdeführerin im vorliegenden Fall die Rechtsnachfolgerin in einer Erbengemeinschaft ist, die ein in der DDR belegenes Grundstück besaß, auf dem sich die Gebäude eines pharmazeutischen Unternehmens befanden.

34.

Daher ist die vorliegende Rechtstreitigkeit unter dem Gesichtspunkt von Artikel 1 erster Satz des Protokolls Nr. 1 zu prüfen (s. entsprechend, Èeskomoravská myslivecká jednota ./. Tschechische Republik (Entsch.), Nr. 33091/96, 23. März 1999, und Teuschler ./. Deutschland (Entsch.), Nr. 47636/99, 22. April 1999, und die vorgenannte Sache Wittek, Nr. 44).

35.

Der Gerichtshof stellt fest, dass der Bundesgerichtshof erklärt hat, dass die Beschwerdeführerin ihr Miteigentum nicht durch Ersitzung verloren habe. Jedoch habe sie anschließend weder einen Anspruch auf Rückgabe noch einen Anspruch auf Entschädigung vor den Zivilgerichten geltend machen können, da die Mängel, mit denen der Ankauf zur Zeit der DDR behaftet gewesen sei, durch Artikel 237 § 1 EGBGB geheilt worden seien.

36.

Somit liegt ein Eingriff in das Recht der Beschwerdeführerin auf Achtung ihres Eigentums vor.

2. Die Rechtfertigung des Eingriffs

37.

In Bezug auf die Rechtmäßigkeit des Eingriffs weist der Gerichtshof darauf hin, dass die streitige Maßnahme auf Artikel 237 § 1 EGBGB i.d.F. des Gesetzes zur Absicherung der Wohnraummodernisierung vom 17. Juli 1997 beruhte, das genau und für alle zugänglich ist.

38.

Im vorliegenden Fall hat der Bundesgerichtshof in seinem Urteil vom 10. Oktober 1997 jeglichen Anspruch der Beschwerdeführerin auf Rückgabe oder Entschädigung ausgeschlossen, da die – rein formalen und unbeachtlichen – Mängel, mit denen der Ankauf zur Zeit der Ereignisse behaftet gewesen sei, im vorliegenden Fall durch Artikel 237 § 1 EGBGB geheilt worden seien, zumal im Übrigen der Verkauf nach den allgemeinen Grundsätzen des DDR Rechts erfolgt sei.

39.

Der Gerichtshof hält diese Auslegung nicht für willkürlich und ruft diesbezüglich in Erinnerung, dass es in erster Linie Sache der nationalen Behörden und insbesondere der Gerichte ist, innerstaatliches Recht auszulegen und anzuwenden (s. Brualla Gómez de la Torre ./. Spanien, Urteil vom 19. Dezember 1997, Sammlung 1997-VIII, S. 2955, Nr. 31, und Glässner ./. Deutschland (Entsch.), Nr. 46362/99, CEDH 2001-VII, und vorgenannte Sache Wittek, Nr. 49).

40.

Im Hinblick auf das Ziel des Eingriffs stellt der Gerichtshof fest, dass Artikel 237 § 1 EGBGB die Rechtssicherheit und den Rechtsfrieden in Deutschland wieder herstellen wollte, unter Wahrung der Rechte, die in den Fällen erworben wurden, in denen die zur Zeit der DDR erfolgte Überführung von Eigentum in „Volkseigentum“ nur mit formalen oder unbeachtlichen Mängeln behaftet war. Es verfolgte daher ohne Zweifel ein Allgemeininteresse (s. die angeführte Entscheidung Teuschler).

41.

Schließlich hat sich der Gerichtshof mit der Verhältnismäßigkeit des Eingriffs zu befassen.

42.

Nach seiner Rechtsprechung hat ein Eingriff in das Recht auf Achtung des Eigentums einen gerechten Ausgleich zwischen den Erfordernissen des Allgemeininteresses sowie den zwingenden Erfordernissen der Wahrung der individuellen Grundrechte zu erreichen (s. u.a Sporrong und Lönnroth ./. Schweden, Urteil vom 23. September 1982, Serie A, Band 52, S. 26, Nr. 69). Das Bestreben, einen solchen Ausgleich zu sichern, spiegelt sich in der Struktur des gesamten Artikels 1 wider. Insbesondere muss jede vermögensentziehende Maßnahme in einem angemessenen Verhältnis zwischen den eingesetzten Mitteln und dem angestrebten Ziel stehen (Pressos Compania Naviera S.A. u.a. ./. Belgien, Urteil vom 20. November 1995, Serie A , Band 332, S. 23, Nr. 38, und Yagzilar u.a. ./. Griechenland, Nr. 41727/98, Nr. 40, CEDH 2001-XII).

43.

Zur Feststellung, ob die streitige Maßnahme den beabsichtigten gerechten Ausgleich beachtet, hat der Gerichtshof insbesondere zu ermitteln, ob sie die Beschwerdeführerin nicht unverhältnismäßig belastet.

44.

Im vorliegenden Fall weist der Gerichtshof darauf hin, dass der Bundesgerichtshof in seinem Urteil vom 10. Oktober 1997 eingehend die Umstände des Falles und die Argumente der Beschwerdeführerin untersucht hat, bevor er zu dem Schluss kam, dass der zur Zeit der DDR geschlossene Kaufvertrag nach Artikel 237 § 1 EGBGB durch die geltend gemachten Mängel nicht unwirksam werden konnte, da im Übrigen der Verkauf nach den allgemeinen Grundsätzen des Rechts der DDR erfolgt sei.

In seiner Entscheidung vom 3. Juli 1998 hat das Bundesverfassungsgericht die Auffassung vertreten, dass diese Bestimmung angesichts des vom Gesetzgeber nach der deutschen Wiedervereinigung verfolgten rechtmäßigen Ziels verfassungsgemäß sei.

45.

Der Gerichtshof erachtet diese Analyse für hinlänglich begründet. In der Zeit der vereinigungsbedingten Rechtsunsicherheit wollte der Gesetzgeber nämlich unter Wahrung der erworbenen Rechte entscheiden, ob die de facto Überführungen von Eigentum in „Volkseigentum“ in der DDR nur formale oder unbeachtliche Mängel aufwiesen. Artikel 237 § 1 EGBGB stellte hingegen sicher, dass solche Fehler zu beachten waren, wenn das Grundstück nach den allgemeinen Rechtsvorschriften, Verfahrensgrundsätzen und der Verwaltungspraxis, die maßgeblich waren, nicht wirksam in Volkseigentum überführt werden konnte, oder wenn die „Überführung in Volkseigentum mit rechtsstaatlichen Grundsätzen schlechthin unvereinbar war“.

46.

Im Übrigen stellt der Gerichthof wie in der vorgenannten Sache Wittek fest, dass damals der Erbengemeinschaft der Betrag von 180.650 DDR Mark gezahlt worden war, den die Beschwerdeführerin selbst nicht für unangemessen erachtet.

47.

Daher kann nicht von einer „unverhältnismäßigen Belastung“ die Rede sein.

48.

Unter Berücksichtigung all dieser Umstände und insbesondere der außergewöhnlichen vereinigungsbedingten Umstände ist der Gerichtshof der Meinung, dass der beklagte Staat seinen Ermessensspielraum nicht überschritten hat und in Bezug auf das verfolgte rechtmäßige Ziel, einen „gerechten Ausgleich“ zwischen den Interessen der Beschwerdeführerin und dem Allgemeininteresse der deutschen Gesellschaft zu erreichen, nicht verfehlt hat.

49.

Somit ist Artikel 1 des Protokolls Nr. 1 nicht verletzt worden.

II. Die behauptete Verletzung des Artikels 6 abs. 1 der Konvention

50.

Die Beschwerdeführerin rügt ebenfalls, nicht in den Genuss eines fairen Verfahrens im Sinne des Artikels 6 Abs. 1 der Konvention gelangt zu sein, der wie folgt lautet:

„Jede Person hat ein Recht darauf, dass über Streitigkeiten in Bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen (…) von einem (…) Gericht in einem fairen Verfahren (…) verhandelt wird.“

A. Die prozessuale Einrede der Regierung

51.

Die Regierung macht zunächst die Nichterschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs geltend, da die Beschwerdeführerin in ihrer Beschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht nicht gerügt habe, nicht in den Genuss eines fairen Verfahrens gekommen zu sein.

52.

Die Beschwerdeführerin erwidert ihrerseits in der Hauptsache, dass dieser Vortrag verspätet sei; hilfsweise behauptet sie, die Darstellung des Sachverhalts in ihrer Verfassungsbeschwerde enthalte eine unvertretbare Rechtsanwendung und missachte Artikel 3 Abs. 1 des Grundgesetzes.

53.

Der Gerichtshof ruft in Erinnerung, dass eine Vertragspartei, die eine Einrede der Unzulässigkeit vorbringen will, diese, soweit ihre Natur und die Umstände es zulassen, in den Stellungnahmen zur Zulässigkeit der Beschwerde vorbringen muss (Artikel 55 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs, s. auch Zana ./. Türkei, Urteil vom 25. November 1997, Sammlung 1997-VII, S. 2546, Nr. 44, und Schweighofer u.a. ./. Österreich, (3. Sektion), Nrn. 35673/97, 35674/97, 36082/97 und 37579/97, 9. Oktober 2001).

54.

Im vorliegenden Fall stellt der Gerichtshof fest, dass die Regierung diese prozessuale Einrede zum ersten Mal in ihrer Stellungnahme vom 1. Juli 2002, die an demselben Tag per Fax beim Gerichtshof eingegangen ist, nach der Zulässigkeitsentscheidung des Gerichtshofs in dieser Sache vom 25. April 2002 vorgetragen hat.

55.

Im vorliegenden Fall stellt der Gerichtshof allerdings keinen Umstand fest, der die Regierung gehindert hätte, diese Einrede im Stadium der Zulässigkeit vorzubringen.

56.

Infolgedessen ist diese prozessuale Einrede wegen Präklusion zurückzuweisen.

B. Zur Begründetheit

57.

Die Regierung behauptet, dass in allen modernen Staaten eine Änderung der Rechtsvorschriften während eines Verfahrens eine Änderung der Aussichten der Prozessparteien, in einem Rechtsstreit zu siegen, zur Folge hat. Im vorliegenden Fall sei der Beschwerdeführerin jedoch ein faires Verfahren gemäß Artikel 6 Abs. 1 zugekommen.

58.

Die Beschwerdeführerin ist der Überzeugung, dass der Bundesgerichtshof durch die Anwendung des Artikels 237 § 1 EGBGB die in der DDR bestehende Rechtslage rückwirkend und zu ihrem Nachteil geändert habe. Außerdem hätte die Beschwerdeführerin, obgleich hierdurch eine neue rechtliche Situation geschaffen worden wäre, die Entscheidung des Bundesgerichtshofs nur vor dem Bundesverfassungsgericht anfechten können, das wiederum die Tatsachen nicht erneut hätte überprüfen können.

59.

Der Gerichtshof ruft in Erinnerung, dass das Recht auf Zugang zu den Gerichten nach Artikel 6 Abs. 1 keinen absoluten Stellenwert hat; es kann implizit zugelassene Einschränkungen erfahren, da es von Natur aus eine Regelung durch den Staat erfordert, d.h. eine Regelung, die zeitlich und räumlich je nach den Bedürfnissen und Mitteln der Gesellschaft und der Einzelpersonen unterschiedlich sein kann. Bei der Ausarbeitung einer solchen Regelung genießen die Vertragsstaaten einen gewissen Ermessensspielraum (Lithgow u.a. ./. Vereinigtes Königreich, Urteil vom 8. Juli 1986, Serie A, Band 102, S. 71, Nr. 194).

60.

Der Grundsatz der Vorherrschaft des Rechts und der Begriff des fairen Verfahrens nach Artikel 6 stehen jedoch jeglichem Eingriff der Legislative in die Rechtspflege mit dem Ziel, die gerichtliche Lösung des Rechtsstreits zu beeinflussen, entgegen (s. Griechische Raffinerien Stran und Stratis Andreadis ./. Griechenland, Urteil vom 9. Dezember 1994, Serie A, Band 301-B, S. 82, Nr. 49, und National & Provincial Building Society, Leeds Permanent Building Society und Yorkshire Building Society ./. Vereinigtes Königreich, Urteil vom 23. Oktober 1997, Urteils- und Entscheidungssammlung 1997-VII, S. 2363, Nr. 112, und Zielinski und Pradal und Gonzalez u.a. ./. Frankreich [GC], Nrn. 24846/94 und 34165/96 bis 34173/96, CEDH 1999-VII, Nr. 57).

61.

Artikel 6 Abs. 1 kann jedoch nicht so ausgelegt werden, als verhindere er jeglichen Eingriff des Staates in ein anhängiges Gerichtsverfahren, an dem er beteiligt ist (o.a. Urteil Building societies, ibidem).

62.

Im vorliegenden Fall hat der Bundesgerichtshof in seinem Urteil vom 10. Oktober 1997 erklärt, dass die Beschwerdeführerin ihr Miteigentum nicht durch Ersitzung verloren habe. Er hat dennoch jeglichen Antrag ihrerseits auf Rückgabe oder Entschädigung abgelehnt, da etwaige Fehler beim Ankauf im vorliegenden Fall durch Artikel 237 § 1 EGBGB i.d.F. des Gesetzes zur Absicherung der Wohnraummodernisierung vom 17. Juli 1997 geheilt worden seien (s. oben Nr. 17).

63.

Der Gerichtshof ist nunmehr der Auffassung, dass sehr klar zwischen dem vorliegenden Fall und den anderen zuvor erwähnten Fällen Griechische Raffinerien Stran und Stratis Andreadis und Zielinski und Pradal und Gonzalez u.a. zu unterscheiden ist, bei denen der Gesetzgeber rückwirkend zu Gunsten des Staates in die Streitigkeiten eingegriffen hat, an denen dieser beteiligt war. In der Rechtssache Griechische Raffinerien verfügten die Beschwerdeführer sogar über ein rechtskräftiges Urteil gegen den Staat.

64.

Selbst wenn im vorliegenden Fall ein Eingriff des Gesetzgebers während der Dauer des Rechtsstreits erfolgte, zielte das Gesetz zur Absicherung der Wohnraummodernisierung vom 17. Juli 1997 insbesondere darauf ab, vermögensrechtliche Konflikte, die nach der deutschen Wiedervereinigung auftraten und sich zur Zeit der DDR auf Überführungen in „Volkseigentum“ durch ein Rechtsgeschäft (im vorliegenden Fall ein Kaufvertrag) bezogen, allgemein zu regeln.

Allerdings hatte der Staat dem Gesetz zu diesem Zweck für all diese Eigentumsübertragungen, ebenso für die anhängigen Gerichtsverfahren, rückwirkende Kraft verliehen. Jedoch steht auch fest, dass dieses Gesetz sich nicht speziell auf die vorliegende Rechtsstreitigkeit bezog, sondern ein Ziel von allgemeinem Interesse verfolgte, das darin bestand, diese vereinigungsbedingten Konflikte zu regeln, um den Rechtsfrieden und die Rechtssicherheit in Deutschland dauerhaft sicherzustellen (siehe entsprechend, o.a. Urteil Building societies, Nr. 110).

65.

Der Gerichtshof macht im Übrigen darauf aufmerksam, dass bei Streitigkeiten, in denen sich private Interessen gegenüberstehen, das Erfordernis der Waffengleichheit die Verpflichtung beinhaltet, dass jeder Partei in angemessener Weise die Möglichkeit geboten wird, ihre Sache unter Bedingungen vorzutragen, die sie nicht in eine eindeutig nachteilige Lage im Vergleich zu ihrem Gegner bringt (siehe insbesondere Urteil Dombo Beheer B.V. ./. Niederlande vom 27. Oktober 1993, Serie A, Band 274, S. 19, Nr. 33, und o.a. Urteil Griechische Raffinerien Stran und Stratis Andreadis, S. 81, Nr. 46).

66.

Im vorliegenden Fall konnte die Beschwerdeführerin die Weigerung der Behörden, ihr Eigentum zurückzugeben oder ihr eine Entschädigung zu gewähren vor den Zivilgerichten beanstanden, und in den verschiedenen Stadien des Verfahrens die Argumente vortragen, die sie zur Verteidigung ihrer Sache für maßgeblich erachtete. Fest steht, dass der Bundesgerichtshof angesichts der eingetretenen Gesetzesänderung verpflichtet war, das neue Gesetz anzuwenden. Schließlich hat er jedoch die Umstände der Sache sowie die von der Beschwerdeführerin vorgebrachten Argumente, nachdem er eine mündliche Verhandlung abgehalten hatte, eingehend geprüft. Ebenso hat das Bundesverfassungsgericht infolge ihrer Verfassungsbeschwerde über die Verfassungsmäßigkeit der streitgegenständlichen Gesetzesbestimmung, die einen wesentlichen Punkt der fraglichen Streitigkeit darstellte, entschieden.

67.

Die Beschwerdeführerin hatte folglich Zugang zu unabhängigen Gerichten, die über ihre Sache entschieden haben.

68.

Außerdem ist der Gerichtshof der Auffassung, dass das streitige Verfahren insgesamt gesehen im Sinne des Artikels 6 Abs. 1 der Konvention angemessen war.

69.

Somit ist Artikel 6 Abs. 1 der Konvention nicht verletzt worden.

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